• Keine Ergebnisse gefunden

D. Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union

I. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den

3. Der heutige Status der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht

stets von den dem Gerichtshof vorgelegten konkreten Fallkonstellationen abhängig war und damit in Teilen immer noch bruchstückhaft ist.730 Dies würde sich ändern, sollte die Charta der Grundrechte nach vollständiger Ratifikation rechtsverbindlich werden.

4. Verhältnis der Unionsgrundrechte zum nationalen Grundrechtsschutz

Wesentlich für das Verständnis des gemeinschaftsrechtlichen im Verhältnis zu dem Grundrechtsschutz auf mitgliedstaatlicher Ebene ist die Einordnung (und der Gel-tungsgrund) der Grundrechte auf Gemeinschaftsebene als originäre Gemeinschafts-grundrechte. Der EuGH hat insoweit festgestellt, dass „[…] die Gültigkeit von Hand-lungen der Gemeinschaftsorgane nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt wer-den, und es kann daher die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Gel-tung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grund-rechte in ihrer Ausgestaltung durch die Verfassung dieses Staates oder die Struktur-prinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt.“735 Die direkte Überlagerung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes im Geltungsbereich des Gemein-schaftsrechts durch nationale Grundrechtsrechtsprechung hat der EuGH dement-sprechend klar zurückgewiesen, indem er formuliert: „Die Aufstellung besonderer, von der Gesetzgebung oder der Verfassungsordnung eines bestimmten Mitgliedstaa-tes abhängiger Beurteilungskriterien würde die materielle Einheit und die Wirksam-keit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen und hätte daher unausweichlich die Zerstörung der Einheit des Gemeinsamen Marktes und eine Gefährdung des Zu-sammenhalts der Gemeinschaft zur Folge.“736

Die so verstandene Unabhängigkeit des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtschut-zes von den Grundrechtsverbürgungen der Mitgliedstaaten hat nach teilweise vertre-tener Ansicht zur Folge, dass eine Anpassung des Grundrechtsschutzes in der Ge-meinschaft an einen, in den Rechtsordnungen einzelner Mitgliedstaaten möglicher-weise gewährleisteten, Maximalstandard nicht erfolgt.737 Vielmehr könne sich aus den Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts, namentlich aus Zielen und Struktur der Gemeinschaft, eine - von nationalen Standards abweichende - Ausgestaltung grundrechtlicher Gewährleistungen und deren Begrenzungen im Verhältnis zu den jeweiligen Gemeinschaftsinteressen ergeben.738 Im Gegensatz hierzu wird vorge-schlagen, unter Beachtung mitgliedstaatlicher Schutzniveaus stets den weitestge-henden Grundrechtsschutz zu ermitteln und diesen im Sinne eines

735 EuGH, Rs. 97-99/87 (Dow Chemical Iberica u.a./Kommission), Slg. 1989, 3181 (3191) Rdnr. 38.

736 EuGH, 13.Dezember 1979 (Liselotte Hauer/Land Rheinland-Pfalz), Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3744) Rdnr. 14.

737 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV, nach Art. 6 Rdnr. 49.

738 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV, nach Art. 6 Rdnr. 49.

dards auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts zur Geltung zu bringen. Diese Po-sition scheint auch teilweise von der Europäischen Kommission unterstützt worden zu sein.740 Der EuGH hat sich, soweit ersichtlich, nicht auf einen einheitlichen Prü-fungsmaßstab festgelegt, auch wenn seiner Rechtsprechung gelegentlich eine Ten-denz zur Orientierung an einem Maximalstandard entnommen werden kann.741 Die Rechtsprechung des EuGH ist - insoweit gemeinschaftsrechtsbezogen und eher er-gebnisorientiert - insgesamt darauf ausgerichtet, einen ausreichenden gemein-schaftsrechtlichen Grundrechtsschutz unter Berücksichtigung nationaler Grund-rechtsstandards und der EMRK zu gewährleisten.742 Gegen eine Ausrichtung an ei-nem fixierten (maximalen) Maßstab spricht allerdings schon, dass in Anbetracht der Vielzahl der verschiedenen mitgliedstaatlichen Grundrechtsverbürgungen und ihrer jeweiligen Unterschiede, Kollisionen und Konkurrenzen es kaum möglich erscheint, den jeweils „maximalen“ Grundrechtsschutz zu ermitteln.743 Dies gilt um so mehr, als durch die Berücksichtigung von speziellen Gemeinschaftsinteressen Grund-rechtseinschränkungen möglich werden („allgemeiner Gemeinschaftsvorbehalt“), die in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten wegen ihrer Begründung im Gemein-schaftsrecht keine Entsprechung finden und somit einem auf Basis mitgliedstaatli-chen Rechts ermittelten Maximalstandard entgegenlaufen.744 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Bedenken wird vorgeschlagen, eine Grundrechtsinterpretation zu wählen, die dem Grundrecht die stärkste Wirkung zuerkennt, ohne zugleich Struktur und Ziele der Gemeinschaft zu beeinträchtigen.745 Grundlage soll dabei eine „wer-tende Rechtsvergleichung“746 sein, wie sie auch von den Generalanwälten des Ge-richtshofes praktiziert wird.747

739 So im Ergebnis Pescatore, EuGRZ 1978, 441 (445).

740 Vergleiche hierzu den Hinweis bei Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499 (503) Fn. 40.

741 Kutscher, Der Schutz von Grundrechten im Recht der Europäischen Gemeinschaften, in: Kut-scher/Rogge/Matscher, Der Grundrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 35 (45f.);

Everling, Der Beitrag des Europäischen Gerichtshofs zur europäischen Grundrechtsgemeinschaft, in:

Stern, 40 Jahre Grundgesetz, S. 167 (169f.); Feger, DÖV 1987, 322 (329); Schwarze, EuGRZ 1983, 117 (123); Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499 (503).

742 Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EUV, Art. 6 Rdnr. 63.

743 Sasse, Der Schutz der Grundrechte in den Europäischen Gemeinschaften und seine Lücken, in:

Mosler/Bernhard/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 51 (58); Stadler, Die Berufsfreiheit in der Euro-päischen Gemeinschaft, S. 192.

744 Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 217; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 57.

745 Kutscher, Der Schutz von Grundrechten im Recht der Europäischen Gemeinschaften, in: Kut-scher/Rogge/Matscher, Der Grundrechtsschutz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 35 (46).

746 So z.B. schon Zweigert, RabelsZ 28, 601 (610f.); Stadler, Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, S. 196ff.

747 Vgl. hierzu Bleckmann, in: Bleckmann, Europarecht, § 8 Rdnr. 605 mit Hinweis auf zahlreiche Bei-spiele (Fn. 56).

Im Ergebnis kann der durch die Gemeinschaftsorgane zu verwirklichende Grund-rechtsschutz im Einzelfall dann in Umfang und Intensität über den auf nationaler E-bene hinausgehen oder auch dahinter zurückbleiben.748

5. Die Bewertung der Grundrechtsjudikatur des Europäischen Gerichtshofes

Teilweise wird die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH als seine „wichtigste präto-rische Leistung“ gewürdigt.749 Allerdings werden auf der anderen Seite auch Defizite der Grundrechtsprüfung des EuGH bemängelt. So wird insbesondere kritisiert, dass der Gerichtshof keine ausreichende Verhältnismäßigkeitsprüfung vornehme.750 Viel-mehr gewichte der EuGH nicht ausreichend die widerstreitenden Grundrechtspositi-onen und Gemeinschaftsinteressen, sondern übernehme weitgehend unkritisch die Argumentationslinien der Gemeinschaftsorgane bei gleichzeitiger Betonung der funk-tional-rechtlichen Grenzen seiner Rechtsprechungskompetenz.751 Zudem wird nega-tiv bewertet, dass der Gerichtshof bislang nicht ausreichend konkretisiert hat, welche Anforderungen an die Rechtsgrundlagen für Grundrechtseingriffe - ähnlich der Lehre vom Gesetzesvorbehalt - im einzelnen zu stellen sind.752 Gleichzeitig seien kaum Fälle aus der Rechtsprechung des EuGH bekannt, in denen dieser tatsächlich einmal einen Gemeinschaftsrechtsakt als grundrechtswidrig eingestuft und folglich aufgeho-ben habe.753 Dies vor allem deshalb, weil der Gerichtshof, systematisch wenig transparent, Grundrechtseinschränkungen regelmäßig mit dem Hinweis darauf, dass

„diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zwecken der Ge-meinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unver-hältnismäßigen Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in seinem We-sensgehalt antastet“ rechtfertige.754 Da der Gerichtshof gleichzeitig den Gemein-schaftsorganen ein weites Ermessen bei der Bestimmung der Gemeinwohlziele der Gemeinschaft zubillige, sei im Ergebnis der Grundrechtsschutz durch den EuGH nicht wegen der mangelnden Anerkennung einzelner Grundrechte, sondern vielmehr

748 Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 58; Pernice/Mayer, in:

Grabitz/Hilf, EUV, nach Art. 6 Rdnr. 49.

749 Heintzen, EuR 1997, 1 (9); vergleiche auch Hirsch, NJW 2000, 1817 (1820).

750 Ritgen, ZRP 2000, 371 (372).

751 Ritgen, ZRP 2000, 371 (372); Nettesheim, EuZW 1995, 106 (107).

752 Ritgen, ZRP 2000, 371 (374).

753 Kenntner, ZRP 2000, 423 (424).

754 Kenntner, ZRP 2000, 423 (424); vergleiche auch Storr, Der Staat 1997, 547 (560).

wegen der zu weit reichenden Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen bislang zu wenig effektiv.755

Dabei wird als besonders problematisch verstanden, dass für alle Grundrechte des Gemeinschaftsrechts ohne Unterschied dieselben Schranken und Schranken-Schranken gelten sollen, wodurch die Wirkungskraft der Grundrechtsverbürgungen deutlich eingeschränkt werde.756 Zudem wird angemerkt, dass der richterrechtlich entwickelte Grundrechtsschutz des EuGH nicht allgemein klären könne, welche Grundrechte insgesamt zu dem Bestand der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts gehörten, zumal der EuGH hierzu auf Feldern, die mangels wirtschaftlicher Relevanz nicht zum Gegenstand seiner Rechtsprechung werden, bis-lang noch nicht entschieden hat (so etwa im Bereich der Kunst, Wissenschaft, For-schung und Lehre).757

Aber auch dort, wo das Gemeinschaftsrecht Grundrechte anerkennt, werden oftmals die Schutzbereiche als nicht klar genug definiert und abgegrenzt empfunden.758 So bleibe im Ergebnis die praktische Wirksamkeit der Grundrechte im Gemeinschafts-recht hinter dem Status ihrer formalen Anerkennung zurück.759 Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil der Gerichtshof die Grundrechte bislang beinahe ausschließlich als Abwehrrechte begreift, ihre Dimension als Teilhaberechte aber nicht zur Geltung bringt.760

II. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum allgemeinen