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Zusammenfassung und Interpretation

Im Dokument Forschung & Entwicklung (Seite 92-96)

Item 8: Erzieherische Massnahmen bei Suchtmitteln und Erziehung allgemein In Item 8 geht es um den Konsum von Nikotin und Alkohol an Schulanlässen und

5.4.3 Zusammenfassung und Interpretation

Schülerinnen und Schüler zeigen eine pragmatische Einstellung zum Problemkreis der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrpersonen bei Fragen des Übertritts in ei-ne nächste Schule und bei Fragen der Leistung. Für sie entsteht mit der Trennung der Systeme ein Informationsdefizit, das nur über den Informationsaustausch zu überwin-den ist. In diesen beiüberwin-den Bereichen sehen sie eine Bring-Schuld der Schule. Auf der an-dern Seite steht die Bring-Schuld der Eltern. Sie wird bei Abweichungen der Kinder von der Norm, z. B. bei einer physischen und psychischen Krankheiten erwähnt (eine Stimme). Komplizierter wird der Sachverhalt im Umkreis des Begriffs Kommunikation.

Alle interviewten Jugendlichen misstrauen dem Begriff, sofern darunter Absprachen

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zwischen Eltern und Lehrpersonen gemeint sind. Sie heben die dienende Funktion von Absprachen hervor und schränken sie streng auf Schulisches ein. Gesprächen zu dritt (zwischen Lehrperson Eltern und Schülerinnen und Schülern) stimmen einzelne Schüle-rinnen und Schüler klar zu; dabei scheint der Aspekt des Wohlwollens und der Unter-stützung zentral zu sein. Nachträgliche Informationen an Jugendliche über Gespräche sind wenig ergiebig; die meisten Schülerinnen und Schüler erinnern sich nicht mehr an den Inhalt, obwohl er für sie wahrscheinlich relevant war.

Die befragten Schülerinnen und Schüler haben eine Tendenz zur Sachlichkeit, aber auch zur Vereinfachung. Das wichtigste Ziel der Gespräche zwischen Eltern und Lehr-personen ist die Informiertheit der Eltern und nicht etwa die gute Beziehung zwischen Lehrperson und Eltern. Die Sachlichkeit setzt sich fort in der Frage nach der Abgren-zung und Zuständigkeit in Fragen der Erziehung. Zur Lösung des Problems werden von einigen Jugendlichen die Kriterien Zeit und Ort genommen. Für schulische Bereiche ist die Schule, zu Hause sind die Eltern für die auftretenden Probleme zuständig. Die Ju-gendlichen reduzieren damit die Komplexität des Problems.

Unter dem Aspekt Aufbau eines Mesosystems Familie – Schule ist folgende Inter-pretation zulässig: Mit der zeitlichen und örtlichen Zuordnung von Erziehungsproble-men zu Lebensbereichen gelingt es Schülerinnen und Schülern, Rollenanforderungen in den beiden Lebensbereichen zu trennen. Die Trennung kann eine drohende Rollenkon-fusion und Orientierungslosigkeit verhindern, verhindert aber zugleich den Aufbau ei-nes Mesosystems. Betont man diesen Aspekt, so lautet die Schlussfolgerung: Schülerin-nen und Schüler leben in verschiedeSchülerin-nen Welten und vermeiden die Auseinandersetzung zwischen den beiden Welten. Sie bauen kein Mesosystem auf. Gegen diese These spre-chen Beobachtungen zu den Leistungsgespräspre-chen. Diese weisen eher darauf hin, dass sich Schülerinnen und Schüler über das Grenzgängertum in einer ambivalenten Situati-on befinden. Jugendliche besitzen einen Lern- und Entwicklungsstand, der im Vergleich zur älteren Generation eher tiefer ist. Sie wissen, dass sie die Förderung durch die Er-wachsenen und die Schule brauchen, streben aber in beiden Bereichen – in Schule und Familie - nach Eigenständigkeit und Autonomie. Diese Ambivalenz zeigt sich in den Leistungsgesprächen des Schülers Nick als Tendenz zur Sachlichkeit (Distanz) und an der mit der Sachlichkeit verbundenen Hoffnung auf Wohlwollen und Ermutigung durch die Erwachsenen (Abhängigkeit), und sie zeigt sich im Misstrauen der Jugendlichen ge-genüber der Zusammenarbeit von Eltern und Lehrpersonen (Schülerin S.: So ein wenig ist nicht tragisch, aber sonst..). (vgl. Kapitel 5.4.2.2.3).

Gespräche zu dritt bringen Jugendlichen neben Informationen möglicherweise auch persönlichen Gewinn. Sie tragen nämlich die Chance in sich, dass sie von Eltern und Lehrpersonen neu wahrgenommen und verstanden werden. Dies darum, weil Eltern in der Gesprächssituation zu dritt gehalten sind, in ihrem Kind den Schüler / die Schülerin und die Lehrpersonen im Jugendlichen das zu den Eltern gehörende Kind mit seiner be-sonderen Biografie zu sehen. Das Gespräch zu dritt hat auch Folgen für das Meso-system der Jugendlichen: Es bringt ‚Doppelrollen‘. Der Jugendliche ist in der Ge-sprächssituation vor den Eltern zugleich ein Schüler (und darum ein Schüler-Kind) und vor der Lehrperson zugleich ein Kind (ein Kind-Schüler). Als Folge der veränderten Aussensicht kann sich möglicherweise auch der Jugendliche neu sehen lernen, als je-mand, der in beiden Welten erfolgreich verwurzelt ist und mit beiden Umgang haben kann. Das kann eine wichtige Bestätigung sein. Auf der andern Seite können Doppelrol-len auch belasten, weil sie zu Missverständlich führen und vom Jugendlichen eine fle-xible Definition seiner selbst verlangen. Er muss etwa klar kommen mit der Frage, als was werde ich wahrgenommen und angesprochen und als was agiere ich? Aus den er-wähnten Gründen – so hat man den Eindruck – wünschen sich Jugendliche nur zeitlich

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beschränkte doppelte Verbindungen im Mesosystem. Eine weitreichende und/oder wenig definierte Partizipation von Eltern an der Schule kann zu einer Belastung der Ju-gendlichen werden und für den Aufbau eines Mesosystems hinderlich sein. Sie läuft dem Streben der Jugendlichen nach Emanzipation von den Eltern und nach Autonomie entgegen. Die klare Definition der elterlichen Partizipation ist auch aus einem andern Grund nötig: Versteht man unter Aufbau eines Mesosystems die Synthese von Erfah-rungen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, brauchen Jugendliche Klarheit in Bezug auf Rollen, Positionen und Ansprüche im jeweiligen Kontext. Denn die Synthese der Erfahrungen zu einem Mesosystem basiert auf der Wahrnehmung von unterscheidbaren Elementen aus zwei Lebensbereichen. Fehlt die klare Definition der elterlichen Partizi-pation, so verwischen sich die Grenzen für die Jugendlichen. Das kann zur Ambivalenz der Gefühle führen oder bestehende Ambivalenzen verstärken. Die positive Entwick-lung aber ist angewiesen auf gute Gefühle und zunehmende Verschiebung der Kräfte-verhältnisse zu Gunsten der Jugendlichen (vgl. Kapitel 5.4.1).

5.5 Fazit

Differenzen zwischen Schule und Familie bestehen und sind, wie die Diskussion in Kapitel 5 zeigt, strukturell und funktional gegeben. Die Schule hat eine universalisti-sche, affektiv neutrale Position, denn sie hat ihre Aufgaben mit einer grossen Zahl von Schülerinnen und Schülern als öffentliche Institution in staatlichem Auftrag nach dem Rechtsgleichheitsgebot zu erfüllen. Die Familie dagegen ist eher partikularistisch orien-tiert, geprägt von der intimen und emotionalen Beziehung zum Kind und der einmaligen Chance, verlässliche soziale Beziehungen zu erfahren und zu verwirklichen. In der Schülerbiographie entsteht eine komplexe Vernetzung der beiden Sozialisationsinstan-zen.

Aufgabenteilung und Verantwortlichkeiten haben sich im Zuge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse ausdifferenziert. Das ist aber nicht nur als Funktionsverlust der Familie gegenüber der Schule zu sehen. Es kann auch als Entlastung der Familie durch die Schule verstanden werden. Umgekehrt kann auch die Familie die Schule von dem entlasten, was sie aufgrund ihrer rollenbezogenen, organisatorischen Struktur nicht zu leisten vermag. „Die Familie wird zum Stützsystem der Schule und umgekehrt kann sich die Familie auf schulische Leistungen stützen“ (Kramer 2003, p. 338). Diese ideal-typische Situation der sich gegenseitig ergänzenden Sozialisationsinstanzen würde je-doch bedingen, dass beide Institutionen ihre Aufgaben und auch die jeweiligen Erwar-tungen tatsächlich ideal erfüllen bzw. erfüllen können. Das Verhältnis von Schule und Familie ist jedoch, vermutlich gerade aufgrund ihrer konstitutiven Differenz, span-nungsreicher geworden. Dazu tragen aus der Sicht der Familie Entwicklungen bei wie die gesteigerten Ansprüche an und die Riskanz von Bildungsverläufen, die hohen An-sprüche an Glück und individualisierte Lebenswerte und die Kindzentrierung (vgl.

ebd.). Sie können das Familienleben auch jenseits ökonomischer Probleme im Wohl-fahrtsstaat anstrengend und aufreibend machen. Auch die Schule unterliegt Entwicklun-gen, die es ihr ihrerseits schwieriger machen, ihre Aufgaben idealtypisch wahrzuneh-men. So tragen z. B. die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen und der Verlust des Bildungsmonopols dazu bei, dass die schulische Aufgabenerfüllung unter vermehrten Rechtfertigungsdruck gerät.

Für beide Sozialisationsinstanzen resultiert aus diesen Entwicklungen eine An-spruchssteigerung. Dazu gehört auch die Ausdifferenzierung von Erwartungen an die jeweils andere Instanz. Die hier dargestellten Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Akteure Eltern, Lehrpersonen und Schüler die Aufgabenverteilung und

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tungszuschreibung tatsächlich unterschiedlich sehen. Dies macht u. E. Klärungsbedarf deutlich, zumindest dort, wo sich im schulischen Alltag Schwierigkeiten manifestieren.

Neben der Anspruchssteigerung gegenüber beiden pädagogischen Instanzen ist auch damit zu rechnen, dass es einerseits Familien, andererseits Schulen bzw. Lehrper-sonen gibt, die ihre Aufgaben defizitär wahrnehmen. Sowohl Anspruchssteigerung wie auch mögliche defizitäre Aufgabenerfüllung tragen zu einem spannungsreichen Ver-hältnis von Schule und Familie bei.

Gesellschafts- und familienpolitisch stellt sich die Frage nach Unterstützung der Familie, damit sie über diejenigen Ressourcen verfügt, die das gewünschte Ausmass an Humanvermögen bereitzustellen erlauben. Dies kann – ökonomisch gesprochen - durchaus als Investition zur Minimierung externer Kosten durch unvorteilhafte Soziali-sationsmilieus gelesen werden.

Die pädagogische Diskussion scheint angesichts dieser Herausforderung für die Schule zwischen den Alternativen Expansions- und Reduktionsmodell zu oszillieren und fordert in reformpädagogischer Tradition die erziehende Quartierschule oder die Reduktion auf Unterricht. Studien zu Arbeitszeit und Belastung von Lehrpersonen wei-sen darauf hin, dass es nicht ratsam ist, den Lehrpersonen alleine die Bewältigung der Herausforderung zu überlassen. Aber: „Man kann sich aber eine Schule denken, in der Pädagogen arbeiten und nicht ‚nur’ Lehrer“ (Kraft 1999) : Als Ausweg könnte sich ein Differenzmodell erweisen, das die Ausdifferenzierung der Aufgaben unter neuen gesell-schaftlichen Bedingungen neu denkt und Schule zu einem Ort werden lässt, an dem un-terschiedliche Professionen bei Bedarf in Kooperation mit den Eltern zusammen wir-ken.

Die Differenzen können und müssen nicht negiert werden. Die Eltern-Lehrpersonen-Zusammenarbeit kann aber durch Klärung von Rollen und Erwartungen und durch die Vereinbarung von Kompetenzbereichen dazu beitragen, dass sich die bei-den Institutionen zumindest nicht gegenseitig belasten und im Idealfall gegenseitig un-terstützen. Das scheint auch im Sinne der Schülerinnen und Schülerinnen zu sein. Sie wünschen sich Klarheit der Funktionen, damit die ambivalente Situation des Grenzgän-gertums erleichtert wird. Für sie steht mit der Transparenz der Ansprüche, Rollen und Funktionen die gesunde Entwicklung auf dem Spiel.

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