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die Wirtschaft Liechtensteins: eine empirische Erhebung

2. Künftige europäische Herausforderungen für Liechtenstein

2.4 Die EU-/EWR-Osterweiterung

Den Startschuss für ihre nächste Erweiterung hat die Europäische Union am 30.3.1998 gegeben. Mit zehn Staaten Mittel- und Osteuro­

pas112 (MOE-Staaten) sowie mit Zypern wurde der Beitrittsprozess eröffnet.

Grundsätzlich kann jeder assoziierte mittel- und osteuropäische Staat EU-Mitglied werden, wenn bestimmte politische und wirtschaftliche Kriterien, die «Kopenhagener-Kriterien», erfüllt sind.113 Diese Kriterien umfassen u.a. eine rechtsstaatliche Demokratie sowie eine funktionie­

rende Marktwirtschaft. Ausserdem hat sich die Europäische Union sel­

ber auferlegt, «erweiterungsfähig» zu werden.

Auf der Basis der «Kopenhagener-Kriterien» hat die Kommission ihre Einteilung der zehn mittelosteuropäischen Kandidaten in zwei Kategorien vorgenommen.114 Die fünf Kandidaten der ersten Kategorie («ins»), also Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Slowenien und Estland, erfüllen nach Auffassung der Kommission zumindest die poli­

tischen Voraussetzungen, während es hinsichtlich der ökonomischen Kriterien und der Übernahme des Acquis, d.h. des gemeinschaftlichen Besitzstandes, noch Mängel gibt. Die fünf Kandidatenländer der zwei­

ten Kategorie («pre-ins»), Rumänien, Bulgarien, die Slowakische Repu­

blik, Lettland und Litauen, erfüllen teilweise die politischen Kriterien nicht und weisen erhebliche Mängel in Bezug auf die Erfüllung der wirt­

schaftlichen Kriterien auf. Da die Beitrittskandidaten offensichtlich bis­

her eigentlich nicht beitrittsreif sind, geht die Kommission de facto da­

von aus, dass die Beitrittsprobleme im Verlaufe der Beitrittsverhandlun­

gen gelöst werden.115

Selber «erweiterungsfähig» zu sein, heisst für die Union, vor einer neuerlichen Erweiterung intern institutionelle und politikbezogene Re­

formen durchzuführen.116 Ausbleibende Neuregelungen in der

Agrar-1,2 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Tsche­

chische Republik, Ungarn.

113 «Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Kopenhagen, 21./22. Juni 1993», in:

Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, 6/1993, S. 7-24.

114 Eine Zusammenfassung und Kommentierung dieser Stellungnahmen findet sich bei Avery/Cameron 1998.

115 Es ist davon auszugehen, dass der Rat von Helsinki im Dezember 1999 entscheidet, dass weitere Länder die Voraussetzungen erfüllt haben, zur ersten Gruppe dazuzustossen.

116 Zu den notwendigen Reformen siehe u.a. Phinnemore 1999a; Prange 1997, S. 202-264;

Weifens 1997.

und der Strukturpolitik hätten immense finanzielle Belastungen für den EU-Haushalt zur Folge, da die Beitrittskandidaten gemessen am Brutto­

inlandsprodukt sehr arm im Verhältnis zur jetzigen EU sind.117 Eine Vernachlässigung institutioneller Reformen, d.h. vor allem der Be­

schlussverfahren, der Zusammensetzung der Organe sowie der Stimm-gewichtung im Rat, könnte die Entscheidungsfähigkeit der Union läh­

men, da das bestehende institutionelle Gefüge weitgehend für eine EU mit wenigen Mitgliedern konzipiert worden ist.

Die Europa-Abkommen sowie die sogenannten «Beitrittspartner­

schaften» bleiben die wichtigsten bilateralen Verträge zwischen der Union und den einzelnen mittelosteuropäischen Beitrittskandidaten, so­

lange die Osterweiterung im Verhandlungsstadium ist. Das vorrangige Ziel der Europa-Abkommen ist es, bilaterale Freihandelszonen zu schaffen. Weitere Aspekte der Abkommen berühren den politischen Dialog, die Teilliberalisierung des Personenverkehrs und eine einheitli­

che Wettbewerbspolitik.118

Die «Beitrittspartnerschaften» legen individuell kurz- und mittelfristi­

ge Aufgaben zur Umsetzung und Anwendung des Acquis fest, welche je­

des einzelne Bewerberland durchzuführen hat. Zudem fixieren und kon-ditionieren sie die finanziellen Zuwendungen der Union, welche diese im Rahmen eigens geschaffener Fonds ab dem Jahr 2000 bereitstellt.119

Die «Task Force Erweiterung» und die für die Beziehungen zu den Staaten Mittel- und Osteuropas zuständige Generaldirektion der Euro­

päischen Kommission führen die Verhandlungen mit den Beitrittskandi­

daten auf operationeller Ebene.120 Im November 1998 wurde damit be­

117 Die Kostenschätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) gehen bis zu einer Höhe von ECU 164 Mrd. für den Zeitraum 2000-2010, sollte es keine Re­

formen geben und alle fünf Staaten der zentraleuropäischen Freihandelszone (CEFTA) der EU gleichzeitig beitreten (Weise 1996). Für einen Überblick siehe Ardy 1999.

118 Für eine ausführlichere Analyse der Europa-Abkommen siehe u.a. Pkinnemore 1999b;

Prange 1997.

119 Als Beispiel für eine «Beitrittspartnerschaft» siehe «Beschluss des Rates vom 30. März 1998 über die Grundsätze, Prioritäten, Zwischenziele und Bedingungen der Beitritts­

partnerschaft mit Rumänien», in Amtsblatt der EG, L 121,24.4.1998, S. 11-15. Die neu­

en Finanzinstrumente (Fonds) sind die «Heranführungs-Agrarhilfe» sowie das «Struk­

turpolitische Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt (SIVB)» («Verordnung (EG) Nr. 1267/1999 des Rates vom 21. Juni 1999 über ein strukturpolitisches Instrument zur Vorbereitung auf den Beitritt», in Amtsblatt der EG, LI 63, 26.6.1999, S. 73—86).

120 Die politischen Verhandlungen finden auf Aussenminister- oder auf Botschafterebene (Ständige Vertreter) statt. Mit dem Amtsantritt der neuen EU-Kommission im Herbst 1999 wurde eine spezielle Generaldirektion «Erweiterung» geschaffen.

gönnen, über die Umsetzung der Inhalte des in 31 Kapitel gegliederten YXJ-Acquis bilateral zu verhandeln.121 Grundlage dieser Verhandlungen bilden einerseits die Positionspapiere der einzelnen Beitrittsaspiranten, andererseits die zu jedem Beitrittskandidat von der Kommission ver-fassten und vom Rat verabschiedeten Gemeinsamen Standpunkte der EU. Bis Juni 1999 konnten je nach Beitrittskandidat sieben bzw. acht der fünfzehn durch den Rat der Europäischen Union zur Verhandlung frei­

gegebenen Kapitel abgeschlossen und weitere neu eröffnet werden.122

Eine Erweiterung der Europäischen Union führt praktisch zwangs­

läufig zu einer «EWR-Erweiterung». Das Abkommen über den Euro­

päischen Wirtschaftsraum regelt den Beitritt neuer Mitgliedstaaten in Artikel 128 in folgendem Wortlaut:123

«(1) Jeder europäische Staat, der Mitglied der Gemeinschaft ist, bean­

tragt, und die Schweizerische Eidgenossenschaft sowie jeder europäi­

sche Staat, der Mitglied der EFTA wird, kann beantragen, Vertrags­

partei dieses Abkommens zu werden. Der betreffende Staat richtet seinen Antrag an den EWR-Rat.

(2) Die Bedingungen für eine solche Beteiligung werden durch ein Abkommen zwischen den Vertragsparteien und dem antragstellenden Staat geregelt. Das Abkommen bedarf der Ratifikation oder Geneh­

migung durch alle Vertragsparteien nach ihren eigenen Verfahren.»

Jeder Staat, der Mitglied der EU wird, muss auch einen Beitrittsantrag an den EWR-Rat stellen. Hingegen haben die EFTA-Staaten keine sol­

che Antragspflicht, sondern lediglich die explizit festgehaltene Möglich­

keit, ein Beitrittsgesuch einzureichen. Die Pflicht eines EU-Mitglied­

staates, einen Antrag auf EWR-Beitritt zu stellen, ergibt sich aus dem Gemeinschaftsrecht, denn alle von der EG abgeschlossenen internatio­

nalen Abkommen sind für neu beitretende Mitglieder verbindlich.124 Ein zwischen den Vertragsstaaten des EWR und den jeweiligen Beitrittskan­

didaten abgeschlossenes Beitrittsabkommen muss durch alle Vertrags­

121 Agence Europe, 11.11.1998, S. 8.

122 Zu den abgeschlossenen Kapiteln gehören Bildung, Forschung, Fischerei, Industriepo­

litik, KMU, Telekommunikation, Statistiken, Verbraucherschutz (Agence Europe, 23.6.1999, S. 8).

123 Wortlaut seit Inkrafttreten des Anpassungsprotokolls zum EWR-Abkommen vom 17.3.1993 (Art. 5).

Prange/Gstöhl 1998, S. 120.

parteien (EG, EU-Mitgliedstaaten, EFTA/EWR-Staaten, Bewerber) ratifiziert werden. Im EWR-Rat wird über ein Beitrittsgesuch im Ein­

vernehmen zwischen der Gemeinschaft einerseits und den EFTA-Staa-ten andererseits entschieden (Art. 90(2) EWR-Abkommen). Daraus er­

gibt sich für die EFTA-Staaten, welche im EWR-Rat mit einer Stimme sprechen müssen, ein de facto-Vetorecht gegenüber einem EWR-Ande-rungsvertrag im Hinblick auf die Osterweiterungen.125

Die Tatsache, dass eine EU-Osterweiterung zugleich eine EWR-Osterweiterung bedeutet, würde es nahelegen, dass die EFTA/EWR-Staaten in die Verhandlungen fest eingebunden werden. Die EU hat dies abgelehnt und informiert die EFTA-Seite statt dessen lediglich regel­

mässig über den Verhandlungsverlauf.126

Für die EFTA/EWR-Staaten besteht daher kaum die Möglichkeit, in­

dividuelle Interessen in den Verhandlungsverlauf einzubringen. Die Erfolgsaussichten, auf informellem Wege Einfluss zu nehmen, bleiben offen. In jedem Fall dürfte die EU nach langen und komplexen Ver­

handlungen mit elf Staaten kaum willens sein, die mühsam geschlosse­

nen Verhandlungspakete aufgrund von Forderungen der kleinen EFTA-Partner wieder aufzuschnüren, sodass sich der Handlungsspielraum der EFTA/EWR-Staaten im Interesse der Homogenität des EWR auf ein

«take it or leave it» begrenzen wird.127 Für den Fall, dass die Union als Beitrag zur Verringerung der regionalen Disparitäten zwischen den Regionen (Art. 115 EWR-Abkommen) neue finanzielle Forderungen an die EFTA/EWR-Partner herantragen würde, bliebe den EFTA-Staaten kaum Verhandlungsspielraum.

Die EU-Osterweiterung würde zu einer Bevölkerungszunahme von über 100 Mio. Menschen, oder beinahe 30 % der derzeitigen EU-Bevöl­

kerung, führen, wenn es zur Aufnahme aller elf Staaten, mit denen die EU Erweiterungsverhandlungen führt, kommen würde. Um so dring­

licher erscheint die Etablierung einer haltbaren und, wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch, dauerhaften liechtensteinischen Lösung im freien Personenverkehr. Da die mögliche liechtensteinische Lösung, wie bereits erläutert, aber ein quantitatives Element haben wird, sollte die Osterweiterung in diesem Bereich keine zusätzlichen Belastungen für Liechtenstein hervorrufen.

125 Ibid.

126 EEA Council, EEA 1607/98.

127 Prange/Gstöhl 1998, S. 121.

In jedem Fall wird die EU-Osterweiterung strukturelle Veränderun­

gen in den EWR-Gremien verursachen. Mit der zahlenmässigen Erwei­

terung des EWR-Rates oder des Gemeinsamen EWR-Ausschusses kommt es auch dort zu einer weiteren Pluralisierung der Interessen, was die politische Konsensfindung nicht unbedingt erleichtern dürfte.

Mit dem Vertrag von Amsterdam und den sieben bilateralen Abkom­

men Schweiz-EU wurden zwei Vertragswerke zum Abschluss gebracht, welche zu einem weiteren Integrationsschub in Europa beitragen wer­

den. Die Vertragsmaterien sollen im Folgenden kurz dargestellt und ihre möglichen Auswirkungen auf Liechtenstein erläutert werden.