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B. Der allgemeine Gleichheitssatz in den Rechtsordnungen ausgewählter

V. Der allgemeine Gleichheitssatz in Großbritannien

6. Die Auslegung des Gleichheitssatzes in der englischen

Da im englischen Recht ein allgemeiner Gleichheitssatz nicht normiert ist, hat sich in der englischen Rechtsprechung auch keine einheitliche inhaltliche Bestimmung sei-ner Reichweite entwickelt.541

534 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 542.

535 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

146.

536 v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege in England, S. 82.

537 v. Loeper, Verwaltungsrechtspflege in England, S. 96ff.

538 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 542.

539 Vergleiche Section 6 Human Rights Act 1998.

540 Section 6 (3) (a) und (b) Human Rights Act 1998, vergleiche auch die Ausnahmeregelungen in section 6 (4) und (5).

541 Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union, S. 208.

Es lassen sich jedoch einige Grundlinien des Gleichheitsverständnisses aufzeigen.

Prinzipiell gilt auch im englischen Recht, dass Ungleichbehandlungen einer objekti-ven Rechtfertigung bedürfen.542

Dieser Frage jedoch vorgelagert ist zunächst die Feststellung, ob überhaupt eine re-levante Ungleichbehandlung vorliegt.543

Um dies festzustellen, versucht auch die englische Rechtsprechung, zunächst die Vergleichbarkeit der in Beziehung zu setzenden Sachverhalte zu ermitteln.

In einer Entscheidung aus dem Jahr 1996 (British Coal Corp. v. Smith and others)544, die sich mit der Verletzung des aus dem “Equal Pay Act 1970“ folgenden Gebot der gleichen Bezahlung von Männern und Frauen in vergleichbaren Beschäftigungen auseinandersetzt, hat das House of Lords festgestellt, dass für eine relevante Un-gleichbehandlung eine Vergleichbarkeit der Sachverhalte in den wesentlichen Grundzügen ausreichend ist.545 Eine weitestgehende Identität der in Beziehung zu setzen Vergleichsgruppen verlangt das House of Lords nicht.

Soweit eine relevante Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte festgestellt wird, stellt auch das englische Recht die Frage nach einer objektiven Rechtfertigung.

Das englische Recht erkennt Ungleichbehandlungen an, sofern ein objektives Gleichgewicht (objective balance) zwischen den Wirkungen einer ungleichen Be-handlung und den nachvollziehbaren, vernünftigen Bedürfnissen der jeweiligen Per-son festzustellen ist.546

542 Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union, S. 208.

543 Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union, S. 209.

544 British Coal Corp. v. Smith and others, (1996) 3 All ER, 97ff.

545 “For the purpose of determining whether men and women were to be treated as being in the ´same employment` within s 1(2) (c) of the 1970 Act, the words `common terms and conditions of employ-ment` in s 1(6) of the Act meant terms and conditions that were, on a broad basis, substantially com-parable rather than identical, since the object of the legislation was to establish that the terms and conditions of the relevant class were sufficiently similar for a fair comparison to be made (…)”; siehe für weiterführende Hinweise auch: Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union, S. 210f.

546 Hampson v. Dept. of Education and Science, (1990) 2 All ER, 25, 26: “In considering whether a condition was `justifiable` under s I (I) (b) of the 1976 act an objective balance had to be made

be-Die Frage, ab wann eine Ungleichbehandlung als gerechtfertigt anzusehen ist, wird, da im englischen Recht, wie eingangs dargestellt, eine einheitliche inhaltliche Formu-lierung des Gleichheitssatzes nicht besteht, unterschiedlich beantwortet.

Die Intensität der Anforderungen an eine Rechtfertigung erstreckt sich über eine Bandbreite, die sich von der Formulierung “to adduce adequate grounds for“ über die Beschreibung als „necessary“ oder „reasonably necessary in all the circumstances“

bis zu der Umschreibung „a lower standard than the word `necessary`“ reicht.547

Indem die englische Rechtsprechung ein objektives Gleichgewicht zwischen den Wirkungen einer diskriminierenden Behandlung und den in der spezifischen Situation der jeweiligen Person liegenden Gründen für die festgestellte Ungleichbehandlung fordert, berücksichtigt sie - wie in anderen europäischen Rechtsordnungen auch - ein so formuliertes Verhältnismäßigkeitskriterium im Rahmen der Gleichheitsprüfung.548

Eine gute Übersicht über die Voraussetzungen, welche nach englischem Verständnis vorliegen müssen, um eine objektive Rechtfertigung einer relevanten Ungleichbe-handlung feststellen zu können, findet sich bei Geoffrey Marshall:549

Eine Ungleichbehandlung kann danach dann gerechtfertigt sein, wenn diese mit der gesetzgeberisch verfolgten Zielsetzungen in einem irgendwie gearteten Zusammen-hang steht, die Ungleichbehandlung sich auf relevante, auf bestimmten Tatsachen begründete und verständliche Unterschiede zurückführen lässt, wenn der Gesetzes-zweck notwendig und die Differenzierung mit diesem erkennbar verbunden ist.550

tween the discriminatory effect of the condition and the reasonable needs of the person who applied the condition and, accordingly, a requirement or condition was justifiable under s I (I) (b) only if its discriminatory effect could be objectively justified by those needs.”

547 Vergleiche in sofern die ausführliche Darstellung der rechtlichen Umschreibung des Begriffes “justi-fiable“durch einzelne Mitglieder des House of Lords bei: Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union, S. 214 ff.

548 Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union, S. 208.

549 Marshall, Constitutional Theory, S. 143.

550 Marshall, Constitutional Theory, S. 143 nennt beispielhaft folgende Prüfungsstufen: „1. That be-tween classification and legislative objects there must be some nexus. 2. That classification must be based on an intelligible differentiation. 3. That classification must be based upon some real and sub-stantial distinction. 4. That classification must be relevant to the object of the legislation. 5. That classi-fication must be rationally related to the object. 6. That classiclassi-fication must be fairly related to the ob-ject. 7. That classification must not be capricious or invidious. 8. That classification must not be arbi-trary. 9. That classification must be reasonable. 10. That classification must be just.“

Insbesondere darf die Ungleichbehandlung nicht willkürlich sein, vielmehr muss sie als vernünftig und gerecht erscheinen.

Zu berücksichtigen ist aber auch hierbei, dass nach englischem Rechtverständnis dem Gesetzgeber im Blick auf die objektive Rechtfertigung einer Ungleichbehand-lung ein weiter, richterlicher Überprüfung entzogener, Ermessensspielraum zugebil-ligt wird.551

Eine gerichtliche Kontrolle von Entscheidungen oder Maßnahmen der Verwaltung kann sich insbesondere daraus ergeben, dass diese als unvernünftig oder irrational angesehen werden.552 „Unreasonableness“ liegt nach diesem Verständnis dann vor, wenn Verwaltungsentscheidungen zwar formal korrekt ergangen, jedoch ihrem Inhalt nach so unnachvollziehbar sind, dass keine „vernünftige“ Behörde eine solche Ent-scheidung treffen würde.553 Diese Regel dient als Auffangtatbestand für Fälle, die als grob ungerecht empfunden werden und nicht schon aus anderen Gründen für rechtswidrig erklärt werden können.554 Gegenstand der Prüfung ist dabei, ob sub-stantielle Gerechtigkeitsanforderungen durch die Verwaltung eingehalten wurden.555 Dabei haben sich drei Fallgruppen möglicher Fehlerhaftigkeit von Verwaltungsent-scheidungen herausgebildet:

1. logische Mängel der Entscheidung

2. Verstöße gegen die Regeln der guten Verwaltung (z.B. Vertrauensschutz des Bürgers u.ä.)

3. Verstöße gegen die Menschenrechte.556

Lord Russell nimmt in dem Fall Kruse v. Johnson557 dahingehend Stellung, dass Verwaltungsentscheidungen dann als „unreasonable“ anzusehen sind, wenn sie

551 Wahle, Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union, S. 220.

552 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

150.

553 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

150.

554 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

151.

555 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

151.

556 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

151.

„partial and unequal in their operation as between different classes“ sind oder „mani-festly unjust; if they disclosed bad faith; if they involved such oppressive or gratuitous interference with the rights of those subject to them as could find no justification in the minds of reasonable men“.

Diese Definition macht deutlich, dass mit dem Kontrollmaßstab der “reasonableness”

vielen Grundrechtsgewährleistungen im englischen Recht mittelbar Geltung ver-schafft wird, insbesondere auch dem allgemeinen Gleichheitssatz.558 Dies gilt umso mehr, als der Maßstab der Unvernunft eher auf dem Grundgedanken der Fairness abstellt als darauf, dass eine Entscheidung der Verwaltung tatsächlich vollends un-vernünftig oder sogar abwegig ist.559 Denn praktisch wird eine Verwaltungsentschei-dung kaum einmal wirklich vollends unvernünftig und unbegründbar sein.560 Daran wird deutlich, dass mit diesem Kontrollmaßstab unfaire oder ungerechte Entschei-dungen korrigiert werden sollen. Im Ergebnis ist der Kontrollmaßstab der „Unreaso-nableness“ damit eher durch Elemente einer grundrechtlichen Werteordnung geprägt als durch reine Vernunftserwägungen.561 Hier zeigt sich, dass die englische Recht-sprechung zwar die Ermessensspielräume der öffentlichen Gewalt respektiert und den Konsens der absoluten Parlamentssouveränität unangetastet lässt, zugleich je-doch den Betroffenen eine faire Ausübung öffentlicher Hoheitsbefugnisse zusichert und dabei auf Basis der gemeinsamen Rechtstraditionen weniger streng rechtliche Kriterien zur Anwendung bringt, sondern vielmehr gesellschaftliche Grundüberzeu-gungen widerspiegelnde allgemeine Vernunfts- und Gerechtigkeitsmaßstäbe.

557 QB 1898, Bd. 2, 91 (99f.).

558 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

152f.

559 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

153f. weißt in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Berufung auf die Unvernünftigkeit einer Entscheidung eher dazu dient, den Vorwurf gerichtlicher Zweckmäßigkeitsentscheidungen abzuweh-ren. Das Gericht setzt dann nicht seine Vorstellungen von Sachgerechtigkeit an die Stelle der Erwä-gungen der Verwaltung, sondern beruft sich auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit der Vernunft. Die Entscheidung der Verwaltung ist dann nicht aus subjektiven Erwägungen von dem Gericht als un-sachgemäß eingestuft worden, sondern weil sie allgemein nach den Gesetzmäßigkeiten der Vernunft als unsachgemäß einzustufen ist.

560 Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staatlicher Sonderbindungen, S.

154.

561 So die Schlussfolgerung von Gogos, Verselbständigte Verwaltungseinheiten als Adressaten staat-licher Sonderbindungen, S. 154 mit Verweis auf die Definition von Lord Diplock in dem Urteil

G.C.H.Q., AC 1985, 410: „It (sc. irrationality) applies to a decision which is so outrageous in its defi-ance of logic or of accepted moral standards that no sensible person who had applied his mind to the question to be decided could have arrived at it.”