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C. Das akzessorische Diskriminierungsverbot in der Europäischen

II. Voraussetzungen eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot

3. Rechtfertigung der Differenzierung

maßgeblichen Grundsätze, die in den Mitgliedstaaten für die Beurteilung dieser Fra-ge entwickelt wurden.654

Prinzipiell sind im Rahmen der Prüfung einer sachlichen Rechtfertigung folgende Ü-berlegungen anzustellen:

a. Beurteilungsspielraum der Mitgliedsstaaten

Als Vorfrage der Prüfung, inwieweit eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung vor-liegt, ist zunächst zu klären, welche rechtlichen und tatsächlichen Besonderheiten in dem Mitgliedsstaat bestehen, dem eine unter Umständen diskriminierenden Maß-nahme zur Last gelegt wird.655 Diese Besonderheiten sind im Sinne eines staatlichen Beurteilungsspielraumes zu berücksichtigen.656 Ein staatlicher Beurteilungsspielraum kann sich daneben aber auch daraus ergeben, dass im Bezug auf einen bestimmten Regelungsgegenstand keine gemeinsame Praxis in den Mitgliedstaaten festzustellen ist.657

Mit der prinzipiellen Beachtung eines staatlichen Beurteilungsspielraumes soll si-chergestellt werden, dass die staatliche Souveränität durch den EGMR nicht unzu-lässig angetastet wird.658 Die Kontrolle des EGMR im Bezug auf den staatlichen Er-messensspielraum ist mithin auf die Prüfung beschränkt, ob die zu beurteilenden Maßnahmen den grundsätzlichen Anforderungen der EMRK entsprechen.659

654 Peukert, in: Frohwein/Peukert, EMRK, Art. 14 Rdnr. 22.

655 Peukert, in: Frohwein/Peukert, EMRK, Art. 14 Rdnr. 22.

656 Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3III 1 Rdnr. 70;

Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 14 Rdnr. 9.

657 Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 14 Rdnr. 9; Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechts-konvention, S. 217.

658 Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 217; König/Peters, in:

Grothe/Marauhn, EMRK/GG, Kapitel 21 Rdnr. 195.

659 Peukert, in: Frohwein/Peukert, EMRK, Art. 14 Rdnr. 22; siehe etwa EGMR, Urteil vom 30. Septem-ber 2003, Koua Poirrez v. France, RJD 2003-X, 45 (89) Ziff. 46: „Moreover the Contracting States enjoy a certain margin of appreciation in assessing whether and to what extent differences in other-wise similar situations justify a different treatment […].”

b. Legitimer Zweck der Maßnahme

Die zu beurteilende staatliche Maßnahme muss ein berechtigtes Ziel, einen legitimen Zweck verfolgen.660 Die unterschiedliche Behandlung muss mithin einem öffentlichen Interesse entsprechen (legitimate aim).661

Als legitime Ziele anerkannt sind unter anderem der Jugendschutz, Terrorismusbe-kämpfung und der Schutz der Familie.662

c. Angemessenes Verhältnis zwischen eingesetztem Mittel und angestrebtem Zweck

Die unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte kann zudem nur dann gerechtfertigt sein, wenn ein angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem damit erstrebten Ziel besteht.663 Insofern wendet der EGMR bei der Prüfung eines Gleichheitsverstoßes das Verhältnismäßigkeitsprinzip an, 664 wobei er nicht durchgängig immer Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne prüft, sondern sich häufiger auf die Prüfung einer objektiven und ver-nünftigen Rechtfertigung beschränkt. 665

In der Rechtssache Hoffmann gegen Österreich666 hat der EGMR eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gerügt.

660 Uerpmann-Wittzack, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3III 1 Rdnr. 70;

Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 14 Rdnr. 8.

661 Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 217; König/Peters, in:

Grothe/Marauhn, EMRK/GG, Kapitel 21 Rdnr. 175.

662 für weitere Beispiele vergleiche: Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 217 f. und König/Peters, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG, Kapitel 21 Rdnr. 175.

663 Peukert, in: Frohwein/Peukert, EMRK, Art. 14 Rdnr. 23; Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 14 Rdnr. 8.

664 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rdnr. 12ff.; Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 218.

665 König/Peters, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG, Kapitel 21 Rdnr. 177.

666 EGMR, EuGRZ 1996, 648ff.; vgl. in einem ähnlich gelagerten Fall (Homosexualität des Kindesva-ters als Grund für Sorgerechtsübertragung an die Kindesmutter), EGMR, Urteil vom 21. Dezember 1999, Salgueiro da Silva Mouta v. Portugal, RJD 1999-IX, 309 (328f.) Rdnr. 36: „The Court is therefore forced to find, in the light of the foregoing, that the Court of Appeal made a distinction based on con-siderations regarding the applicant´s sexual orientation, a distinction which is not acceptable under the Convention […]. The Court cannot therefore find hat a reasonable relationship of proportionality ex-isted between the means employed and the aim pursued; there has accordingly been a violation of Article 8 taken in conjunction with Article 14.”

Die Beschwerdeführerin ist geschiedene Mutter zweier Kinder. Sie ist zugleich Mit-glied der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Der österreichische OGH ü-bertrug das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder dem Vater - welcher der katholi-schen Kirche angehört - mit Hinweis auf die Mitgliedschaft der Mutter bei vorgenann-ter Religionsgemeinschaft. Darin sah die Beschwerdeführerin eine unzulässige Dis-kriminierung aufgrund ihrer Religion.

Der EGMR teilte diese Auffassung. Er führte hierzu aus, dass die Sicherstellung des Kindeswohles zwar ein legitimes Ziel der getroffenen gerichtlichen Entscheidung sei, eine Ungleichbehandlung alleine auf Grund der unterschiedlichen Religionszugehö-rigkeit der Eltern jedoch ein unzulässiges Mittel zur Erreichung des vorgenannten, für sich genommen billigenswerten Zieles darstelle. Insofern habe der österreichische OHG in seiner Entscheidung die Angemessenheit von Mittel und Zweck der getroffe-nen Regelung nicht hinreichend berücksichtigt. Die Entscheidung verletze mithin Art.

14 EMRK i. V. m. Art. 8 EMRK.

Insgesamt ist festzustellen, dass der EGMR hinsichtlich der Intensität der Verhält-nismäßigkeitsprüfung in Abhängigkeit von den maßgeblichen Differenzierungsgrün-den und Differenzierungsgrün-den UmstänDifferenzierungsgrün-den des jeweiligen Einzelfalles variiert.667 Dabei lässt der Ge-richtshof teils objektive oder vernünftige Gründe genügen, teils verlangt er besonders schwerwiegende Gründe, um eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.668 Auffal-lend ist, dass der EGMR besonders schwerwiegende Gründe für Ungleichbehand-lungen in Bereichen verlangt, die nahe an „suspekte“ Unterscheidungsmerkmale heranreichen, welche nicht durch die Betroffenen beeinflusst werden können. So stellt der Gerichtshof strenge Anforderungen an Differenzierungen, welche ihren Ur-sprung in der sexuellen Orientierung669, der Staatsangehörigkeit670 oder der Identität als eheliche oder uneheliche Kinder671 haben.672 Auch Differenzierungen nach dem

667 Gabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rdnr. 12.

668 Gabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rdnr. 12.

669 EGMR , Urteil vom 22. Oktober 1981, Dudgeon v. U.K., Serie A 45, 4 (21) Ziff. 52.

670 EGMR, Urteil vom 16. September 1996, Gaygusuz v. Austria, RJD 1996-IV, 1129 (1142f.) Ziff. 45, 50; Urteil vom 30. September 2003, Koua Poirrez v. France, RJD 2003-X, 46 (89) Ziff. 46: „However, very weighty reasons would have to be put forward before the Court could regard a difference of treatment based exclusively on the ground of nationality as compatible with the Convention.”

671 EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, Marckx v. Belgium, EuGRZ 1979, 454 (455) Ziff. 28ff; Urteil vom 24. Februar 1994, McMichael v. U.K., Serie A 307-B, 27 (57f.) Ziff. 94ff.

Geschlecht können besonders schwerwiegende Gründe oder sogar zwingende Gründe verlangen.673 Dies zeigt, dass die Frage der Differenzierungskriterien, an welchen die Ungleichbehandlung anknüpft und die Zuordnung, ob die Regelungsma-terie der gesellschaftlichen oder der höchstpersönlichen Sphäre der betroffenen Per-sonen zuzurechnen ist, auch nach der Vorstellung des EGMR maßgeblichen Einfluss auf die notwendige Prüfungsintensität haben. Der Gerichtshof begründet seine strik-tere Kontrolle in den genannten Bereichen zum einen mit einheitlichen europäischen Standards in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten oder mit Hinweis darauf, dass die Gleichstellung der Geschlechter, Homosexueller und nichtehelicher Kinder wichtige Ziele der Mitgliedstaaten des Europarates seien.674

Oftmals trennt der EGMR nicht deutlich zwischen der Feststellung eines legitimen Regelungszieles und der Verhältnismäßigkeit der konkreten Regelung. So stellt der Gerichtshof in der Rechtssache Thlimmenos v. Griechenland, in der es um die Beur-teilung der Frage ging, ob die Weigerung des Executive Board of the Greek Insitute on Chartered Accountants, den Kläger aufgrund einer Gefängnisstrafe, welche we-gen der religiös motivierten Weigerung, im Rahmen einer allgemeinen Mobilisierung der Streitkräfte eine militärische Uniform zu tragen, von einem Militärgericht verhängt worden war, als vereidigten Buchprüfer zuzulassen, rechtmäßig war, fest, dass der in Rede stehende Ausschluss von der Berufszulassung als vereidigtem Buchprüfer un-verhältnismäßig sei und daher kein legitimes Ziel verfolge.675

672 Vergleiche die Darstellung bei König/Peters, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG, Kapitel 21 Rdnr. 178f.

und Gabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rdnr. 13f.

673 EGMR, Urteil vom 24. Juni 1993, Schuler-Zgraggen v. Switzerland, Serie A 263, 4 (22) Ziff. 67;

Urteil vom 22. Februar 1992, Burghartz v. Switzerland, Serie A 280-B, 19 (29) Ziff. 27: „The Court reiterates that the advancement of the equality of the sexes is today a major goal in the member States of the Council of Europe; this means that very weighty reasons would have to be put forward before a difference of treatment on the sole ground of sex could be regarded as compatible with the Convention […]”; Urteil vom 21. Februar 1997, van Raate v. Netherlands, RJD 1997-I, 173 (187) Ziff.

42: „While Contracting States enjoy a certain margin of appreciation under the Convention as regards the introduction of exemptions to such contributory obligations, Article 14 requires that any such measure, in principle, applies even-handedly to both men and women unless compelling reasons have been adduced to justify a difference in treatment.”

674 vgl. König/Peters, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG, Kapitel 21 Rdnr. 179 m.w.N.

675 EGMR, Urteil vom 06. April 2000, Thlimmenos v. Greece, RJD 2000-IV, 263 (279f.) Ziff. 47: „In this circumstances, the Court considers that imposing a further sanction on the applicant was dispropor-tionate. It follows, that the applicant´s exclusion from the profession of chartered accountants did not pursue a legitimate aim. As a result, the Court finds that there existed no objective and reasonable justification for not treating the applicant differently from other persons convicted of a serious crime.”

d. Kumulatives Vorliegen von legitimem Zweck und angemessener Mittel-Zweck-Relationen

Beide vorgenannten Kriterien, die Feststellung eines legitimen Zwecks ebenso wie einer nachvollziehbaren Mittel-Zweck-Relation, müssen, um eine sachliche Rechtfer-tigung zu begründen, kumulativ vorliegen.676 Der EGMR hat dieses Erfordernis in der Weise formuliert, dass eine sachliche Rechtfertigung für eine unterschiedliche Be-handlung dann nicht besteht, wenn entweder die zu beurteilende Maßnahme keinem legitimen Ziel dient oder wenn eingesetztes Mittel und verfolgter Zweck nicht in ei-nem angemessenen Verhältnis stehen.677 Positiv ausgedrückt bedeutet dies, dass beide Voraussetzungen nebeneinander vorliegen müssen, da eine Rechtfertigung ausscheidet, wenn entweder das eine, oder das andere Rechtfertigungselement fehlt.678

e. Überschneidung von Vergleichsgruppenbildung und Rechtfertigungsprüfung

Teilweise unterscheidet der EGMR bei seiner Gleichheitskontrolle nicht trennscharf zwischen der Prüfung der Vergleichbarkeit der Sachverhalte und der Prüfung der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung. Grund hierfür ist, dass die Merkmale, die für die Entscheidung über die Vergleichbarkeit zweier Vergleichsgruppen maßgeblich sind, gleichzeitig häufig auch als mögliche Rechtfertigungsgründe für eine differen-zierende Behandlung in Betracht kommen können.679 So stellt der EGMR in seiner Entscheidung Strubbings u.a., in der es um die Möglichkeit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen sexueller Misshandlung unter dem Gesichtspunkt der Verjährung ging, fest: „The Court observes, first, that as between the applicants and victims of other forms of deliberate wrongdoing with different psychological after-effects, there was no disparity in treatment, because the same rules of limitation are applied to each group. Secondly, the victims of intentionally and negligently inflicted

676 Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 218.

677 EGMR, EuGRZ 2002, 242 Ziff. 88.

678 Vergleiche Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, S. 218; vgl. hierzu und zu der Gegenansicht auch König/Peters, in: Grothe/Marauhn, EMRK/GG, Kapitel 21 Rdnr. 171.

679 Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, § 26 Rdnr. 11.

harm cannot be said to be in analogous situations for the purposes of Article 14.”680 Hier zeigt sich, dass der EGMR bestimmte Merkmale einmal zur Verneinung einer Ungleichbehandlung und zugleich zur Begründung der Unvergleichbarkeit verschie-dener Personengruppen heranzieht, denn bestimmte Faktoren, welche für die Beur-teilung der Vergleichbarkeit zweier Sachverhalte maßgeblich sind, können zugleich als Rechtfertigungsgründe für eine Ungleichbehandlung in Betracht kommen.681