• Keine Ergebnisse gefunden

D. Der allgemeine Gleichheitssatz in der Europäischen Union

II. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum allgemeinen

2. Die Herleitung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus den

Der allgemeine Gleichheitssatz wird vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen speziellen Gleichheitsverbürgungen in den Gemeinschaftsverträgen für den Bereich des Gemeinschaftsrechts - anders als die Freiheitsrechte - nicht aus den in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen hergeleitet.764 Vielmehr sieht der EuGH die verschiedenen besonderen Diskriminierungsverbote als spezifischen Aus-druck eines allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes.765 Insbesondere wird der

761 Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 55.

762 Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rdnr. 1.

763 Vergleiche insoweit die Feststellungen des Gerichtshofes in seiner Entscheidung vom 10. Februar 2000 (Deutsche Post), Verb. Rs. C-270/97 und C-271/97, Slg. 2000, I-929 (951) Rdnr. 56.

764 Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rdnr. 11, der dies jedoch für inkonsequent hält und vor dem Hintergrund, dass der allgemeine Gleichheitssatz in allen sungen der Mitgliedstaaten und Art. 14 EMRK gewährleistet werde, eine Ableitung aus den Verfas-sungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK befürwortet (vgl. § 18 Fn. 19); Odendahl, in:

Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 43 Rdnr. 9.

765 So etwa EuGH, 05. Oktober 1994 (Deutschland/Rat), Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5062) Rdnr.

67; siehe auch Zuleeg, Betrachtungen zum Gleichheitssatz im Europäischen Gemeinschaftsrecht, FS Börner 1992, S. 473 (475ff.), der sich mit den verschiedenen Rechtsquellen des allgemeinen Gleich-heitssatzes auseinandersetzt und im Ergebnis eine Entwicklung anhand von Ansatzpunkten in den Gründungsverträgen der Gemeinschaften befürwortet: „Damit erweist sich die Ableitung des

allgemei-ne Gleichheitssatz in - im Einzelallgemei-nen nicht klar definiertem - Zusammenhang mit dem besonderen Gleichheitssatz des Art. 34 Abs. 2 Satz 2 EGV (ehem. Art. 40 Abs. 3 Satz 2 EGV) entwickelt.766 „Nach ständiger Rechtsprechung ist das in dieser Vor-schrift [Anmerkung des Verfassers: Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag]

niedergelegte Diskriminierungsverbot nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, der zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört […].“767

Als weiteren Anknüpfungspunkt zur Herleitung des allgemeinen Gleichheitssatzes sieht der Gerichtshof Art. 7 EWGV, indem er ausführt: „Nach ständiger Rechtspre-chung des Gerichtshofes zählt der allgemeine Gleichheitssatz zu den Grundprinzi-pien des Gemeinschaftsrechts; das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stellt lediglich eine besondere Ausformung dieses Grundsatzes dar.“768

Die Anlehnung an die besonderen Gleichheitsgewährleistungen und Diskriminie-rungsverbote des Gemeinschaftsrechts zeigt sich auch sprachlich an der hieraus fol-genden schwankenden Terminologie des allgemeinen Gleichheitssatzes, welche von

„Allgemeiner Gleichheitssatz als Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts“769 über

„Diskriminierungsverbot“770, „Grundsatz der Gleichbehandlung aller Marktbürger“771 bis zur Gleichheit als Ausdruck einheitlicher Rechtsanwendung („unerlässliche ein-heitliche Anwendung der Gemeinschaftsregelung im gesamten Gemeinsamen

nen Gleichheitssatzes aus Anhaltspunkten im Gründungsvertrag als geeignet, den Schutz durch die-ses Grundrecht weit auszudehnen. Dieser Methode gebührt daher der Vorrang vor den anderen An-sätzen.“, ders., aaO. S. 477.

766 Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rdnr. 11; Kingreen, in:

Calliess/Ruffert, EUV, 2. Auflage, Art. 6 Rdnr. 170 Fn. 486; vgl. auch Sachs, in: Tettinger/Stern, Euro-päische Grundrechte-Charta, Art. 20 Rdnr. 7; Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV, 3. Auflage, Art. 20 GRCh Rdnr. 2 weist darauf hin, dass nicht immer eindeutig feststellbar sei, ob der EuGH den allge-meinen Gleichheitssatz aus den von Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen oder aus einer Generalisierung besonderer, im EGV enthaltener Gleichheitsrechte, insbesondere Art. 34 Abs. 2 UAbs. 2 EGV ableitet.

767 EuGH, 05. Oktober 1994 (Deutschland/Rat), Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5062) Rdnr. 67, ver-gleiche mit ähnlichem Wortlaut schon EuGH, 19. Oktober 1977 (Ruckdeschel/Hauptzollamt Hamburg-St. Annen), Verb. Rs. 117/76 und 16/77, Slg. 1977, 1753 (1770) Rdnr. 7.

768 EuGH, 16. Oktober 1980 (Hochstrass/Gerichtshof), Rs. 147/79, Slg. 1980, 3005 (3019) Rdnr. 7.

769 EuGH, 19.10.1977 (Ruckdeschel/Hauptzollamt Hamburg-St. Annen), Verb. RS. 117/76 und 16/77, Slg. 1977, 1753 (1770); 12.03.1987 (BALM/Raiffeisen), Rs. 215/85, Slg. 1987, 1279 (1300) Rdnr. 23;

19.11.1998 (SFI), Rs. 1998, 7447 (7471) Rdnr. 30.

770 EuGH, 13.07.1962 (Klöckner), verb. Rs. 17 und 20/61, Slg. 1962, 653 (692f.); 11.07.1974 (Mino-tiers de la Champagne), Rs. 11/74, Slg. 1974, 877 (886) Rdnr. 22/23 und GA Trabucchi, S. 891.

771 EuGH, 12.12.1973 (Grosoli), Rs. 131/73, Slg. 1973, 1555 (1566) Rdnr. 8.

Markt“) reicht. Diese Herleitung eines gemeinschaftsrechtlich verankerten all-gemeinen Gleichheitssatzes aus den speziellen Gleichheitsverbürgungen der Ge-meinschaftsverträge markiert einen wesentlichen Unterschied der Gleichheitsrecht-sprechung des EuGH gegenüber der Entwicklung anderer gemeinschaftsrechtlich anerkannter Grundrechte, zu deren Begründung der Gerichtshof auf die gemeinsa-men Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und insbesondere die EMRK zurückgreift, auf letztere vielleicht sogar vorrangig, da die Ermittlung eines gemein-samen Grundrechtsstandards in den Mitgliedstaaten im Einzelfall nicht immer einfach sein dürfte, die EMRK einen einheitlichen Normtext zur Verfügung stellt und alle Mit-gliedstaaten der EG die EMRK unterzeichnet und ratifiziert haben.774

Die von den übrigen Grundrechten abweichende Herleitung des allgemeinen Gleich-heitssatzes unter Rückgriff auf die besonderen Diskriminierungsverbote des Ge-meinschaftsrechts wird jedoch in der Literatur teilweise für inkonsequent und unnötig gehalten, da der allgemeine Gleichheitssatz in allen Verfassungen der Mitgliedstaa-ten und Art. 14 EMRK gewährleistet werde und somit ein ausnahmsweiser Rückriff auf andere Rechtserkenntnisquellen gar nicht notwendig und veranlasst sei, es also auch für den allgemeinen Gleichheitssatz bei einer Entwicklung anhand der Verfas-sungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK als den regelmäßig heran-gezogenen, „klassischen“ Rechtserkenntnisquellen verbleiben könne.775

Allerdings erscheint die von dem üblichen Begründungsschema des EuGH abwei-chende Vorgehensweise bei der Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen allge-meinen Gleichheitssatzes nicht ungewöhnlich, denn es liegt nahe, eher und zunächst auf die verfügbaren originären Rechtsquellen - die speziellen, überwiegend wirt-schaftsbezogenen Gleichheitsrechte der Gemeinschaftsverträge - zurückzugreifen anstatt sich an den ferner liegenden und nur mittelbar wirkenden Rechtserkenntnis-quellen der EMRK und der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu orien-tieren. Dies zeigt, dass diese Rechtserkenntnisquellen nur deshalb und nur dort

772 EuGH, 11. Februar 1971 (Fleischkontor/Hauptzollamt Hamburg), Rs. 39/70, Slg. 1971, 49 (58) Rdnr. 5; vergleiche auch 13. Dezember 1984 (Sermide/Cassa Conguaglio Zucchero), Slg. 1984, 4209 (4231) Rdnr. 28.

773 Vergleiche insoweit die zusammenfassende Darstellung bei Streinz, in: Streinz, EUV, Art. 20 GR-Charta Rdnr. 5; Penice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV, nach Art. 6 Rdnr. 163 m.w.N.

774 So die Einschätzung von Ehlers, in Ehlers: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 I 3 Rdnr. 9.

775 Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rdnr. 11.

durch den Gerichtshof herangezogen werden, wo er Anknüpfungspunkte im ge-schriebenen Gemeinschaftsrecht nicht vorfindet und sich daher zur Schließung der Lücken des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaft der genannten „externen“ Be-gründungsmaterien bedienen muss.

Der Einschätzung, diese Vorgehensweise sei im Vergleich zur Begründung anderer Grundrechte des Gemeinschaftsrechts inkonsequent, muss daher nicht gefolgt wer-den. Dies gilt um so mehr, als, wie dargestellt, in den Verfassungen der Mitgliedstaa-ten der allgemeine Gleichheitssatz als universelles Menschenrecht nicht flächende-ckend verankert und gewährleistet ist, sondern vielmehr Gleichheitsverbürgungen dort auch in der Form von Staatsbürgerrechten oder besonderen Diskriminierungs-verboten vorkommen und insbesondere in der EMRK ein allgemeiner Gleichheitssatz überhaupt nicht normiert ist.776

Vor diesem Hintergrund erscheint es, neben den zuvor bereits vorgebrachten Argu-menten, sogar eher konsequent, auf den besonderen Gleichheitsverbürgungen der Gemeinschaftsverträge als Rechtsquellen für die Entwicklung des allgemeinen Gleichheitssatzes aufzubauen als an eine derart „löchrige“ Basis der Verfassungs-überlieferungen der Mitgliedstaaten anzuknüpfen, denn immerhin ist aus diesen ein

„gefestigter Bestand“ an in den Mitgliedstaaten der Europäschen Union gewährleiste-ten Rechgewährleiste-ten zu ermitteln, um hieraus hinreichend legitimierte, ungeschriebene ge-meinschaftsrechtliche Rechtspositionen abzuleiten. Ob dies auf der Basis des ermit-telten gleichheitsrechtlichen Befundes ohne erhebliche Begründungsschwierigkeiten möglich wäre, darf bezweifelt werden, wenn man bedenkt, das der gemeinschafts-rechtliche Gleichheitssatz Gleichbehandlung universell als Menschenrecht gewähr-leistet und damit gerade über manche mitgliedstaatlichen Gleichheitsgewährleistun-gen hinausgeht. Eine Verstärkung mitgliedstaatlich ermittelter Grundrechtsstandards alleine durch originär gemeinschaftsrechtliche Rechtsfortbildung lässt sich jedoch auf der Basis gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen gerade nicht ohne Schwierig-keiten begründen.

Die in der Vielzahl besonderer Diskriminierungsverbote des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck kommende besondere Bedeutung gleichheitsrechtlicher Fragen für

776 Vergleiche die Nachweise oben bei B. VI. 2. und 3.; C. IV.

das Gemeinschaftsrecht macht deutlich, warum der nunmehr als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts anerkannte und zum gefestigten Rechts-bestand der Gemeinschaftsrechtsordnung zählende777 allgemeine Gleichheitssatz zu den von dem Gerichtshof am häufigsten herangezogenen Grundrechten gehört.778

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH zum allgemeinen Gleichheitssatz häufig auch Überschneidungen mit Ent-scheidungen zu speziellen Gleichheitsgewährleistungen des EGV aufweist und sich insofern häufig wechselnde Formulierungen finden, was sich jedoch aus der Herlei-tung des allgemeinen Gleichheitssatzes aus und am Beispiel der besonderen Gleichheitssätze des EGV erklärt und insoweit methodisch begründet ist.779 So er-klärt der EuGH in seiner Entscheidung in der Rechtssache 245/81 (Ede-ka/Deutschland) vom 15. Juli 1982 „Wie der Gerichtshof in seinen Urteilen vom […]

festgestellt hat, ist das in Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag ausge-sprochene Diskriminierungsverbot nur der spezifische Ausdruck des allgemeinen Gleichheitssatzes, der zu den Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts gehört.

Nach diesem Grundsatz dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich be-handelt werden, es sei denn, dass eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt wä-re.“780 Folgt man diesem Wortlaut („Nach diesem Grundsatz…“), so ist anzunehmen, dass der Gerichtshof im Folgenden den allgemeinen Gleichheitssatz prüft. Im Ergeb-nis stellt er jedoch fest: “Unter diesen Voraussetzungen und in Anbetracht der ge-nannten Umstände entspricht die Verordnung Nr. 1102/78 sowohl für das Jahr 1978 als auch für das Jahr 1979 den Erfordernissen des Marktes der Gemeinschaft, und die Differenzierung, die sie zwischen den betroffenen Ausfuhrländern und damit zwi-schen den aus diesen Ländern importierenden Marktteilnehmern vornimmt, ist als objektiv gerechtfertigt anzusehen. Das Vorbringen, es liege ein Verstoß gegen Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag vor, ist daher zurückzuweisen.“781

Offensichtlich hat der EuGH damit also doch das besondere Diskriminierungsverbot des Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag prüfen wollen, wohl als

777 Crones, Selbstbindungen der Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 57.

778 Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 70.

779 Streinz, in: Streinz, EUV, Art. 20 GR-Charta Rdnr. 5; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV, nach Art.

6 Rdnr. 163, 171.

780 EuGH, Urteil vom 15. Juli 1982 (Edeka/Deutschland), Rs. 245/81, Slg. 1982, 2745 (2754) Rdnr. 11.

781 EuGH, Urteil vom 15. Juli 1982 (Edeka/Deutschland), Rs. 245/81, Slg. 1982, 2745 (2756) Rdnr. 20.

dere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes. Diese undeutliche Formulie-rung hinsichtlich der Gleichheitsprüfung zeigt, dass der Gerichtshof nicht immer sau-ber zwischen Gleichheitssatz und besonderem Diskriminierungsverbot unterscheidet.

Dies verwundert allerdings umso mehr, als der Gerichtshof an anderer Stelle die An-wendungsvoraussetzungen einzelner Diskriminierungsverbote eng auslegt und dann in der Folge sehr genau zwischen Diskriminierungsverbot und allgemeinem Gleich-heitssatz unterscheidet, indem er die Grenzen der Schutzgewährung einzelner Dis-kriminierungsverbote sehr fein zieht und dann diesen als Alternative den allgemeinen Gleichheitssatz gegenüberstellt, was später noch näher gezeigt werden soll.

a. Rückgriff auf Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und EMRK zur Bestimmung der Reichweite gleichheitsrechtlicher Schutzstandards im Einzel-fall

Die Entwicklung des allgemeinen Gleichheitssatzes anhand der besonderen Diskri-minierungsverbote des Gemeinschaftsrechts bedeutet allerdings nicht, dass der EuGH in einzelnen Fällen, in denen gleichheitsrechtliche Fragen zu entscheiden sind, nicht auch die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und die EMRK zur Begründung seiner Entscheidungen heranzieht. Hier gewinnen diese Rechtser-kenntnisquellen, wenn schon nicht vorrangig für die Begründung des gemeinschafts-rechtlichen allgemeinen Gleichheitssatzes, so doch für die Rechtsprechung zur Be-antwortung einzelner gleichheitsbezogener Fragen Bedeutung.

aa. Der Fall Lisa Jacqueline Grant ./. South-West Trains Ltd

Beispielhaft hierfür ist etwa die Entscheidung des Gerichtshofes in der Rechtssache C-249/96 (Lisa Jacqueline Grant/South-West Trains Ltd) vom 17. Februar 1998. In diesem Fall wurde dem Gerichtshof unter anderem die Frage vorgelegt, ob es sich bei einer mit der sexuellen Orientierung von Angestellten begründeten Verweigerung andernfalls gewährter Vergünstigungen um eine Diskriminierung aufgrund des Ge-schlechts im Sinne des Art. 119 EGV a.F. handelt. Hintergrund war die Weigerung der South-West Trains Ltd. (SWT) als Arbeitgeberin, seiner Arbeitnehmerin Frau

Grant Fahrtvergünstigungen zu gewähren, welche die SWT ihren Mitarbeitern in be-stimmten Fällen einräumte. Hierzu hatte die SWT eine interne Regelung erlassen, welche vorsah, dass nicht getrennt lebende Ehepartner eines Angestellten und in einer mindestens zwei Jahre bestehenden nichtehelichen Lebensgemeinschaft („ernsthafte Beziehung“) mit dem Beschäftigten lebende andersgeschlechtliche Le-benspartner Fahrtvergünstigungen erhalten.

Frau Grant beantragte auf Grundlage dieser Bestimmungen eine Fahrtvergünstigung für ihre Lebenspartnerin. Sie SWT verweigerte daraufhin die Gewährung der Ver-günstigung, da den unternehmensinternen Bestimmungen nach nur Lebenspartnern anderen Geschlechtes eine Fahrtvergünstigung gewährt werden könne. Gegen diese Entscheidung erhob Frau Grant Klage vor dem Industrial Tribunal Southampton, wel-ches dem EuGH die eingangs dargestellte Frage zur Vorabentscheidung vorlegte.

Der Gerichtshof hat in dieser Sache zunächst festgestellt, dass, „Da die in der Rege-lung des Unternehmens aufgestellte Voraussetzung für die weiblichen wie für die männlichen Arbeitnehmer in gleicher Weise gilt, […] sie nicht als eine unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betrachtet werden [kann].“782

Sodann prüfte der EuGH, ob sich bei der Anwendung einer Regelung wie der in Re-de stehenRe-den in Re-den betriebsinternen Bestimmungen Re-der SWT Personen, die eine dauerhafte Beziehung mit einem gleichgeschlechtlichen Partner haben, in der glei-chen Situation befinden wie Verheiratete oder Personen, die eine feste Partnerschaft mit einem andersgeschlechtlichen Partner unterhalten. Insoweit machte Frau Grant geltend, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und das Recht der Gemein-schaft und weiterer internationaler Organisationen in dieser Frage immer häufiger eine Gleichstellung vorsähen.

Der Gerichtshof ging auf diesen Vortrag ein und stellte insoweit fest: „Was das Recht der Mitgliedstaaten angeht, so wird zwar in einigen dieser Staaten die Lebensge-meinschaft zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts der Ehe - wenn auch nur unvollständig - gleichgestellt; aber in den meisten Mitgliedstaaten wird sie den festen nichtehelichen heterosexuellen Beziehungen nur für eine begrenzte Zahl von

782 EuGH, NJW 1998, 969 (970) Rdnr. 28.

Ansprüchen gleichgestellt oder ist überhaupt nicht Gegenstand einer ausdrücklichen Anerkennung. Die Europäische Kommission für Menschenrechte hält daran fest, dass dauerhafte homosexuelle Beziehungen trotz der heutigen Entwicklung der Men-talitäten gegenüber der Homosexualität nicht unter das durch Art. 8 EMRK geschütz-te Recht auf Achtung des Familienlebens fallen […] und dass nationale Bestimmun-gen, die zum Schutz der Familie Verheirateten und solchen Personen verschiedenen Geschlechts, die wie Mann und Frau zusammenleben, eine günstigere Behandlung zuteil werden lassen als solchen Personen des gleichen Geschlechts, die dauerhafte Beziehungen unterhalten, nicht gegen Art. 14 EMRK verstoßen, der insbesondere die Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts verbietet […]. Demnach sind beim gegenwärtigen Stand des Rechts innerhalb der Gemeinschaft die festen Beziehun-gen zwischen zwei Personen des gleichen Geschlechts den BeziehunBeziehun-gen zwischen Verheirateten oder den festen nichtehelichen Beziehungen zwischen Personen ver-schiedenen Geschlechts nicht gleichgestellt.“783

Diese Begründung des EuGH zeigt, dass er auch bei der Beantwortung gleichheits-rechtlicher Fragestellungen auf den gemeinsamen Rechtsbestand innerhalb der Gruppe der Mitgliedstaaten und auf den gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung und Rechtsentwicklung durch den EGMR zurückgreift, um spezielle Fragen gleich-heitsrechtlicher Prägung anhand eines dergestalt ermittelten status quo der europäi-schen Rechtsentwicklung und in Ermangelung aussagekräftiger originär gemein-schaftsrechtlicher Normierungen oder Präjudizien zu beantworten. Entsprechend lässt sich eine Art Kooperationsverständnis des EuGH hinsichtlich der Behandlung gleichheitsrelevanter Fragestellungen beobachten. Soweit aus dem Gemeinschafts-recht selbst heraus eine Beantwortung oder die Entwicklung einer Gemeinschafts-rechtlichen Argu-mentation möglich ist, greift der Gerichtshof zunächst und vorrangig auf diese Rechtsmaterie zurück und verzichtet auf weiter greifende Untermauerungen anhand der mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen und des dortigen Rechtsbestandes. Soweit aber eine solche Vorgehensweise infolge fehlender gemeinschaftsrechtlicher An-knüpfungspunkte ausscheidet, wendet sich der EuGH in einer zweiten Stufe eben diesen mitgliedstaatlichen Rechtsquellen und der Rechtsprechung des EGMR und den Grundrechtsstandards der EMRK als Hilfsmaßstäben zu, um Fragen des ge-meinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes unter Zuhilfenahme dieser

783 EuGH, NJW 1998, 969 (970f.) Rdnr. 32ff.

nen“ Rechtsmaterien zu beantworten. So ist es zwar sicher richtig anzunehmen, der EuGH habe den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitssatz anhand der speziellen Gleichheitsgewährleistungen der Gemeinschaftsverträge entwickelt. Eine darüber hinausgehende Einengung alleine auf diese Rechtsquellen ist aber sicher nicht zu begründen. Vielmehr bedient der Gerichtshof sich auch im Bereich der Gleichheitsrechte der sonst von ihm nutzbar gemachten Rechtserkenntnisquellen und zieht diese zur Begründung seiner Entscheidungen heran. Im Ergebnis zeigt dies, dass die Rechtsprechung des EuGH zu den Gleichheitsrechten zwar sicher ei-ne Sonderrolle inei-nerhalb der Grundrechtsrechtsprechung einnimmt, welche sich aus der Vielzahl der im Gemeinschaftsrecht verankerten besonderen Gleichheitsgewähr-leistungen erklären lässt, ohne dass sich in Begründung und Herleitung eine strenge Bipolarität ergäbe. Vielmehr entwickelt der EuGH den allgemeinen Gleichheitssatz generell anhand der besonderen Gleichheitsrechte als dessen besonderer Aus-drucksformen784. Einzelne gleichheitsrechtliche Fragen löst er jedoch - wie gesehen - auch anhand der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK, nämlich dann, wenn die gemeinschaftsrechtlich positiv normierten sonderen Gleichheitsrechte keine befriedigende Antwort auf die konkrete Frage be-reit halten, etwa - wie gezeigt - auf die der Einordnung unterschiedlicher Behandlung gleich- und andersgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften.

3. Die Entwicklung des allgemeinen Gleichheitssatzes in der Rechtsprechung