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Liechtenstein und notwendige Anpassungsmassnahmen durch Liechtensteins EWR-Beitritt

4. Der Europäische Wirtschaftsraum als «erweiterte»

4.3 Erwartete Integrationseffekte durch den EWR

In den vorangegangenen Abschnitten wurden die allgemeinen theoreti­

schen Effekte ökonomischer Integration besprochen. In Bezug auf den EWR unterliegt die Analyse dieser Effekte allerdings gewissen Ein­

schränkungen, da die Freihandelsabkommen zwischen der EG und den EFTA-Staaten bereits zu niedrigen tarifären Handelsbarrieren führten und im Ergebnis eine enge Handelsverflechtung zwischen diesen beiden Staatengruppen herstellten.154 Der EWR lässt daher nicht unbedingt einen weiteren Zuwachs der Handelsintensität zwischen der EU und den EFTA/EWR-Staaten erwarten.

Von Seiten der EFTA-Staaten basieren die wichtigeren Effekte der EWR-Teilnahme vielmehr auf einem möglichst liberalen Zugang zum

152 In EWR-relevanten Komitologie-Ausschüssen arbeiten EFTA-Experten gleichberech­

tigt mit EU-Experten zusammen, sind aber von offiziellen Ausschusssitzungen ausge­

schlossen (Art. 100 EWR-Abkommen). In anderen, vertraglich bestimmten, Ausschüs­

sen, z.B. im Bereich horizontaler und flankierender Politiken, ist die Mitarbeit der EFTA-Experten gewährleistet.

153 Zum Verfahren der Übernahme von Rechtsakten in Liechtenstein siehe Büchel 1999, S. 30-35.

154 CEPR 1992, S. 9.

EU-Binnenmarkt durch den Abbau nichttarifärer Handelshemmnisse.

Vor allem die negativen Effekte der Nichtteilnahme sollten vermieden werden.155 Weitere Liberalisierungsimpulse bringt die EWR-Teilnahme aufgrund des freien Kapitalverkehrs, des freien Dienstleistungsverkehrs, der Verbesserung des Ursprungsregimes und der Anwendung gemein­

samer Regeln und Normen, z.B. im Wettbewerbsrecht und im öffent­

lichen Auftragswesen. Auch wenn einige Studien Handels- und Wohl­

standseffekte (makroökonomische Effekte) der EWR-Mitgliedschaft berechnen156, so sind die Effekte auf der Unternehmens- und Verbrau­

cherebene (mikroökonomische Effekte) aufgrund der Harmonisie-rungs- und Deregulierungsschritte von grösserer Bedeutung. Der EWR garantiert den problemlosen Zugang zum wichtigen EU-Markt und führt eine sofortige Senkung der unternehmerischen Kosten herbei. Sin­

kende Kosten und zunehmender (Qualitäts-)Wettbewerbsdruck wie­

derum führen langfristig zu unternehmerischen Anpassungsstrategien, Innovationseffekten (non-price-effects) und Einkommenseffekten. Eine Studie von Ernst & Young hat gezeigt, dass die Anpassungsstrategien der EFTA-Unternehmen insbesondere darauf hinausliefen, strategische Allianzen und Joint Ventures einzugehen sowie neue Marketingstrate­

gien zu lancieren.157

Die oben genannten Effekte variieren in Abhängigkeit von der vor dem Beitritt existierenden sektoriellen Protektionsschwelle und den je­

weiligen nationalen Wirtschaftsstrukturen der beitretenden Länder. Sek­

toren, die bereits dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt waren, werden durch weitere Integrationsschritte weniger berührt als ge­

schützte Sektoren.158 Zu der ersten Kategorie zählen die meisten Indust­

riesektoren. Alle EFTA-Staaten stellen relativ kleine Volkswirtschaften in Bezug auf ihren Binnenmarkt dar. Um komparative Vorteile und Economies-of-Scale nutzen zu können, sind sie auf offene Märkte und intensiveren Aussenhandel angewiesen.

Stärkere Integrationseffekte waren im Dienstleistungssektor, im spe­

ziellen im Finanzdienstleistungssektor, zu erwarten, da dieser weniger

155 Zu den Kosten der Nicht-Teilnahme siehe Baldwin (1992, S. 9-13) und Ems (1992, S. 13-17).

156 Siehe z.B. Baldwin 1992, S. 6; CEPR 1992; Ems 1992; Haarland/Norman 1992.

Emst & Young 1993, S. 20. f

158 In geschützten, oder auch «sensitiven», Sektoren wird der Handel in erster Linie durch unterschiedliche technische Standards oder administrative Hürden behindert.

dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt ist.159 Die Öffnung der Märk­

te und die damit einhergehende Zunahme des Preiswettbewerbs sollte für einen Innovations- und Wachstumsschub in den EFTA-Staaten sorgen.160 Liechtensteins Erwartungen mit dem EWR-Beitritt lassen sich in die oben angeführten EFTA-Erwartungen einfügen.161 Zunächst einmal sollte ein Abseitsstehen vom EU-Binnenmarkt vermieden werden162, auch wenn dies mit erheblichen Anpassungen in allen Wirtschaftsberei­

chen verbunden sein würde.163 Kneschaurek und Graf haben bereits 1990 auf die Gefahren eines Ausschlusses vom Gemeinsamen Markt hingewiesen:

«a) Liechtensteiner Firmen im EG-Raum werden als .ausländische Firmen' benachteiligt. Ihr Standort in der EG ist keine Garantie ge­

gen eine solche Benachteiligung, sofern im Bereich, in welchem sie tätig sind, das Reziprozitätsprinzip nicht gewahrt ist; b) Liechtenstei­

ner Firmen im Fürstentum werden in ihrer Exporttätigkeit in den EG-Raum diskriminiert; c) Liechtensteiner Firmen werden auf den Inlandmärkten durch die EG-Konkurrenz bedrängt, weil sie nicht die gleichen Möglichkeiten zur Ausschöpfung der grossräumigen Pro­

duktion und Spezialisierung haben wie die EG-Unternehmen.»164 Wie in Kapitel E noch zu erläutern sein wird, ist Liechtensteins Export­

abhängigkeit besonders markant und deshalb die Marktzugangssiche­

rung für die Exportindustrie existentiell.165

159 EFTA 1994, S. 11.

160 EF TA-Unternehmen sahen den Dienstleistungssektor als einen Gewinner der Integra­

tion (Ernst & Young 1993, S. 14).

161 Kontroverse Debatten zu den Erwartungen eines EWR-Beitritts wurden im liechtensteinischen Landtag im September und Oktober 1992 geführt («Protokoll über die öffentliche Landtagssitzung vom 16./17. September 1992» und «Protokoll über die öffentliche Landtagssitzung vom 21./22. Oktober 1992»).

162 Dies gilt nicht nur für die Industriebetriebe, sondern ebenfalls z.B. für den Finanzdienst­

leistungssektor (Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Bericht und Antrag 46/1992, S. 239 und S. 243).

163 Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Bericht und Antrag 46/1992, S. 2 43.

164 Kneschaurek/Graf 1990, S. 9 3.

165 So die Wortwahl von alt-Regierungschef Hans Brunhart in einem Vortrag im Dezember 1991 (Brunhart 1991, S. 25). Nach dem liechtensteinischen «Ja» z um EWR-Abkommen im Dezember 1992 äusserte sich der Präsident der Liechtensteinischen Industrie- und Handelskammer, Peter Frick, ähnlich deutlich: «Wir hatten gar keine andere Wahl, als dem EWR-Beitritt zuzustimmen. Sonst stünden wir jetzt total im Abseits.» (Tages-Anzeiger, 14.12.1992). Michael Hilti, Vorsitzender der Konzernleitung der Hilti AG, fügte im Mai 1993 hinzu: «Entscheidend ist und bleibt heute und in der Zukunft der freie Zugang zu

«Für die liechtensteinische Exportwirtschaft im gesamten ist der möglichst freie und ungehinderte Marktzugang die wichtigste Rah­

menbedingung für eine wirtschaftliche Existenz in Liechtenstein und damit eines der wesentlichsten Standortelemente überhaupt. Dies gilt im übrigen nicht nur für die Exportindustrie, sondern auch für einen guten Teil der Gewerbebetriebe, welche heute schon in der gesamten Region und international tätig sind.»166

In Bezug auf grössere Unternehmen rechnete Kneschaurek zudem mit der Verlagerung besonders wertschöpfungsintensiver Bereiche ins Aus­

land, sollten für diese Firmen keine im Vergleich zum EG-Raum paral­

lelen Rahmenbedingungen geschaffen werden.167

Anders als der Industriesektor war der Dienstleistungssektor, und insbesondere der Finanzdienstleistungssektor (Banken, Rechtsanwälte, Treuhänder, Versicherungen), durch hohe Zugangsschranken geprägt.

Der EWR-Beitritt bedeutete auch für Liechtenstein eine Zunahme der Konkurrenzsituation in diesem Bereich.168 Bezüglich der liechtensteini­

schen Rechtsanwälte prognostizierten Graf\ Eidenbenz und Marti, dass diese aufgrund ihrer liechtenstein-spezifischen Tätigkeiten (Tätigkeiten im Zusammenhang mit Steuerprivilegien und Geheimnisschutz) wenig Chancen für eine Berufsausübung im Binnenmarkt hätten.169 Dagegen machten sie eine hohe Attraktivität des liechtensteinischen Marktes für EWR-Rechtsanwälte aus. Graf, Eidenbenz und Marti zogen daraus die Schlussfolgerung, «dass die Gewährleistung von Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit den einheimischen Rechtsanwälten mehr Nach­

ais Vorteile bringt».170 Eine ähnliche Prognose stellten Graf, Eidenbenz und Marti auch für den Treuhänderbereich.171 Ein «füll Service» kann allerdings nur mit einer doppelten Zulassung - sowohl als Rechtsanwalt als auch als Treuhänder - erbracht werden. Dies könnte sich in der Pra­

xis als Marktzutrittsschranke erweisen.

den anderen Märkten in totaler Ermangelung eines eigenen Binnenmarktes. Somit hat die EWR-Entscheidung und das Zustandekommen einer gangbaren Lösung mit der Schweiz für Liechtensteins Industrie grösste Bedeutung.» (Hilti 1993, S. 18)

166 Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Bericht und Antrag 46/1992,.S. 240.

167 Kneschaurek 1990, S. 45.

168 Der Marktzugang für Rechtsanwälte und Treuhänder wurde nach einer Ubergangsfrist von zwei Jahren für diejenigen gewährt, die bereits vor dem EWR-Beitritt ihren Wohn­

sitz in Liechtenstein hatten, nach vier Jahren für alle übrigen.

169 Graf et al. 1994, S. 46.

170 Ibid., S. 47.

171 Ibid.

Eine verstärkte Konkurrenzsituation war aufgrund der Dienstleis-tungs- und Niederlassungsfreiheit im EWR auch für Banken in Liechten­

stein zu erwarten. Indes sehen sich ausländische Banken einer Marktzu­

gangsschranke gegenüber, da sie selber «nicht Holding- und Sitzgesell­

schaften bzw. Stiftungen für Ausländer gründen und betreuen»172 dürfen.

Dagegen sollten Banken mit Sitz in Liechtenstein insbesondere vom

«single-licence-Prinzip» (Einheitslizenz) profitieren. Die Möglichkeit des Vertriebs liechtensteinischer Finanzprodukte im gesamten EU-Binnen­

markt wird damit sichergestellt, ohne dass das jeweilige Produkt auf je­

dem Markt erneut lizensiert werden muss. Auch der Bankensektor muss-te befürchmuss-ten, dass ein Abseitssmuss-tehen «mit Sicherheit auf längere Sicht eine Ausschöpfung des ... dominierenden Europageschäftes erschwer[t] und ein Wachstum der liechtensteinischen Banken behinder[t]»173 hätte.

Berufs- und Niederlassungsfreiheit sowie die Liberalisierung des öffentlichen Auftragswesens stellten für verschiedene Sektionen des liechtensteinischen Gewerbes die zentralen Herausforderungen dar.174 Aufgrund der EWR-Niederlassungsfreiheit wurde eine starke Zunahme der Firmenzahlen angenommen, was wiederum zu intensiverem Wett­

bewerb und sinkendem Einkommen führen würde.175 Einkommens­

druck wurde ebenfalls infolge der Liberalisierung der Personenfreizü­

gigkeit und der damit verbundenen Zuwanderung billigerer Arbeits­

kräfte insbesondere aus dem österreichischen Vorarlberg erwartet. Eine

«Angleichung nach unten»176 wurde vereinzelt für Liechtenstein nicht ausgeschlossen.

Die Ausführungen zeigen, dass sich die Erwartungen der liechtenstei­

nischen Volkswirtschaft weniger auf makroökonomischer Ebene be­

wegten, als vielmehr im mikroökonomischen Bereich artikuliert wur­

den. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, ob die vorangegangenen theoretischen Überlegungen und Erwartungen in der Empirie standhal­

ten. Der Darstellung der erhobenen Daten wird zunächst eine Erläute­

rung der Methodik vorangestellt.

172 Ibid., S. 58.

173 Ehlers 1993, S. 8.

174 Eine allgemeine Aussage zur Haltung des liechtensteinischen Gewerbes gegenüber dem EWR-Beitritt kann aufgrund der Vielfältigkeit dieses Sektors nicht getroffen werden.

175 GWK, Mitteilungen «Präsidialbericht» von Josef Frommelt, April 1991; Regierung des Fürstentums Liechtenstein, Bericht und Antrag 46/1992, S. 240.

176 So der liechtensteinische Abgeordnete Ernst Walch im Landtag im September 1992 («Pro­

tokoll über die öffentliche Landtagssitzung vom 16./17. September 1992», S. 1177).