Wie Mädchen türkischer Herkunft zu Außenseiterinnen gemacht werden
2. Die Vermittlung stigmatisierender Deutungen
Nicht nur in den zwei hier angesprochenen, sondern auch in vielen anderen Lebensberei
chen wird die besondere Belastung bzw. die Besonderheit von Mädchen türkischer Her
kunft und von türkischen Frauen und Familien herausgestellt. Dieses gilt etwa bei der Thematisierung von Generationskonflikten, bei der Diskussion der Familienstrukturen und den familialen Orientierungen, insbesondere der Rolle der Frau, bei Überlegungen zur ge
schlechtsspezifischen Erziehung (s. dazu Boos-Nünning 1994a). Die Bilder, die Mädchen türkischer Herkunft zu Außenseiterinnen machen, werden auf verschiedenen Wegen trans
portiert.
Ein wichtiger Weg ist die Weitergabe von Alltagsdeutungen in Gesprächen, etwa durch Ausbilder, die Fälle des Abbruchs von Ausbildungen wegen erfolgter Eheschließung schil
dern, von Einflußnahmen des Vaters, des Ehemannes oder des Schwiegervaters berichten oder Hinweise auf besondere psychische Belastungsfaktoren transportieren. Dieses aus der Generalisierung von Einzelerfahrungen gewonnene Bild wird durch sonstige Informa
tionen nicht oder nicht hinreichend korrigiert.
Stabilisierend oder auch Stereotypenproduzierend wirken die Massenmedien, Zeitun
gen wie auch Fernsehen oder Filme. Neben den Berichten und Darstellungen, die unre
flektiert, teils sogar plump Stereotypen wiedergeben, verstärken auch Filme (z. B. Yasemin) und Zeitschriftenartikel (z. B. in der Süddeutschen Zeitung), die eigentlich Differenzierun
gen aufzeigen wollen, Vorurteile. Der Grad zwischen Schilderung der (wahrgenommenen) Realität und der Stereotypisierung ist schmal, ja hauchdünn, oft sind es gerade die Artikel, die sich wähnen, wohlwollend gegenüber „Ausländern“, gegenüber zugewanderten Fami
lien oder Mädchen türkischer Herkunft zu sein, die bewirken, daß bei den Lesern oder
Zuschauern vorhandene (falsche oder teilrichtige) Meinungen verfestigt werden. Eine be
sondere Bedeutung kommt in diesem Prozeß der Trivialliteratur zu, die sich beginnend mit dem Buch von Mahmoody „Nicht ohne meine Tochter“ eigentlich nicht auf die türki
sche, sondern auf andere Nationalitäten (Iran, Libanon) richtete. Dennoch hat sie wegen der Einordnung der türkischen Kultur in die „islamisch geprägten“ Kulturen negative Aus
wirkungen auf das Bild von Mädchen türkischer Herkunft (zur Kritik s. Nestvogel 1992).
Verhängnisvoll wirkt sich der Sachverhalt aus, daß das Bild von Mädchen türkischer Herkunft (und islamischer Religion), das die Alltagsdeutungen bestimmt und das durch Massenmedien und Trivialliteratur gestützt wird, auch durch einen erheblichen Teil älterer und neuerer wissenschaftlicher Veröffentlichungen nicht oder nicht hinreichend korrigiert wird. Trotz der mittlerweile zahlreicheren Literatur, die sich kritisch mit der Rezeption des Bildes orientalischer bzw. islamischer Frauen auseinandersetzt (z. B. Lutz 1989), trotz diffe
renzierender empirischer Untersuchungen zu Frauen in der Türkei (z. B. Neusei / Tekeli / Akkent 1991) oder zu türkischen Frauen und Mädchen türkischer Herkunft in Deutschland (z. B. Schmidt-Koddenberg 1989; Hahn 1991), trotz der Arbeiten, die zu einer Korrektur des Verhältnisses zwischen deutschen (Sozial-)Pädagoginnen und ausländischen „Betreuten“
aufrufen (Lutz 1991), gibt es eine erhebliche Zahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, auch und gerade Dissertationen von deutschen Frauen über türkische Frauen und Mäd
chen (z. B. König 1989), die den Alltagsdeutungen und den Aussagen in den Medien Unter
stützung bieten. Es sind deutsche Wissenschaftlerinnen, die zur Stereotypisierung von tür
kischen Frauen und Mädchen türkischer Herkunft beitragen. Nicht zufällig wird von ande
ren deutschen Wissenschaftlerinnen eine Auseinandersetzung mit dem Ethnozentrismus im feministischen Denken gefordert (s. Nestvogel 1994).
Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die Islam und Türkei sowie Islam und Rück
ständigkeit gleichsetzen, sind zahlreicher und vor allem in der Wirkung nachhaltiger als jene, die zur Differenzierung aufrufen. Sie bestätigen das Bild, das durch die Alltags
deutungen, die Medien und die Trivialliteratur schon in uns produziert wurde und das mittlerweile eine enorme Beharrungskraft entwickelt hat. Einer der Gründe für die Annah
me dieses Bildes, für die Beharrlichkeit, mit der Informationen, die diesem Stereotyp ent
sprechen, aufgenommen und für die Konsequenz, mit der dem Bild widersprechende Sachverhalte ignoriert werden, liegt darin, daß die Stereotypen auf einem in den wesüi- chen Industrieländern unhinterfragten Grundverständnis basieren, nämlich auf der Kon
struktion des Gegensatzes zwischen Christentum und Islam, zwischen orientalischem und okzidentalischem, zwischen traditionellem und (post)modernem Denken.
Konsequenzen
Die Definition der Mädchen türkischer Herkunft als Außenseiterinnen hat Bedeutung für viele Bereiche ihres Lebens in Deutschland. Ihnen wird der Zugang zu Ressourcen ver
wehrt, sie müssen sich ständig gegen Fremdbilder wehren, wenn sie Chancen erhalten oder wahren wollen. Der Prozeß der Definition als Außenseiterinnen muß auf dem Hintergrund der Machtstruktur in unserer Gesellschaft gesehen werden, in der Deutsche meistens dieje
nigen sind, die über Ressourcen verfügen (als Ausbilder, Arbeitgeber, Vermieter) und die Fremden stets diejenigen, die um Ressourcen nachfragen und denen Zugänge zu knappen Gütern verweigert werden können und auch werden, wenn sie sich nicht den Kriterien, die die Herrschenden festlegen, unterwerfen. Mädchen türkischer Herkunft haben allein des
wegen reduzierte Lebensmöglichkeiten und soziale Chancen, weil sie als Außenseiterin
nen definiert werden, gleich wie sie im einzelnen auch denken und fühlen mögen oder wie sie sich verhalten. Diese Aussage soll am Beispiel des Berufswahlprozesses untermau
ert werden.
Arbeitgeber und Ausbilder haben sich ein Bild von Mädchen türkischer Herkunft ge
macht, das zwar teilweise den besonderen Bedingungen, unter denen diese leben, ent
spricht (z. B. der sozialen Kontrolle), teilweise aber unzulässig verallgemeinert. Häufig sind sie deshalb nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen bereit, Mädchen türkischer Herkunft einzustellen, weil sie Schwierigkeiten befürchten und sich diesem Risiko nicht ohne Grund aussetzen wollen. Mädchen türkischer Herkunft, die trotz Zusage eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle nicht antreten dürfen, die z. B. wegen einer Eheschließung die Ausbildung abbrechen, verstärken das Bild von der vom Vater und vom Ehemann ab
hängigen Frau. Solche Ereignisse werden verallgemeinert und mindern zusätzlich die Be
reitschaft, Mädchen türkischer Herkunft einzustellen. Bewerberinnen werden ohne Berück
sichtigung ihrer individuellen Qualifikation und Lebensbedingungen abgelehnt. In verstärk
tem Maße gilt dies für Mädchen türkischer Herkunft, die Kopftücher tragen. Für diese ist eine Vermittlung in Ausbildungsstellen nur unter besonderen Bedingungen möglich.
Es gibt (manchmal, häufig) Unterschiede zwischen Mädchen türkischer Herkunft und deutschen Mädchen, nicht alles sind Zuschreibungen. Nicht das Aufzeigen des Unterschie
des ist das Wichtige, sondern die Bewertung der Unterschiede. Gut oder richtig (bzw. vor
sichtiger ausgedrückt: funktional den Anforderungen der Industriegesellschaft) sind die Werte, Normen und Orientierungen der Majorität, schlecht, bemitleidenswert, dysfunktional die Vorstellungen der anderen, der Minderheiten. Darüber hinaus schreiben wir den ande
ren, hier den Mädchen türkischer Herkunft, Eigenschaften zu, die sie u. U. nicht oder nicht in dieser Form besitzen: wir stigmatisieren sie als Außenseiterinnen und halten es daher für legitim, ihnen Ausbildungs-, Berufs- und damit Lebenschancen vorzuenthalten, weil sie ja anders sind als deutsche Mädchen und junge Frauen, weil sie und ihre Eltern Interesse an einer qualifizierten Berufsausbildung haben und weil sie aufgrund ihrer besonderen Lebensbedingungen psychisch belastet sind. Die Eigenschaften und Einstellungen, die ih
nen zugeschrieben werden, werden als Grund für ihre Ablehnung und Aussonderung an
geführt.
Anmerkungen
1 Zu einer erweiterten Darstellung der hier vorgestellten Thesen s. Boos-Nünning 1994b
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