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Disziplinprobleme und Unterrichtsstörungen

Im Dokument Forschung & Entwicklung (Seite 34-37)

3 Begriffe und Positionen

3.3 Schulqualität: Wichtigkeit von Elternmerkmalen

3.3.2 Disziplinprobleme und Unterrichtsstörungen

Wie eingeführt sollen neben den Schülerleistungen auch Unterrichtsstörungen the-matisiert werden, welche auf soziale Blockaden im Unterrichtsprozess hinweisen. Von Unterrichtsstörungen sind Disziplinprobleme zu unterscheiden. Disziplinprobleme be-zeichnen Verhaltensweisen, die Regeln der Schule oder der Lehrperson verletzen. Sie werden typischerweise von Lehrpersonen sanktioniert. Disziplinprobleme können von den Schülerinnen und Schülern intendiert sein oder aufgrund von fehlender Selbstkon-trolle der Schülerinnen und Schüler als impulsives Verhalten auftreten. Unterrichtsstö-rungen sind hingegen nicht in der Perspektive der Lehrperson definiert, sondern bilden Störungen in den Kommunikationsprozessen während des Unterrichts. Durch solche Störungen können Handlungen von Lehrpersonen und das Lernen von Schülerinnen und Schülern beeinträchtigt werden.

Obwohl Unterrichtsstörungen und Disziplinprobleme für Lehrpersonen – vor allem für Junglehrkräfte – eine grosse Belastung darstellen (Veenman 1984), sind sie erstaun-lich selten untersucht worden. Sie entstehen aus sozialen Konflikten im Kommunika-tionsprozess des Unterrichts. Dafür können einzelne sog. Problemschüler, Langeweile, Unzufriedenheit mit dem Lehrangebot/der Lehrperson Konflikte in der sozialen Klas-sendynamik oder eine Kombination dieser Gründe verantwortlich sein (vgl. Neu-enschwander 2003b). Es muss im Einzelfall untersucht werden, welche Gründe dafür den Ausschlag geben.

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Lehrkräfte betonen immer wieder die Bedeutung der Eltern beim Entstehen von Unterrichtsstörungen. Insbesondere wird beklagt, dass die Eltern ihre Erziehungspflich-ten unzureichend wahrnehmen, so dass die Kinder sich den Regeln der Schule nicht un-terwerfen können/wollen und damit der Unterrichtsverlauf beeinträchtigt werde (vgl.

Positionspapier des Lehrerverbands Schweiz LCH). Lehrpersonen attribuieren Störun-gen vor allem dann auf die Eltern, wenn sie die Disziplinprobleme nicht selber beseiti-gen können, wenn es zu Plabeseiti-gen, Gewalt, Vandalismus zwischen den Schülerinnen und Schülern kommt. Konsequenterweise versuchen Lehrpersonen mit solchen Attributi-onsmustern, Eltern verstärkt in den Unterricht einzubinden, ihnen Verantwortung für das Schülerverhalten im Unterricht zu übertragen. Beispielsweise informieren sie die Eltern in einem Kontaktheft wöchentlich über vorgefallene Schwierigkeiten im Unter-richt.

Uns sind keine Evaluationen solcher Massnahmen bekannt. In theoretischer Hin-sicht wird damit die Grenze Schule und Familie diffus, die Schule gibt Autonomie und Eigenständigkeit auf und lässt höhere Fremdbestimmung zu. Möglicherweise verleiteten die kontinuierliche Schulkritik und die eigene Hilflosigkeit die Lehrpersonen dazu, ei-nen Teil der Verantwortung über das Unterrichtsgeschehen den Eltern zu delegieren.

Dabei erklären sie Unterrichtsstörungen vor allem aus dem Verhalten von einzelnen Schülerinnen und Schülern und weisen der sozialen Dynamik im Unterricht geringere Bedeutung zu. Es dürfte aber lohnenswert sein, empirisch den Stellenwert der Eltern für das Entstehen von Disziplinproblemen zu untersuchen, um eine wissenschaftliche Grundlage bereitzustellen, ob solche Attributionsmuster berechtigt sind oder nicht.

3.4 Chancengleichheit

Eine vierte Debatte, auf die Bezug genommen wird, orientiert sich an der Chan-cengleichheit. Familien vermitteln Kindern sehr ungleiche Entwicklungs- und Bil-dungsvoraussetzungen (vgl. oben). Immer wieder wird vor allem aus sozialdemokrati-schen Kreisen von der Schule gefordert, dass sie diese Ungleichheiten beseitige und somit die beruflichen Chancen von Kindern nur aufgrund ihres individuellen Potenzials und ihrer Leistung und unabhängig von ihren familiären Ressourcen festgelegt werden.

Kritisch ist die Frage, mit welchen Mitteln und Ressourcen die Schule diese Forderung erfüllen soll. Oder auf die vorliegende Problemstellung bezogen formuliert: Erhöht die Eltern-Lehrer-Zusammenarbeit die Chancengleichheit oder reduziert sie diese? Oder wird die Chancengleichheit durch die Elternzusammenarbeit nicht berührt? Chancen-gleichheit setzt also UnChancen-gleichheit voraus, schafft aber notwendigerweise auch Un-gleichheit.

Der hohen Bedeutung der Eltern zur Erklärung von Schülerleistungen steht die Forde-rung nach sozialer Gleichheit gegenüber, wonach Kinder unabhängig von Schichtzuge-hörigkeit, Wohnort und Geschlecht gleiche Bildungschancen erhalten sollen (Ditton 1993). Schulen sollten demnach soziale Ungleichheit ausgleichen, so dass Kinder auf-grund ihres individuellen Potenzials, aber unabhängig von ihrer familiären Herkunft die gleichen schulischen und beruflichen Chancen erhalten. Es erstaunt nicht, dass Schulen diese hohe Forderung nicht wirklich umsetzen können. Bereits das individuelle Potenzi-al (Intelligenz, Persönlichkeit usw.) entwickelt sich in Interaktion mit dem soziPotenzi-alen Um-feld, das bei jedem Kind verschieden ist, wodurch Ungleichheit entsteht. Überdies bräuchten Kinder aus einem anregungsarmen Milieu mehr schulische Unterstützung als Kinder aus reichem Milieu (kompensatorische Schulung), so dass Chancengleichheit ungleiche Behandlung der Kinder bedeutet. Allerdings widerspricht ein solcher Begriff der Chancengleichheit der Selektion, wonach die Schule nicht alle Kinder gleich

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chen, sondern die Zugänge zu verschieden qualifizierten Anschlusslösungen verteilen soll. Die Schule dürfte demnach nur einige bildungsbenachteiligte Kinder kompensato-risch fördern und einige bildungsbevorzugte Kinder überdurchschnittlich wenig fördern.

Ein solcher Begriff der Chancengleichheit scheitert nicht nur an seiner Praktikabilität, sondern ist paradox (vgl. etwa Heid 1988). Die häufig praktizierte Variante, wonach die Schule alle Kinder unabhängig von ihrer familiären Herkunft gleich zu behandeln trach-tet, ist wohl konsensfähig, vermag aber soziale Ungleichheiten nicht oder nur begrenzt zu reduzieren.

Traditionell wurden vor allem Mädchen, Kindern mit Immigranten-Biografien so-wie Kindern auf dem Land schlechtere Chancen attestiert (vgl. ausführlich z. B. Ditton 1993). Bei Mädchen hat sich dies aber insofern geändert, als die schulischen Leistungen von Mädchen in den meisten Schulfächern und in allen Stufen besser als diejenigen der Knaben sind. Die Maturitätsquote unterscheidet sich neuerdings nicht mehr nach Ge-schlecht. Vom Ansteigen der Maturitätsquote konnten insbesondere die Mädchen profi-tieren. Dies im Unterschied zur deutschen Bildungsexpansion der 70er Jahre, welche die Chancengleichheit nicht substanziell verändern konnte. Einzig bei den höheren wissen-schaftlichen Abschlüssen (ab Doktorat) gibt es noch Geschlechtseffekte, wobei grosse Unterschiede zwischen den Fächern vorliegen. Immer mehr Frauen sind in den letzten Jahren in Kaderpositionen von Wirtschaftsunternehmen vorgerückt, so dass die Un-gleichheit sichtbar abgenommen hat. Bei den Migrantinnen und Migranten müssen zwei Gruppen unterschieden werden: Flüchtlinge haben weiterhin geringere Chancen für eine schulische Karriere und einen beruflichen Aufstieg. Daneben gibt es in der Folge der Globalisierung von Wirtschaft und Wissenschaft hoch ausgebildete Migranten in Ka-derpositionen, die vor allem aus westlichen Ländern stammen und die ihren Kindern in der Regel sehr gute Ausbildungen ermöglichen können. Es sind also vor allem die Migrantinnen und Migranten der Unterschicht, welche erhebliche Bildungsbenachteili-gungen aufweisen. Hingegen finden sich weiterhin trotz hoher Mobilität Bildungsbe-nachteiligungen der Landbevölkerung, da Kinder vom Land geringere Chancen für eine höhere Bildung aufweisen als Kinder aus der Stadt. Die geografische Distanz zwischen Wohnort und Schulort ist weiterhin ein Kriterium, eine höhere Bildung nicht in Betracht zu ziehen. Die Frage der Chancengleichheit wird im Hinblick auf Elternmitwirkung und Eltern-Lehrer-Zusammenarbeit virulent. Einerseits kann vermutet werden, dass bil-dungsbenachteiligte Eltern wie zum Beispiel Migranteneltern mit geringem Wissen über die schweizerische Schule von einer intensiven Zusammenarbeit profitieren könnten, weil sie damit zusätzliche schulbezogene Informationen erhalten, welche die anderen Eltern in der Regel bereits besitzen. Durch eine intensive Zusammenarbeit mit diesen Eltern könnte entsprechend die Chancengleichheit erhöht werden (Kompensationsthe-se). Umgekehrt kann die These formuliert werden, dass bildungsnahe Eltern, d.h. Eltern mit positiven eigenen Schulerfahrungen und erheblichen Kenntnissen über die Schule, von der Zusammenarbeit stärker profitieren als bildungsferne Eltern. Sie können ihre Interessen stärker einbringen und ihr Kind kann von den gewonnenen Informationen stärker profitieren als Kinder von bildungsfernen Eltern. Kritisch dürfte überdies die er-höhte Elternmitwirkung bei der Schülerbeurteilung sein, weil bildungsnahe Eltern ihre Erwartungen eher durchsetzen und Lehrpersonen eher bei der Leistungsbeurteilung be-einflussen können. Insofern verstärkt die Zusammenarbeit die Chancenungleichheit (Ungleichheitsthese).

Es kann das Fazit gezogen werden, dass die Eltern-Lehrer-Zusammenarbeit ein kri-tischer Prozess beim Entstehen von Bildungsbevorzugungen bzw. -benachteiligungen darstellt. In dieser Zusammenarbeit kommen familiäre Ungleichheiten direkt zum

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gen. Je stärker sich die Zusammenarbeit auf die Schülerleistungen auswirkt, desto kriti-scher wird ihre Gestaltung, um Chancenungleichheit nicht zu verstärken.

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