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Zuschreibungen und empirische Daten

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Wie Mädchen türkischer Herkunft zu Außenseiterinnen gemacht werden

1. Zuschreibungen und empirische Daten

Zum Berufswahlprozeß von Mädchen türkischer Herkunft

Die beruflichen Vorstellungen von Mädchen türkischer Herkunft selbst und die Einstellun­

gen ihrer Eltern hinsichtlich einer Berufswahl werden oft negativ beschrieben. In einer 1987 durchgeführten Untersuchung (s. Boos-Nünning 1989) wurde von den meisten der 26 qualitativ befragten Berufsberater und Berufsberaterinnen (willkürliche Stichprobe) thematisiert, daß die Einschränkung des Lebensraums und daraus resultierende Einschrän­

kungen bei der Wahrnehmung von Ausbildungsmöglichkeiten Hindernisse darstellen. Er­

wähnt wird, daß manche Mädchen türkischer Herkunft das Haus am Nachmittag oder am Abend nicht allein verlassen dürfen, daß sie deswegen das Arbeitsamt nicht aufsuchen und nicht an einem Beratungsgespräch teilnehmen können. Auch die Möglichkeit zur Aufnahme einer Ausbildung wird durch den geringen räumlichen Spielraum eingeschränkt. Der Aus­

bildungsbetrieb muß in derselben Straße oder in der Nachbarstraße liegen. Die Berufstätig­

keit darf nicht verlangen, daß das Mädchen abends spät nach Hause kommen muß.

Es vermittelt sich der Eindruck (s. z. B. Hearing 1989), daß es sich bei den Problemen des Übergangs von der Schule in den Beruf wie auch bei den meisten anderen Fragen allein um Probleme von Mädchen türkischer Herkunft handelt. Diese Folgerung ist falsch, wie sich anhand empirischer Daten belegen läßt. Es müssen vier Richtigstellungen bzw.

Differenzierungen angebracht werden. Mädchen türkischer Herkunft sind erstens im Hin­

blick auf Schulbesuch und -abschlüsse eher erfolgreicher als die Jungen derselben Nationa­

lität. Alle vorliegenden Daten sprechen dafür, daß die Mädchen türkischer Herkunft besse­

re schulische Karrieren vorweisen als Jungen. Sie sind stärker an Realschulen und gleich stark an Gymnasien vertreten. Die wenigen Daten, die Differenzierungen der ausländischen Schulabgänger nach Geschlecht erlauben, belegen zudem, daß weniger Mädchen als Jun­

gen ohne Abschluß bleiben und daß Mädchen zu einem höheren Prozentsatz einen mitt­

leren Abschluß oder das Abitur erreichen. Die Bildungsabschlüsse der Mädchen sind dem­

nach im Vergleich zu den Jungen ausländischer Herkunft deutlich qualifizierter, sie sind aber dennoch schlechter als bei deutschen Jugendlichen, vor allem schlechter als bei deut­

schen Mädchen. Fast alle Mädchen ausländischer Herkunft streben zweitens ebenso wie die Jungen eine Berufsausbildung an. Nur wenige möchten nach der Schule direkt eine Arbeit aufnehmen; selten jedoch, weitaus seltener als Jungen, schaffen sie den Übergang in eine berufliche Ausbildung. Die Abstinenz gegenüber einer beruflichen Ausbildung be­

schränkt sich drittens keineswegs auf Mädchen türkischer Herkunft. Geht man die ein­

schlägige Literatur durch, so wird der Eindruck hervorgerufen, daß allein oder vor allem Mädchen türkischer Herkunft Schwierigkeiten beim Übergang von der Schule in den Be­

ruf oder in anderen Lebensbereichen hätten. Die Berufssituation von Mädchen und jun­

gen Frauen anderer Nationalitäten wird so gut wie nicht angesprochen. Nun ist sicher rich­

tig, daß Mädchen türkischer Herkunft besonders benachteiligt sind. Die Daten, die nach Nationalitäten und Geschlecht differenzieren, deuten daraufhin, daß besonders viele Mäd­

chen - wie auch Jungen - türkischer Herkunft den deutschen Schulabschluß nicht errei­

chen. Die Untersuchung des Bundesinstituts für Berufsbildung ermittelt nach wie vor gro­

ße geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ausbildungsbeteiligung bei allen Nationali­

täten mit Ausnahme der spanischen (Granato / Meissner 1994). Untersuchungen belegen zudem viertens, daß die Mädchen türkischer Herkunft sich Spielräume „erobern“ können (z. B. Hahn 1991). Für sie gibt es Verhandlungsmöglichkeiten in der Familie, Freiräume, die sie nutzen können, wenn sie einmal den Zugang zu einer Ausbildung in einem von der Familie und der ethnischen Community akzeptierten Beruf gefunden oder sich die Voraus­

setzungen für ein Studium erarbeitet haben. Dabei muß berücksichtigt werden, daß die äußeren Widerstände (der Betriebe, der Lehrer, der Berufsberater) oftmals größer und schwieriger zu überwinden sind als die Restriktionen in den Familien.

Diese Sachverhalte werden nicht so, wie hier beschrieben, wahrgenommen. Vielmehr wird häufig auf Alltagserfahrungen verwiesen, die ein anderes Bild zeichnen. Es wird regi­

striert, daß Mädchen türkischer Herkunft schwer für eine Berufsausbildung zu motivieren sind oder daß sie eine Berufsausbildung aufnehmen, aber abbrechen, wenn die Lebens­

bedingungen sich verändern. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, daß es für Mäd­

chen ausländischer Herkunft - und zwar nicht nur für die türkischer, sondern auch für die griechischer und italienischer Herkunft - besondere Einschränkungen gibt. Neben den auch für deutsche Mädchen geltenden, mit der Frauenrolle verbundenen Einschränkungen und einer auf Frauenberufe ausgerichteten Sozialisation sind die weiblichen Angehörigen aller drei Nationalitäten besonderen Kontrollen durch Familienmitglieder und Umgebung so­

wie durch die eigenethnischen Gruppen unterworfen. Der Freiraum, der für die Durchfüh­

rung einer Ausbildung in manchen Berufen benötigt wird (lange Abwesenheiten, schwie­

rige Verkehrswege, Wegbleiben über Nacht), wird von einem Teil der Eltern den Töchtern nicht ohne weiteres zugebilligt. Die Angst der Eltern, die Ehre der Tochter und damit der ganzen Familie könnte durch zu viele Freiheiten beeinträchtigt werden, schafft Einschrän­

kungen, die eine Berufsausbildung erschweren oder sogar verhindern können. Die Kon­

trolle ist bei allen drei Nationalitäten hier in Deutschland wegen der als besonders gefähr­

dend angesehenen Lebensbedingungen und wegen des besonderen Bedürfnisses, in ei­

ner solchen Umgebung den Ruf der Tochter zu sichern, eher strenger als zur jetzigen Zeit im Herkunftsland. Hinzu kommt als erschwerendes Moment, daß die Eltern die Zukunft der Tochter enger als die des Sohnes an die Pläne der Familie koppeln. Eine immer wieder neu terminierte Rückkehr (in zwei, drei Jahren) macht es schwierig, für die Mädchen län­

gerfristige Ausbildungspläne zu entwickeln und langfristige Vorstellungen (erst noch zwei Jahre Schule, dann drei Jahre Ausbildung) zu verwirklichen. Es liegt nicht in der Vorstellungs­

möglichkeit vieler Eltern, ihre Töchter (etwa zur Fortführung der Ausbildung) alleine in Deutschland zu lassen, wenn sie selbst schon zurückgekehrt sind. Die unbedingte Notwen­

digkeit, die Lebensplanung an den Zukunftsplänen der Eltern zu orientieren und damit einen im Herkunftsland für Frauen ausübbaren Beruf zu finden, schränkt die möglichen Berufe darüber hinaus entscheidend ein.

Es gibt Einschränkungen und Hindernisse, die aus der Rolle eines Mädchens und einer jungen Frau ausländischer (nicht türkischer) Herkunft resultieren. Nicht selten werden die Orientierungen und Überlegungen der Eltern und der Mädchen selbst (mit)bestimmt durch die rechtlichen Restriktionen und die sozialen Benachteiligungen von Ausländern in Deutschland, die es den ausländischen Familien (und hier insbesondere denen aus Län­

dern, die nicht der Europäischen Gemeinschaft angehören) schwer, wenn nicht unmög­

lich machen, ihre Zukunftsperspektiven auf ein Leben in Deutschland auszurichten. Zu­

dem gelten die Einschränkungen längst nicht für alle Mädchen. Zugeschrieben werden solche Verhaltensweisen und Einstellungen allein oder überwiegend Mädchen türkischer Herkunft, und die Ursache wird nicht in den gesellschaftlichen Beeinträchtigungen, son­

dern in den familiären Orientierungen gesucht. Es darf zudem bei der Darstellung der Ein­

schränkung, die sich aus der Lebensplanung der Mädchen selbst und den Vorstellungen ihrer Familien ergeben, nicht übersehen werden, daß auch der Ausbildungsstellenmarkt Barrieren setzt, und daß nicht wenige Ausbilder Reserven gegenüber einer Einstellung von Mädchen türkischer Herkunft besitzen. Darauf soll später eingegangen werden.

Identitätsstörungen und -konflikte von Mädchen türkischer Herkunft

Kinder ausländischer Herkunft wachsen in Deutschland in zwei Kulturen auf; lange Zeit und teilweise auch heute noch reichten diese Tatsache und die familiäre Belastung als Bele­

ge und gleichzeitig als Erklärungen für ein besonderes Ausmaß und für spezifische For­

men psychischer Störungen aus, vor allem für das Entstehen von Identitätskonflikten. Wie­

derum werden insbesondere den Mädchen türkischer Herkunft besondere Schwierigkeiten und ein besonderer Grad psychischer Verletzung zugeschrieben, da unterstellt wird, daß die kulturelle Distanz zwischen dem Herkunftsland der Eltern, der Türkei, und Deutsch­

land größer als bei anderen Nationalitäten ist oder daß zwischen den Normen und Verhaltensanforderungen in türkischen Einwandererfamilien und den in deutschen Fami­

lien üblichen größere Diskrepanzen beständen. Durch Buchtitel oder Beschreibungen wie

„morgens Deutschland - abends Türkei“ oder „Zwischen den Kulturen“ wird die Vorstel­

lung eines krassen Kulturgegensatzes und damit eines Kulturkonfliktes hervorgerufen.

Empirische Belege für eine besondere Belastung dieser Gruppe gibt es bis heute nicht, bzw. es liegen widersprüchliche Untersuchungsergebnisse vor. Vor allem ältere Untersu­

chungen interpretieren aggressives Verhalten ausländischer Kinder sowie Formen des Rück­

zugs als Ausdruck eines inneren Fremdseins bei äußerer Angepaßtheit. Der Kulturwechsel oder die aus einer Identitätsdiffusion entstandene Überangepaßtheit an die Normen und Werte des Herkunftslandes wie auch das Zerriebenwerden zwischen zwei Kulturen wer­

den als belastende Situation interpretiert und sollen zu psychischen oder psychosomati­

schen Krankheiten führen. Ebenfalls ohne sich auf Untersuchungen berufen zu können, werden seit Mitte der siebziger Jahre anormale Reaktionen und Verhaltensauffälligkeiten ausländischer Kinder behauptet oder vorausgesetzt, und es werden die unterschiedlichsten Anteile verhaltensauffälliger Kinder genannt. Nicht selten erwecken an Falldarstellungen orientierte Schilderungen den Eindruck, daß Kinder und Jugendliche ausländischer Her­

kunft psychisch oder psychosomatisch als krank beschrieben werden, weil sie nach ihren Lebensumständen so belastet sind, daß sich entsprechende Krankheitsbilder zeigen müs­

sen. Daneben gibt es Untersuchungen, die der These von der besonderen psychischen

Belastung ausländischer Kinder widersprechen (so Poustka 1984, Schlüter-Müller 1992), und es gibt Warnungen vor einer allzu schnellen Übernahme solcher Auffassungen (so z. B. bei Boos-Nünning / Nieke 1982).

Andere Ansätze gehen davon aus, daß nicht der Kulturkonflikt die Ursache für besonde­

re psychische Schwierigkeiten der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienange­

hörigen sei, sondern daß vielmehr der geringe soziale Status das Risiko psychischer Erkran­

kungen erhöhe, so daß die Position einer diskriminierten Minderheit die eigentliche Ursa­

che darstelle. Auernheimer (1988:9,123 f.) spricht vom sogenannten Kulturkonflikt, dessen Betonung es möglich mache, sozialstrukturelle Benachteiligung junger Ausländer bzw. recht­

liche und soziale Gründe für Orientierungsschwierigkeiten auszublenden. Es sei wissen­

schaftlich fragwürdig, von widersprüchlichen kulturellen Erwartungen auf Identitäts­

probleme zu schließen. Falls es eine Störung in der Identitätsentwicklung gebe, werde die­

se durch die teils rechtlichen, teils wirtschaftlichen und teils kulturell bedingten Verhinde­

rungen von Lebensentwürfen (so z. B. durch Diskriminierung als Ausländer bei der politi­

schen Partizipation, beim Zugang zu Ausbildungsstellen usw.) bewirkt. Ein weiterer Grund für spezifische Schwierigkeiten wird in der fehlenden Berücksichtigung der Herkunfts- bzw.

der Migrantenkultur im Alltagsleben des Aufnahmelandes vermutet, ein Ausschluß - wie es Auernheimer formuliert - vom kulturellen Erbe und zwar häufig in zweifacher Hinsicht, nämlich von dem der Herkunfts- wie dem der Aufnahmegesellschaft.

Wenn auch die zuletzt genannte Position die Ursachen für psychische Schwierigkeiten in der Lebenssituation der Fremden bei uns und nicht allein in einem Kulturkonflikt sieht, so wird auch hier unterstellt, daß eine besondere Belastung zu psychischen Schwierigkei­

ten führe, und es werden auch hier die protektiven Faktoren, die sich positiv auf die Identitätsbildung auswirken können, vernachlässigt. Auch dieser Ansatz läßt es zu, Mäd­

chen türkischer Herkunft als psychisch belastet wahrzunehmen bzw. sie als psychisch ge­

stört zu stigmatisieren.

Im Dokument W M FS III 95 - 401 (Seite 55-58)