Liechtenstein und notwendige Anpassungsmassnahmen durch Liechtensteins EWR-Beitritt
4. Der Europäische Wirtschaftsraum als «erweiterte»
4.1 Theorie der Freihandelszone
In ihrer Wirkung nach innen entspricht die Freihandelszone weitgehend einer Zollunion.122 Nach aussen etabliert die Freihandelszone hingegen kein gemeinsames Zollregime. Jeder Mitgliedstaat einer Freihandelszone entscheidet somit autonom über seine Zölle oder andere handelspoliti
sche Massnahmen gegenüber Drittstaaten. Daher wäre es für einen Drittstaat gegenüber einer Freihandelszone von Vorteil, seine Waren über denjenigen Mitgliedstaat der Freihandelszone zu importieren, wel
cher den geringsten Importzoll erhebt. Danach könnte die Ware dann frei innerhalb der Freihandelszone zirkulieren. Um diesen Effekt (trade-deflection-effect) auszuschalten, operieren Freihandelszonen mit Ur
sprungsregeln (rules of origin). Ursprungsregeln bilden somit ein zentra
les Element einer Freihandelszone.123
In einer Freihandelszone ohne Ursprungsregeln würden theoretisch nur die niedrigsten Zolltarife zur Wirkung kommen. In diesem Fall be
stünden keine theoretischen Unterschiede zwischen einer Freihandels
zone und einer Zollunion, deren durchschnittlicher externer Zolltarif dem niedrigsten Zolltarif eines Mitgliedstaates der Zollunion entspricht.
Ursprungsregeln definieren, welche Produkte in den Genuss der Vor
zugsbehandlung, d.h. der Zollreduktion oder der Zollbefreiung, kom
men. Dabei können verschiedene Methoden dazu führen, dass Produkte das Ursprungssiegel einer Freihandelszone erhalten und folglich präfe-renziell behandelt werden. Jovanovic führt vier Methoden an, welche den Ursprung determinieren können: (1) die substantielle Bearbeitung
Siehe El-Agraa 1989, S. 48 und S. 60-64.
123 «The purpose of rules of origin is to limit trade deflection, that is the redirection of im-ports through the country with the lowest tariff for the purpose of exploiting the tariff differential.» (Robson 1998, S. 28)
einer Ware; (2) die Veränderung der Zollklassifikation (Tarifsprung);
(3) Hinzufügen eines Mehrwertes (value-added-method); (4) die Ware durchläuft einen speziellen Technologieprozess. (Jovanovic 1998, S. 98f) Die Ursprungsregelung kann liberal oder restriktiv angewendet wer
den. Eine restriktiv angewendete Ursprungsregelung - dies ist z. B. der Fall, wenn ein 90%-iger Wertschöpfungsanteil verlangt wird - wirkt protektionistisch gegenüber Drittstaaten und erhöht das Risiko der Handelsumlenkung. Um das Ursprungssiegel zu erhalten, verleiten Ursprungsregeln ausserdem dazu, Vorprodukte von einem teureren Anbieter innerhalb der Freihandelszone zu beziehen, anstatt von einem billigeren Anbieter ausserhalb der Freihandelszone.
Die Regelungen des EWR-Abkommens können als relativ liberal ein
gestuft werden. Grundsätzlich gilt ein Erzeugnis als Ursprungserzeug
nis des EWR, wenn es im EWR entweder vollständig gewonnen oder hergestellt (Protokoll 4, Art. 3 EWRA) oder in ausreichendem Masse be- oder verarbeitet (Protokoll 4, Anhang 2 EWRA) worden ist. Das EWR-Abkommen lockert die Ursprungsregelungen durch die soge
nannte «Toleranzregel» (Protokoll 4, Art. 4(2) EWRA), die volle Kumu
lierung sowie das «Territorialprinzip» (Protokoll 4, Art. 10 EWRA).
Die «Toleranzregel» macht es möglich, dass ein Produkt den Ur
sprungsstatus erhält, selbst wenn kleine Mengen nicht-originärer Mate
rialien verwendet wurden, welche normalerweise dazu führen würden, dass das Produkt nicht das Ursprungssiegel erhält. Die Drittlandmate
rialien dürfen den Wert von 10 % des Ab-Werk-Preises des Endpro
dukts nicht überschreiten. Die volle Kumulierung lässt es zu, dass ein Produkt den EWR-Ursprung erhält, indem alle in EU- oder EFTA-Staaten ausgeführten Produktionsprozesse addiert werden. Nach dem
«Territorialprinzip» darf ein Produkt den EWR-Raum grundsätzlich nicht verlassen, damit die Ursprungseigenschaften erhalten bleiben. Das EWR-Abkommen erlaubt allerdings eine Ausnahme von diesem Prinzip (Protokoll 4, Art. 11(1)), wenn die ausserhalb des EWR erzielte Wert
steigerung nicht 10 % des Ab-Werk-Preises des fertigen Produkts über
schreitet.
Die liberale oder restriktive Gestaltung der Ursprungsregeln entschei
det folglich darüber, inwieweit Ausgangsmaterialien aus Drittstaaten bei der Produktion eingesetzt werden dürfen und wie gross der Kreis der Erzeugnisse gezogen wird, die am Freihandel teilhaben. Innerhalb Euro
pas wurde die Liberalisierung mit der am 1.1.1997 in Kraft getretenen Pan
europäischen Kumulierung vorangebracht.124 Die Paneuropäische Ku
mulierung etabliert ein einheitliches Ursprungsprotokoll in allen zwi
schen den Vertragsparteien bestehenden Freihandelsabkommen.125 Diese Regelung lässt es zu, «dass Materialien mit Ursprung in einem beliebigen Staat der Freihandelszone in jedem anderen Land dieser Zone für den Ur
sprungserwerb angerechnet (kumuliert) werden können».126
Insgesamt sind aus theoretischer Sicht die Effekte einer Freihandels
zone denen einer Zollunion gleichzusetzen (statische/dynamische Ef
fekte).127 In der theoretischen Literatur wird deshalb auch oft nur allge
mein von «Präferenziellen Handelsabkommen» oder von «Regionalen Integrationsabkommen» gesprochen. Die Wohlfahrtseffekte einer Frei
handelszone variieren dabei in Abhängigkeit unterschiedlicher Annah
men, z.B. der Struktur der Im- und Exporte sowie der Höhe der Zölle vor und nach der Errichtung einer Freihandelszone oder der Grösse der Freihandelszone.128 DeRosa'29 führt beispielsweise für das Modell einer
«kleinen» Freihandelszone, die ihre externen Terms-of-Trade nicht be
einflussen kann, aus, dass das präferenzielle Abkommen dann wohl-fahrtssteigernd ist, wenn die Importe der Mitgliedstaaten sowohl aus den Staaten der Freihandelszone als auch aus Drittstaaten zunehmen.
«To ensure this outcome, member countries of a new trading bloc should simultaneously reduce their barriers to trade with non-member countries.»130/« und Krishna wiederum untersuchen die Effekte einer Freihandelszone ohne Ursprungsregelungen.131 Krugman132 schliesslich kommt zu der Erkenntnis, dass Freihandelszonen aus rein ökonomi
scher Sicht die Weltwirtschaft eher schädigen müssten als ihr nutzen.
Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass der Nettoeffekt von Freihandels
zonen negativ für die Weltwirtschaft ist. Für Krugman ist der geogra
124 Wirtschaftskammer Österreich 1997.
125 Diese Abkommen sind: das EWR-Abkommen, die Freihandelsabkommen der EU mit den EFTA-Staaten, die Europa-Abkommen der EU mit den mittel- und osteuropä
ischen Staaten, die Freihandelsabkommen der EFTA mit den mittel- und osteuropä
ischen Staaten und die Freihandelsabkommen der mittel- und osteuropäischen Staaten untereinander.
126 Wirtschaftskammer Österreich 1997, S. 9.
127 Mourik 1997, S. 33.
128 De Melo et al. 1993, S. 163. Für eine auf verschiedenen Annahmen beruhende Analyse siehe Kemp 1969.
129 DeRosa 1998, S. 29.
130 Ibid.
131 J u/Krishna 1996.
132 Krugman 1998b, S. 626f.
phische Gesichtspunkt in diesem Zusammenhang ausschlaggebend. Er argumentiert, dass die Partnerstaaten eines Freihandelsabkommens zu
meist Nachbarn sind, die auch ohne spezielle Arrangements den Gross
teil ihres Handels untereinander abwickeln würden. Als Resultat folgert Krugman, dass die potentiellen Verluste durch Handelsumlenkung mar
ginal, die potentiellen handelsschaffenden Effekte hingegen sehr wesent
lich sind.133
Uneinigkeit besteht unter Ökonomen in jedem Fall darüber, ob unter wohlfahrtspolitischen Aspekten die Freihandelszone einer Zollunion oder die Zollunion einer Freihandelszone vorzuziehen sei.134 Die pro und contra Argumente drehen sich um die Höhe des Gemeinsamen Aussentarifs, die nationale Eigenständigkeit der Aussenwirtschaftspoli-tik, die Ursprungsregelungen und den Einfluss von Lobbyisten auf den Gemeinsamen Aussentarif. Einigkeit besteht darüber, dass beide For
men regionaler Abkommen die Verhandlungsmacht (bargaining power) ihrer Mitglieder stärken. Die Mitgliedstaaten können diesen strategi
schen Vorteil dazu nutzen, die Politik von Drittstaaten gegenüber der Regionalunion zu Gunsten letzterer zu beeinflussen. Eine Vorausset
zung ist allerdings, dass die Freihandelszone oder die Zollunion im Ver
gleich zum Verhandlungspartner gross genug ist.135