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Bericht über die Lebenslage der Einwanderer aus Anwerbeländern in Nordrhein-Westfalen

Im Dokument W M FS III 95 - 401 (Seite 94-104)

Dietrich Thränhardt

Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse

Seit Beginn der Anwerbung ist in der Öffentlichkeit und auch in wissenschaftlichen Ver­

öffentlichungen immer wieder von „Unterschichtung“ gesprochen worden, wenn es um die Einwanderer aus Anwerbeländern geht. Diese Vorstellung baut vielfach auf mißver­

ständlichen Parallelen zur Lage in den USA auf und fügt sich in den sozialpädagogischen Diskurs um „hilfsbedürftige“ Ausländer, die exotisierende Multikulturalismus-Diskussion und die Tendenz zur Ethnisierung sozialpolitischer Probleme.1

Unsere repräsentative Untersuchung der Lebenslage der Einwanderer aus der Türkei, Italien, Griechenland, Spanien und dem ehemaligen Jugoslawien2 erbringt das Ergebnis, daß eine derartige Charakterisierung die Situation nicht trifft. Eine generelle soziale Rand- ständigkeit der Einwanderungsbevölkerung ist nicht gegeben. Weder räumlich noch sekt­

oral ist Ghettobildung nachweisbar Vielmehr sind die Einwanderer eine hochproduktive Gruppe, die wichtige Kernarbeitsplätze in der Industrie einnimmt, und deren Lebensbe­

dingungen in den meisten Bereichen denen der sozialversicherungspflichtigen Beschäf­

tigten und ihrer Familien entsprechen. Dies gilt insbesondere für die Einkommenssituation.

Damit hat sich das Tarifsystem bewährt, in dem die Ausländer von vornherein gleich be­

handelt worden sind. Hierzu gehört auch eine hohe Stabilität der Beschäftigungsverhältnisse, die bei den Spaniern der der Deutschen entspricht.

Starke Integrationstendenzen zeigt auch der Bereich der betrieblichen Vertretungen.

Dies ist besonders auch deshalb interessant, weil in bezug auf politische Rechte Deutsch­

land wenig Fortschritte gemacht hat. Obwohl ein exakter Vergleich zwischen der Zahl der Betriebsräte und der der Ausländer aus methodischen Gründen nicht möglich ist, zeigt auch die steigende Zahl der Betriebsräte mit ausländischer Staatsangehörigkeit die

Stabili-Tabelle 1: Dauer der Betriebszugehörigkeit nach nach Nationalität

Gesamt Spanien Italien ehern. Griechen- Türkei Ju go - land

slawien

B eschäftigungsdauer

0 bis 2 Jahre 19,4 12,8 15,6 18,7 18,7 22,2

3 bis 6 Jahre 32,7 29,7 37,9 29,6 32,6 32,3

7 bis 10 Jahre 16,4 21,0 16,1 14,9 16,3 16,9

11 bis 15 Jahre 13,9 15,3 10,3 14,5 11,8 15,5

16 bis 20 Jahre 11,4 12,1 9,0 15,3 11,0 10,7

ü b e r2 0 Jahre 4,1 6,7 8,0 4,1 6,3 1,7

Keine Angabe 2,0 2,3 3,1 3,2 3,2 0,7

Mittelwert (0 ) 8,1 9,5 8,4 8,7 8,4 7,5

Quelle: Marplan-Befragung 1992

Tabelle 2: Dauer der Betriebszugehörigkeit nach Deutschkenntnissen, Erwerbsstatus und Alter

Deutschkenntnisse perfekt gut ausrei­

chend/

wenig

Erweibsstatus Alter

selb- Arbeit- bis 25 26 bis 46 Jahre stän- nehmer Jahre 45 Jahre und

dig älter

Beschäftigungsdauer

Obis 2 Jahre 25,1 16,7 18,5 17,5 19,5 39,3 16,4 8,1

3 bis 6 Jahre 42,7 30,9 28,5 26,5 33,2 52,3 35,1 12,8

7 bis 10 Jahre 14,9 17,1 16,7 21,9 16,0 5,9 21,1 17,2

11 bis 15 Jahre 8,0 16,1 15,3 16,7 13,7 - 14,9 23,7

16 bis 20 Jahre 4,3 12,3 14,7 10,0 11,6 - 9,5 24,0

ü be r2 0 Jahre 3,2 5,4 3,5 5,7 4,0 - 1,0 12,6

Keine Angabe 1,8 1,5 2,7 1,7 2,1 2,5 2,1 1,7

Mittelwert (0) 6,2 8,9 8,5 8,9 8,1 3,2 7,7 12,8

Quelle: Marplan-Befragung 1992

Schaubild 1: Ausländer als Betriebsräte

Quelle: D G B Bundesvorstand 1993. B undesanstalt fü r Arbeit.

Raumbezug: Bundesgebiet

Intelligenz S yste m T ra n s fe r M ü n ste r 1993

Tabelle 3: Berufsstatus nach Herkunftsländern (in Prozent)

Türkei ehemaliges Jugoslawien

Italien Spanien Griechen­

land

Berufsstatus

Ungelernte Arbeiter 15 13 15 16 14

Angelernte Arbeiter 35 29 26 25 25

Angestellte 17 23 24 23 23

Facharbeiter/Handwerker 25 32 26 30 24

Selbständige 6 3 9 7 14

Quelle: Marplan 1993. Eigene Berechnungen. Raumbezug Bundesgebiet (West) Intelligenz System Transfer Münster

tat der Verankerung in den Betrieben. Im Gegensatz zu den siebziger Jahren kandidiert die große Mehrzahl der Ausländer auf DGB-Listen, im Zusammenhang damit ist auch die Mit­

gliedschaft in den Gewerkschaften etwa ebenso hoch wie bei vergleichbaren Deutschen und höher als beim Gesamtduichschnitt der deutschen Beschäftigten.

Wenig teilgenommen haben die Einwanderer allerdings am Wandel hin zu den Ange­

stellten- und Dienstleistungsberufen, der in den letzten Jahrzehnten vollzogen worden ist.

Insbesondere sind Ausländer kaum in Banken-, Versicherungs-, Staats- und Wohl­

fahrtsverbändeberufen vertreten, von Putz- und einfachen Service-Diensten abgesehen.

Während dieser Wandel bei den Deutschen vor allem intergenerational verläuft, geschieht dies bei den Angehörigen der „zweiten „ und „dritten“ Generation kaum. Sie nehm en ähn­

liche Arbeitsplätze ein wie die erste Generation und sind wegen des strukturellen Wandels der Wirtschaft dort in Zukunft unsicherer verankert als die Einwanderergeneration.

Vergleicht man die Daten zur Einwanderer-Bevölkerung mit denen der deutschen Bevölkerung, so findet man auch in anderen Lebensbereichen das Ergebnis, daß ihre Le­

benslage in etwa der der sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer entspricht. Für den Wohnbereich gilt dies mit einigen Abstrichen. Zwar lebt die große Mehrzahl der Einwande­

rer inzwischen in Wohnungen mit den üblichen Standards von den sanitären Einrichtun­

gen bis hin zum Telefon. Nur noch eine kleine Mindeiheit wohnt in Wohnheimen und Substandard-Altbauwohnungen. Die Wohnungsqualität hat sich über die letzten Jahre we­

sentlich verbessert, auch die Wohnungsgrößen haben sich angenähert. Kaum vollzogen worden ist aber der Schritt zum Eigenheim in Deutschland, den eine große Zahl der Deut­

schen vollzogen hat. Ein Teil der Einwanderer hat ihn aber unter großen materiellen Op­

fern im Herkunftsland zustandegebracht.

Bei den Gesundheitsdaten ergibt sich ein durchschnittliches Bild, wenn man sie mit der Gesamtbevölkerung vergleicht. Da die deutsche Bevölkerung aber einen großen Teil von Bürgern im Rentenalter umfaßt, ergäbe ein solcher Vergleich ein zu günstiges Bild. Der Lebensalter-Vergleich der Gesundheits-Indikatoren, den wir vornehmen, weist daraufhin, daß die Einwanderer nach Jahrzehnten harter Arbeit mit erheblichen G esundheits­

belastungen zu kämpfen haben. Dies ist offensichtlich bei Deutschen in entsprechenden Positionen ebenso und unteischeidet diese Schichten der Bevölkerung von Angehörigen der Dienstleistungsberufe, bei denen entsprechende körperliche Belastungen weit weni­

ger auftreten. Die hohen Anteile der Ausländer in gesundheitlich besonders belasteten Berufen weisen ebenfalls in diese Richtung. Auch hier hat es in den letzten Jahrzehnten

S c h a u b i l d 2 : 1980: Geburten nach Herkunft der Ellern Anteil der Kinder a u s ...

1991: Geburten nach Herkunft der Eltern Anteil der Kinder aus ...

sicherlich große Fortschritte gegeben - etwa im Hinblick auf den Arbeitsschutz. Industrie­

arbeit ist aber gleichwohl noch mit höheren Gesundheitsbelastungen verbunden.

Auch die Intermarriage-Raten sind gestiegen, insbesondere bei den Gruppen aus der EU. Wir haben dies nicht an den Heiraten gemessen, die zunehmend ein schlechterer Indi­

kator sind und sich auch schwer erfassen lassen, sondern an der Zahl der Geburten von Eltern unterschiedlicher Nationalität7

Wegen der polemischen Diskussion, die immer wieder in der Öffentlichkeit geführt wird, war es uns ein Anliegen, auch die Daten über die Kriminalitätsbelastung abzuklären.

Ein einfacher Vergleich mit der deutsdien Bevölkerung vermittelt hier ein zu negatives

Bild, und zwar aus den gleichen Gründen, die im Gesundheitssekür ein zu positives Bild ergeben: die Gruppe der Alten, die weniger gesund, aber auch wenig kriminalitätsauffällig ist, fehlt bei den Ausländern bisher noch weitgehend. Hinzu kommen weitere relevante Unterschiede, vor allem der Männer-Überhang und der niditabgrenzbare Anteil von nicht­

seßhaften ausländischen Tätern, etwa Touristen und Soldaten, die in den üblichen Be­

rechnungen unzulässigerweise auf die ausländisdie Wohnbevölkerung projeziert werden.

Wir können zahlenmäßig belegen, daß die seßhaften Ausländergruppen in Deutschland sich in der Kriminalitätsbelastung ähnlich verhalten wie die Bevölkerung mit deutscher Staatsangehörigkeit.

Soziale Benachteiligungen sind also überwiegend nicht ausländerspezifischer Natur und es ist mißverständlich, in dieser Beziehung Ausländer und Deutsche zu konfrontieren. Aus­

ländische Einwanderer gehören aber ohne Zweifel zu einem höheren Anteil Berufs- und Sozialgruppen an, die insgesamt gesellschaftlich benachteiligt sind. Trotz aller Fortschritte gilt dies auch heute noch für die Industriearbeiterschaft insgesamt. Der historische Mechanis­

mus, der diesen Zusammenhang verursacht hat, ist die spezielle Art und Weise der Anwer­

bung von Arbeitskräften für Arbeitsplätze, für die sich keine Deutschen fanden, im Gegen­

satz etwa zu dem amerikanischen System der Zulassung vor allem gut ausgebildeter Ein­

wanderer, die dann auch überdurchschnittliche Positionen einnehmen.

Im Vergleich zum Durchschnitt der Gesamtbevölkerung ist die Mehrheit der Ausländer ebenso wie die entsprechenden deutsdien Gruppen benachteiligt in ihren Eigenschaften als:

a) Arbeitnehmer vor allem in der Industrie, die insgesamt unterdurchschnittliche Einkommen haben. Auf die aktuellen Aspekte der Zweckentfremdung von Sozialbeiträgen für gesamtpolitische Ausgaben sei in diesem Zusammenhang verwiesen. Wichtig in dieser Beziehung ist vor allem auch das Risiko der Arbeitslo­

sigkeit. Sie ist deshalb bei Ausländern so hoch, weil sie nur zum größten 'feil in krisenanfälligen und konjunkturempfindlichen Industriearbeitsplätzen arbeiten und kaum in sicheren Staatspositionen und relativ sicheren privaten Dienst­

leistungsberufen besdiäftigt sind.

b) Ein besonderes Problem stellen Arbeitseinkommen unter der Geringfügigkeits­

grenze dar. Zwar ist angesichts der tendenziellen Irregularität und

Unüberprüfbarkeit in diesem Sektor (der uns auch eine genauere Analyse unmög­

lich gemacht hat) die Zugangsmöglichkeiten für Ausländer und besonders Auslän­

derinnen erleichtert. Es erfolgt aber eine Ausgrenzung aus dem System der sozia­

len Sicherung mit Folgen besonders für die Altersrenten. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang die starke Erhöhung der Grenzwerte, die in einem augen­

fälligen Gegensatz etwa zur Situation in den USA steht.

c) Bewohner besonders umweit- und verkehrsbelasteter Straßen und Stadtteile.

Dieser Aspekt läßt sich nicht durch Einzeldaten belegen, ergibt sich aber aus dem Gesamtzusammenhang unserer Daten für die Wohn- und die Gesundheits­

situation.

d) Kinderreiche Familien mit durchschnittlichem oder unterdurchschnittlichem Einkommen. Unsere Einkommensdaten zeigen hier die extremste Abweichung der Pro-Kopf-Einkommen nach unten, die vielfach zu einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums führt. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und einiger Abgaben, die Kopfsteuer-Effekte haben, hat diese Benaditeiligung in den letzten Jahren noch verstärkt. Angesichts der unvollständigen Ausschöpfung familienpolitischer

Leistungen steht audi zu vermuten, daß die Komplizierung unseres familien­

politischen Ausgleichssystems in den letzten Jahren dazu geführt hat, daß gerade Einwandeierfamilien Leistungen wie das Eiziehungsgeld zum Teil nicht beantra­

gen.

All die bisher genannten Probleme sind keine ausländerspezifischen Benachteiligungen und können deshalb nicht durch ausländerspezifische Maßnahmen gelöst werden, son­

dern durch entsprechende Korrekturen in der allgemeinen Sozialpolitik, also etwa ein ein­

facheres und gerechteres Familienausgleichs-S^stem.

Neben diesen sozialstrukturellen Benachteiligungen, von denen Ausländer aufgrund unserer Einwanderungsgeschichte und -politik besonders betroffen sind, mußten wir Benachteiligungen konstatieren, die sich auf die Staatsangehörigkeit oder auch die Konfes­

sion beziehen. Dazu gehören insbesondere:

a) Der faktisch immer noch erschwerte Erwerb der deutschen Staatsanhörigkeit, angesichts der die Ausländer im demokratischen System politisch ausgegrenzt bleiben und der auch im übrigen Gesellschaftsleben ständig wirksame explizite oder implizite Mechanismen der Ausgrenzung schafft.

b) Dies wirkt sich besonders im mangelnden Zugang auch der in Deutschland Geborenen und Aufgewachsenen zu den Staatsberufen aus, die quantitativ und qualitativ wichtig sind und eine hohe Krisensicherheit aufweisen. Als eine wesentli­

ches Beispiel haben wir den Beruf des Polizisten genannt. Aber auch andere Verwaltungs- und Erziehungsberufe gehören in diesen Kontext. Neben dem mate­

riellen Aspekt ist hier auch ein wichtiges symbolisches Element enthalten: Staats­

berufe und insbesondere Hoheitsberufe verkörpern die Zugehörigkeit zum Staat, die Mitgliedschaft in der Nation und das Recht, für sie zu handeln.

c) Entsprechende Ausschließungsmechanismen existieren auch in staatsnahen Bereichen, die gerade in Nordrhein-Westfalen stark in kirchlicher und

wohlfahrtsverbandlicher Zuständigkeit liegen. Besonders relevant scheint uns in diesem Zusammenhang der Beruf der Kindergärtnerin, der zu den Berufen mit der geringsten Beteiligung von Ausländerinnen gehört.

d) Schließlich zeigen sich Diskriminierungstendenzen in der beruflichen Bildung allgemein. Nationalität wirkt ebenso wie Geschlecht als Zugangshüide zu qualifi­

zierteren Ausbildungsberufen im dualen System. Dadurch erfolgt eine Fortschrei­

bung der Berufszuordnung von der Elterngeneration bei Einwanderern auf die Kindergeneration, selbst wenn diese von ihrem Erscheinungsbild nicht als Auslän­

der erkennbar ist. Wenn der Arbeitsplatzabbau in der Industrie in den kommenden Jahren nicht wieder aufgeholt werden kann, droht sogar eine Sdilechterstellung.

Kumulierungseffekte ergeben sich bei jungen Frauen mit ausländischer Staatsange­

hörigkeit.

e) Ein besonders eklatanter Ausgrenzungsmechanismus ist bei den Kindergärten gegeben, wobei hier insbesondere auch die Konfession der Kinder wichtig ist. Von der Integrations- und Erziehungsaufgabe der Kindergärten her wäre eine Aufnah­

me der Kinder mit ausländisdier Staatsangehörigkeit besonders wichtig.

Handlungsperspektiven

Geht man von diesem differenzierten Gesamtbild und den im einzelnen im Text aufgezeig­

ten Mechanismen aus, so sind damit auch Handlungsmöglichkeiten des Staates gegeben, a) Aus der Tatsache der Zugehörigkeit der Mehrzahl der ausländischen Einwanderer

zur Arbeitnehmerschaft und insbesondere der Industriearbeiterschaft ergibt sich zunächst, daß Beschäftigungspolitik und Sozialpolitik generell einen zentralen Stellenwert für die Einwanderer haben. Insofern sind Vollbeschäftigungspolitik und ein geschlossenes System der sozialen Sicherung die wesentlichste Forderung auch für diese spezifische Gruppe. Insofern ist eine inklusive Beschäftigungs- und Sozialpolitik auch der wesentlichste Baustein einer guten Einwandererpolitik.

Schaubild 3: Beitragszeiten zur Rente in Jahren, Deutsche undAusländer im Vergleich

Quelle: VDR-Statistik, Band 102, Tab. 5.Off. Raumbezug: Bundesgebiet. Stand 31.12.1990 INTELLIGENZ SYSTEM TRANSFER MÜNSTER 1993

Schaubild 4: Beitragszeiten zur Rente in Jahren, Vergleich nach Altersstufen

2 5 -f*

2 0

1 5 cnca

cd

“ 1O

4 0 J a h r e 5 0 J a h r e 6 0 J a h r e 3 0 J a h r e

Q u e lle : V D R - S t a t i s t i k , B a n d 1 0 2 , T a b . 5 . Off.

R a u m b e z u g : B u n d e s g e b ie t . S t a n d 3 1 . 1 2 . 1 9 9 0 I N T E L L I G E N Z S Y S T E M T R A N S F E R M Ü N S T E R 1 9 9 3

Hinzugefügt werden soll allerdings, daß die traditionelle Alterslastigkeit der deut­

schen Sozialpolitik sidi bisher zuungunsten der Einwanderer auswirkt. Sie haben viel in die Rentenversicherungen eingezahlt und im Kinder- und Jugendbereich kein Optimum bekommen. Die Erweiterung des Kindergartenangebots zunächst für alle Fünfjährigen und später für alle Kinder werden deswegen eine echte Verbesserung sein, ebenso wie eine allgemeine Aufstockung des Kindergeldes.

Trotz der offensichtlich heranrückenden Altersphase für die erste Anwerbege- neration ist zur Zeit die Kinderbetreuung und die wirtschaftliche Lage der jungen Familien noch ein wesentlicheres Problem als die Altersphase.

b) Ein ähnlich wichtiger inklusiver Effekt würde von einem allgemeinen Berufsbil­

dungs-Angebot für alle ausgehen, wie es in Modellprogrammen auch in struktur­

schwachen Kreisen Nordihein-Westfalens bereits verwirklicht worden ist. Ange­

sichts der Relevanz der Berufsausbildung und der Berufsidentifikation im deut­

schen Wirtschaftssystem wäre dies ein entscheidender Schritt zur Einbeziehung aller Jugendlidaen. Angesichts der Qualifikationsentwicklung weltweit und der internationalen Konkurrenz würden das Land bzw der Bund damit auch

wirtschaftspolitisch eine wichtige Weiche stellen. Auch neue EG-Förderprogramme weisen in diese Richtung.

c) Angesichts der weitgehenden Nichtrepräsentanz von Einwanderern im Staatssektor wäre eine spezielle Forderung in den Staats- und Wohlfahrtsberufen sehr relevant.

Die Beispiele Polizistin und Polizist und Erzieherin und Erzieher wurden schon erwähnt. Sie würden sich besonders für Modell-Ausbildungs-Programme eignen.

Ebenso gilt dies aber auch für andere Teile des öffentlichen Dienstes und der Wohlfahrtssysteme auf allen Ebenen.

d) In bezug auf den entscheidenden Stellenwert der Staatsangehörigkeit ist unser Befragungsergebnis relevant, daß die Mehiheit der Einwanderer, vor allem der jüngeren und der Nicht-EU-Einwanderer, sich dafür interessiert. Es kommt darauf an, die Einbürgerung in den nächsten Jahren in großem Maßstab möglich zu machen und administrativ zu organisieren.

Dies wird wesentlich erleichtert, wenn die entsprechenden Bundesgesetze geän­

dert werden, insbesondere im Hinblick auf doppelte Staatsangehörigkeit für die Anwerbe-Ausländer und die automatische Naturalisierung von Angehörigen der

„dritten Generation“ nach französischem Vorbild, wie es die Landesregierung seit langem vorgeschlagsn hat. Auch unter den geltenden Gesetzen könnte aber mehr an Einbürgerung erreicht werden als bisher. Eine Aufklärungskampagne unter Einbeziehung der Ämter und eine Beschleunigung der Verfahren wäre in dieser Beziehung wichtig. Hingewiesen sei dabei b eso n d er auf diejenigen Einwanderer, die nur die deutsche Staatsangehörigkeit anstreben - seien es Kurden, syrische Christen oder Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. Dies sind immeihin fünf Prozent aller Befragten.

e) Es ist nicht zu erwarten, daß Deutschland in den nächsten Jahrzehnten Anwerbeak­

tionen im Stil der sechziger Jahre durchführt. In einem offenen Europa ist aber noch mehr als bisher mit individuellen Wanderungsbewegungen zu rechnen, und zwar insbesondere aus Südost- und Osteuropa. Auch individuelle Wanderungen innerhalb der EG werden an Bedeutung zunehmen.

Staat und Gesellschaft werden sida noch stärker auf das Leben in einem Europa mit offenen Grenzen einstellen müssen. Dazu gehört eine stärkere Offenheit des Bildungssystems für die Bereicherung durch fremde Sprachen - auch dies durchaus im Interesse der Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Der Ausbau der sprachlichen Förderung in den Muttersprachen und im Deutschen in Kindergarten und Schule,

das Recht jedes Kindes auf Unterricht in der Muttersprache seiner Eltern (eine Mindestzahl in der entsprechenden Sprache vorausgesetzt) und die Öffnung für weitere Sprachen in der Sekundarstufe II wären empfehlenswerte Reaktionen auf diese Herausforderungen. Zwanglos ließen sich dadurch auch die bisher auftreten­

den Diskrepanzen zwischen gelehrter Staatssprache und gesprochenen Mutter­

sprachen lösen, wenn die Sprache der Eltern Kriterium würde.

Gesellschaft und Staat sind in einem langen und mühevollen Umdenkungsprozeß dabei, das Provisorium zu beenden und die ehemaligen „Gastarbeiter“ als Bürger zu akzeptieren. Sie werden in Zukunft von der Offenheit in Europa und der Welt herausgefoidert sein, die die Deutschen als Exporteure und Touristen so selbstver­

ständlich in Anspruch nehmen. Das wild die Bereitschaft erfordern, neue

Einwanderer auszuwählen, aufzunehmen und anzunehmen, wie es im Rheinland und in Westfalen in der Geschichte schon häufig und vielfältig geschehen ist.

Nordrhein-Westfalen im Ländervergleich

Nordrhein-Westfalen ist in den Lebenslage-Daten weithin mit dem Durchschnitt der alten Bundesländer vergleichbar und nimmt eine Mittelstellung ein. Dies ist angesichts der Grö­

ße des Landes und der Mischung von Dienstleistungsbereichen in der Rheinschiene, alt­

industriellen Gebieten im Ruhrgebiet und ländlichen Bereichen in raschem Wandel etwa im Münsterland keine Überraschung. Im übrigen hat die Landespolitik nur begrenzt Möglichkeiten, die wirtschaftliche Struktur zu beeinflussen.

Eine wesentliche Ausnahme ist allerdings die Schulausbildung, die den Kernbereich der Länderkompetenz bildet. Hier ist der Grad der ausländischen Schüler mit qualifiziertem

Schaubild 5: Anteil weiterführender Schulabschlüsse bei den ausländischen Schulabgängern 1992 in den alten Ländern

%T

BR HA NW NS HE Bund* BE* SH BW SL BA RP

Quelle: BMBW, Grund und Strukturdaten, 1993/1994, S. 78f. eigene Berechnungen

* einschließlich Berlin Ost

Abschluß (Fachoberschulreife oder höher) mehr als doppelt so hoch wie in Bayern, dem anderen großen Flächenland - ein Ergebnis des Ausbaus der Hauptschulen in Nordrhein- Westfalen und die Möglichkeit des Erwerbs der Fachoberschulreife dort im Gegensatz zur Separierung „nationaler“ Zweige in Bayern und einer Hauptschule als bildungspolitischer Sackgasse.

Die Untersuchung wurde vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster durchgeführt, die Datenverarbeitung vom Institut Intelligenz System Transfer Münster über­

nommen. Die Befragung wurde als Sammelbefragung für mehrere Auftraggeber vom Marplan-Institut durchgeführt.

Anmerkungen

1 Vgl. Jürgen Puskeppeleit/ Dietrich Thränhardt, Vom betreuten Ausländer zum gleichberechtigten Bürger. Perspektiven der Beratung und Sozialarbeit, der Selbst­

hilfe und Artikulation und der Organisation und Integration der eingewanderten Ausländer aus den Anwerbestaaten in der Bundesrepublik Deutschland, Freiburg 1990.

2 Dietrich Thränhardt u.a., Ausländerinnen und Ausländer in Nordrhein-Westfalen.

Die Lebenslage der Menschen aus den ehemaligen Anwerbeländern und die Handlungsmöglichkeiten der Politik. Landessozialbericht Bd. 6, Düsseldorf 1994, kostenfrei zu beziehen beim Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Referat S 5, Horionplatz 1, 40190 Düsseldorf, Fax 0211- 837 3194.

Liste der Autoren

Mathias Bös

J. W. Goethe-Universität

FB Gesellschaftswissenschaften

Abt. Arbeits- und Sozialforschung Godesberger Allee 149

Humboldt Universität zu Berlin c/o Lehrstuhl für Bevölkerungs­

wissenschaften

Prof. Dr. Dietrich Thränhardt Institut für Politikwissenschaft

Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Regensburgerstr. 104

90327 Nürnberg

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