die Wirtschaft Liechtensteins: eine empirische Erhebung
2. Künftige europäische Herausforderungen für Liechtenstein
2.1 Freier Personenverkehr und Arbeitsmarkt 6
Der freie Personenverkehr und die Herbeiführung einer dauerhaften Lösung bezüglich der Zuzugsbegrenzung von EWR-Ausländern ist ein zentraler Punkt, mit dem sich die liechtensteinische Politik im Rahmen des EWR-Abkommens beschäftigt.
Liechtenstein hat in Protokoll 15 des EWR-Abkommens eine Über
gangsfrist bis zum 1.1.1998 für die Herstellung der Freizügigkeit von Arbeitnehmern erhalten. Während dieser Frist konnte Liechtenstein
Eine frühere Version dieses Abschnitts ist bei Prange 1999, S. 73-76, zu finden.
seine Bewilligungspflicht für EWR-Arbeitnehmer sowie quantitative Restriktionen beibehalten (Art. 5 des Protokolls). Ebenso konnten die Regelungen in Bezug auf Saisonniers und Grenzgänger aufrechterhalten werden (Art. 6,7 des Protokolls). Zusätzlich wurde Liechtenstein eine Review-Klausel (Art. 9(2) des Protokolls) zugestanden, die bei Ablauf der Ubergangsfrist eine Uberprüfung der liechtensteinischen Situation vorsah.
Schliesslich gab der EWR-Rat im Dezember 1994 eine gemeinsame Erklärung ab, in welcher er feststellte, dass Liechtenstein «einen unge
wöhnlich hohen Prozentsatz an ausländischen Gebietsansässigen und Beschäftigten hat».7 Darüber hinaus erkannte der Rat «das vitale Inte
resse Liechtensteins an der Wahrung seiner nationalen Identität an».8 Im Lichte dieser speziellen Situation gesteht die Erklärung Liechtenstein die mögliche Anwendung von Schutzmassnahmen zu, und zwar dann, wenn «die Zahl der Angehörigen von EU-Mitgliedstaaten oder anderen EFTA-Staaten oder die Zahl der von diesen Staatsangehörigen insgesamt besetzten Arbeitsplätze in der Wirtschaft im Vergleich zu den jeweiligen Zahlen für die in Liechtenstein ansässige Bevölkerung in aussergewöhn-lichem Masse zunimmt».9
Vergleicht man allerdings die entsprechenden Zahlen der Jahre 1992 und 1997, so ist weder ein starker Anstieg der ausländischen Bevölke
rung an der Gesamtbevölkerung, noch ein starker Anstieg der ausländi
schen Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung festzustellen.10 Die Gründe hierfür (z.B. Einbürgerungen) spielen objektiv keine Rolle.
Die liechtensteinische Regierung ist davon ausgegangen, dass es mög
lich sei, vor Ablauf der Ubergangszeit im freien Personenverkehr eine Fristverlängerung zu realisieren.11 Als es jedoch im Verlaufe des Jahres 1997 zu keiner für beide Seiten - EU und Liechtenstein - zufriedenstel
lenden Lösung kam, rief die liechtensteinische Regierung am 12.12.1997 die allgemeine Schutzklausel des Abkommens (Art. 112
EWR-7 EWR Rat, EEE 1610/94 (Press 280).
8 Ibid.
9 Ibid.
10 Der Anteil der ausländischen Bevölkerung nahm zwischen 1992 und 1997 von 36.5 % auf 34.3 %, der Anteil der ausländischen Beschäftigten von 60.1 % auf 59.7 % ab (Amt für Volkswirtschaft, Statistisches Jahrbuch 1997; Amt für Volkswirtschaft, Arbeitsplätze in Liechtenstein 31.12.1997).
11 Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Bericht und Antrag 1/1995, S. 81.
Abkommen) an.12 Dies berechtigt das Fürstentum weiterhin Restriktio
nen im freien Personenverkehr gegenüber EWR-Staatsangehörigen auf
rechtzuerhalten.13 Allerdings wurden einige Restriktionen graduell ab
gebaut. Die Regierung hat beispielsweise die Umwandlung einer Saison
nierbewilligung in eine Aufenthaltsbewilligung vereinfacht und die Bewilligungspflicht für EWR-Grenzgänger aufgehoben.14
Die Firmen nehmen aufgrund dieser Teilliberalisierung im Personen
verkehr verstärkt die Möglichkeit wahr, Arbeitnehmer aus einem grös
seren regionalen Arbeitsmarkt zu rekrutieren. Für den Standort «Liech
tenstein» ist diese Möglichkeit, dies zeigt auch die empirische Erhebung des vorangegangenen Kapitels, eine wichtige Voraussetzung.15
Im selben Zeitraum ist die Arbeitslosigkeit in Liechtenstein von 1.4 % (Januar 1998) auf 2.0 % (Dezember 1998) angestiegen, sodass ein direkter Zusammenhang mit der Zunahme der Grenzgänger hergestellt wurde. Bei genauerer Analyse ist dieser Zusammenhang allerdings nicht ohne weiteres herzustellen, denn um die Frage beantworten zu können, inwieweit die Zunahme der Grenzgänger zu einer höheren Arbeitslosig
keit beigetragen hat, wäre eine genaue Strukturanalyse der Arbeitslosig
keit erforderlich. Folglich wären verschiedene Fragen zu beantworten:
Trifft die Ausbildung der Arbeitslosen überhaupt die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt? Wie hoch ist der Anteil der Arbeitslosen, die nur kurzfri
stig, aufgrund eines Arbeitsplatzwechsels, arbeitslos sind? Wie hoch ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen? Haben sich entsprechend qualifi
zierte Liechtensteiner überhaupt auf die von Grenzgängern besetzten Stellen beworben?
12 «Verordnung vom 16. Dezember 1997 über die Anwendung von Schutzmassnahmen im Bereich des Freien Personenverkehrs im Europäischen Wirtschaftsraum», LGB1. 1997, Nr. 216.
13 Die Verordnungen über die Begrenzung der Zahl der Ausländer im Fürstentum Liech
tenstein (LGB1. 1995, Nr. 87) sowie über den Personenverkehr im EWR (LGB1. 1995, Nr. 88) sind auch nach Ablauf der Ubergangsfrist anwendbar.
14 «Verordnung vom 16. Dezember 1997 über die Anwendung von Schutzmassnahmen im Bereich des Freien Personenverkehrs im Europäischen Wirtschaftsraum», LGB1. 1997, Nr. 216.
15 Nach Auskunft der Fremdenpolizei im Fürstentum Liechtenstein vom 22.2.1999 ist die Anzahl der EWR-Grenzgänger von ca. 4'700 per Ende 1997 auf ca. 5'500 per Ende 1998 angestiegen. Der Anteil der EWR-Grenzgänger an der Gesamtbeschäftigtenzahl ist da
mit in Liechtenstein ähnlich hoch wie z.B. in der Stadt Basel (Neue Zürcher Zeitung, 28.7.1999, S. 55).
Bei der Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Personenfreizü
gigkeit und Arbeitslosigkeit müssen zwei Argumentationslinien berück
sichtigt werden. Zum einen waren diejenigen Arbeitsstellen, die jetzt von Grenzgängern besetzt sind, vorher nicht von den Personen besetzt, die jetzt arbeitslos sind.16 Es hat also keine Entlassungen gegeben, um Grenzgänger einzustellen. Zum Zweiten hält der liechtensteinische Ar
beitsmarkt nicht die erforderliche Anzahl Arbeitskräfte bereit, die über die gewünschten Qualifikationen verfügen.17 Die Nachfrage nach quali
fiziertem Fachpersonal mit spezifischer Ausbildung war 1998 in den Be
reichen Bankwesen, öffentliche Verwaltung sowie Metall- und Maschi
nenindustrie besonders hoch.18 Andererseits waren von der Arbeitslosig
keit vorwiegend jene Büroberufe betroffen19, die in der Regel keiner wei
terführenden Ausbildung bedürfen. «Auf lange Sicht ist die Reduzierung des Angebots an gering Qualifizierten durch Bildung und Ausbildung die am meisten erfolgversprechende Strategie, der gesunkenen Nachfrage nach gering Qualifizierten zu begegnen.»20 Qualifikation und Weiterqua
lifikation sind auch in Liechtenstein notwendige Bedingungen, um wie
der in ein Arbeitsverhältnis zu gelangen, denn gut ausgebildete Arbeits
kräfte sind unterdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen.21 Der Ausgangspunkt für eine Lösung in der Frage des «freien Perso
nenverkehrs» war die Forderung der liechtensteinischen Regierung nach einem «quantitativen Element» sowie der «Dauerhaftigkeit» des zukünftigen Ubereinkommens.22 Regierungschef Frick präzisierte in der Sitzung des liechtensteinischen Landtags vom November 1998 diese po
tentielle Lösung. Die Regierung des Fürstentums und die Europäische Kommission sind übereingekommen, eine Quote für den jährlichen Zu
wachs an EWR-Erwerbstätigen sowie eine Quote für Nichterwerbs
tätige auf der Grundlage der bisherigen Anzahl der EWR-Ausländer zu fixieren23, d.h., es soll «eine effektive Beschränkung des Zuzugs von
16 Liechtensteiner Volksblatt, 16.10.1998, S. 3.
17 Dies gilt nach Angaben der Regierung insbesondere für mittelfristig (6-12 Monate) ar
beitslose Personen (Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Interpellationsbeantwor
tung 51/1997, S. 9).
18 Liechtensteiner Vaterland, 12.1.1999, S. 19.
" Liechtensteiner Volksblatt, 13.11.1998, S. 9.
20 Trabold 1997.
21 Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Interpellationsbeantwortung 51/1997, S. 8.
22 «Protokoll über die öffentliche Landtagssitzung vom 16./17. September 1998», S. 1911 ff.
23 «Protokoll über die öffentliche Landtagssitzung vom 19. November 1998», S. 2986.
Wohnsitznehmenden»24 erfolgen. Inwieweit diese Quoten «dauerhaft»
sein werden, bleibt in dieser Lösung vorerst unklar.25 Es könnte auch zu
«dynamischen», also jährlich wachsenden Quoten kommen, um nicht einer jährlich wiederkehrenden Uberprüfung der gefundenen Lösung Vorschub zu leisten.
Abschliessend ist festzuhalten, dass zwar aufgrund der Kleinheit Liechtensteins eine rechtliche Zuzugsbegrenzung für EWR-Arbeitneh-mer aus identitätsbewahrenden und möglicherweise arbeitsplatzpoliti
schen Gründen zweckmässig erscheint, dass andererseits aber min
destens zwei «natürliche» Faktoren diesen Zuzug bereits beschränken.
Erstens herrscht regional ein hoher Beschäftigungsgrad, sodass eine Bedingung für Migration, nämlich hohe Arbeitslosenquoten, entfällt.
Zweitens ist der Faktor «Arbeit» relativ immobil, besitzt selten vollstän
dige Informationen über Arbeitsmöglichkeiten in anderen Staaten und ist anderen Restriktionen (kulturellen, familiären, sprachlichen, etc.) un
terworfen, was insbesondere die Migration aus Ländern, die sich nicht in direkter Nachbarschaft Liechtensteins befinden ebenfalls limitiert.26