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Zur Wahl und Gestaltung der Institutionalisierungs- form

im Kontext der Seniorenselbsthilfe

2 Institutionalisierung und konkrete Arbeit

2.2 Zur Wahl und Gestaltung der Institutionalisierungs- form

In soziologischer Perspektive lassen sich Seniorengenossenschaften zunächst als freiwillige Vereinigungen (vgl. zum Begriff Richter 1985;

Hoch 1992; 1992a) bestimmen. Sie genügen den fünf konstitutiven Kri-terien dieses Institutionentypus, wie sie von Horch (1988: 528ff.; 1992:

44ff.) herausgearbeitet werden. Das Merkmal der Vereinigung trifft zu, weil die Identität der Ziele der Organisation mit den Interessen der Mit-glieder durch die Ausprägung der vier weiteren Variablen gesichert ist, die diesen Institutionentyp konstituieren: dem Ausmaß der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, der Freiwilligenarbeit, der Demokratie und der Auto-nomie.

Das erste Kriterium baut darauf auf, daß Alternativen zur Mit-gliedschaft bestehen und kein Zwang zur MitMit-gliedschaft besteht. Vor diesem Hintergrund müssen freiwillige Vereinigungen in vergleichsweise hohem Maße auf direkte Anreize zurückgreifen, d.h. auf "Anreize, die mit ihren Zielen, ihrer Struktur, den Personen oder Gruppen verbunden sind" (Horch 1992: 46). Beim Kriterium der Freiwilligenarbeit stellt sich das Anreizproblem in noch gravierenderer Weise. Darauf wird noch

34 Die politischen Akteure der Umsetzungsphase waren weit von jenem herkömm-lichen Poitikverständnis entfernt, das - so schreiben Kaufmann/Rosewitz im Kontext der Policy-Forschung - "mit einer gewissen Selbstverständlichkeit da-von ausging, daß Politik die Ziele, die sie sich gesetzt hat, grundsätzlich auch zu erreichen vermöge, sofern nur die richtigen Maßnahmen ergriffen werden"

(Kaufmann/Rosewitz 1983: 32). Wie die Policy-Forschung auch gehen die Umsetzungsverantwortlichen deutlich von der Phasigkeit und Mehrstufigkeit des politischen Prozesses aus, von der Möglichkeit des Lernens der Beteiligten aus den Ergebnissen späterer Phasen durch Evaluation, von einem erheblichen Maß an Kontingenz zwischen den einzelnen Phasen dessen, was als politischer Prozeß verstanden wird.

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sondert einzugehen sein. Freiwillige Mitarbeit muß indes nicht zu den Mitgliedschaftsanforderungen gehören. Als Demokratie soll jenes Ver-fahren zur Erreichung verbindlicher Entscheidungen bezeichnet werden,

"das jedem Mitglied unabhängig von der Höhe seines Einsatzes die glei-chen Möglichkeiten zur Beteiligung an den Entscheidungsprozessen bie-tet" (Horch 1992: 46). Das Autonomiekriterium schließlich hebt darauf ab, daß die Organisation nicht von übergeordneten Institutionen kontrol-liert und beherrscht wird, sondern im wesentlichen selbstgesetzten Zie-len ihrer Mitglieder folgt. Dieses Kriterium bedeutet nicht zwangsläufig zugleich Autarkie in finanzieller Hinsicht. So sind bezüglich des Autono-miekriteriums gewisse Abstriche dadurch zu machen, daß die örtlichen Vereine in das übergeordnete Modellprogramm eingebunden sind und damit finanziell abhängig und inhaltlich zu einem gewissen Grad kontrol-liert werden. Ansonsten treffen die Kriterien auf die einzelnen Projekte zu.

Grundsätzlich gelten sie sowohl für Genossenschaften als auch für Vereine, deren Übereinstimmungen und Unterschiede im folgenden zu erörtern sind. Von den Vorgaben her ist eine Seniorengenossenschaft

"als eine Genossenschaft anzusehen, die sowohl dem Konzept der Dop-pelnatur als auch der Interpretation als System entspricht" (Mändle o.J.:

5). Analyse, normative Bestimmung und Wirkungsannahmen verschrän-ken sich in der weitergehenden Interpretation durch Hummel: "Senioren-genossenschaften bilden verbindliche, aber noch steuerbare und über-schaubare Organisationsformen. Sie halten Handlungsmotivationen der Älteren wach und aufrecht. Sie reduzieren die Komplexität unüber-schaubarer Hilfesysteme" (Hummel 1991a: 23).

Auf der Erscheinungsebene fällt zunächst auf, daß die baden-württem-bergischen Seniorengenossenschaften mehrheitlich zunächst das Rechtskleid des eingetragenen Vereins anstreben oder annehmen, zu-meist mit dem Ziel der Gemeinnützigkeit. Daß überhaupt eine institutio-nalisierte Form für die Verfolgung der Gruppenziele angestrebt wurde, war aufgrund der langfristig angelegten Zielsetzungen bei fast allen Initi-ativen keine Frage. Daß sie in der Regel so früh angestrebt wurde, un-terscheidet sie von vielen Selbsthilfeinitiativen. In der ursprünglichen Konzeption wurde zwar die eingetragene Genossenschaft als

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form favorisiert, die Seniorengenossenschaft wird aber zugleich allge-meiner beschrieben als "Versuch, bewährte Strukturen genossenschaft-licher Tradition mit neuen Elementen zu verknüpfen" (Arbeitsgruppe 1990: 5).

Schon in der Konzeption, bei deren Erarbeitung Anhänger der Genos-senschaftsidee eine gewichtige Position einnahmen, werden andere Rechtsformen in Betracht gezogen mit der Maßgabe, dann allerdings die Geschäftsgrundsätze der Mitgliederförderung und der demokrati-schen Selbstverwaltung in der Satzung festzuschreiben.35 Mändle be-schreibt in seinem Grundsatzpapier den Aspekt der Mitgliederförderung folgendermaßen: Sie "ist gegenüber den Genossenschaftsmitgliedern durch den Geschäftsbetrieb vorzunehmen. Sie wird grundsätzlich darin bestehen, daß zum einen eine qualitativ verbesserte Versorgung der zu betreuenden Senioren mit bestimmten Leistungen erfolgt oder zum an-deren eine Verringerung finanzieller Aufwendungen für an-deren Haushalts-führung eintritt; natürlich könnte die Mitgliederförderung auch in einer Qualitätsverbesserung des Leistungsangebotes und dessen Kostensen-kung zugleich zu erblicken sein" (Mändle o.J.: 6).

Zunächst also werden bedarfswirtschaftliche Ziele formuliert. Falls Profit erzielt werden würde, wäre er gemäß den Zielen der Mitgliederför-derung einzusetzen. Er könnte investiert oder zur Senkung der Mitglied-schaftsbeiträge und -gebühren verwendet werden. Eines allerdings ist wichtig zu betonen. Wie bei vielen anderen freiwilligen Vereinigungen auch erschöpft sich der Beitrag der Seniorengenossenschaften nicht nur

35 Die Ausschreibung gibt vor: "Für eine gemeinnützige Tätigkeit der Seniorenge-nossenschaft eignen sich verschiedene Rechtsformen. Es sind dies eingetra-gene Genossenschaften, eingetraeingetra-gene Vereine oder auch die GmbH". In den konkreten Projekten wird teilweise explizit die Option einer späteren Genossen-schaftsgründung satzungsmäßig erwähnt, teilweise aber auch frühzeitig wäh-rend des Konstituierungsprozesses ausgeschlossen. Ein beteiligtes Projekt (Frauenwohnprojekt) strebte eine Vereinsgründung zunächst nicht an. In einer ausführlichen diesbezüglichen Diskussion waren die Mitglieder der sowieso zahlenmäßig kleinen Gruppe sich einig, daß die eventuellen Vorteile den siche-ren Aufwand nicht überwiegen würden.

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in der Mitgliederförderung. Ansätze ökonomischer Theorie sprechen von der Erstellung sogenannter nichtmarktfähiger Kollektivgüter.36

Mit der Wahl einer Institutionalisierungs- und Rechtsform sind Implika-tionen auf mehreren Ebenen verbunden. Sie werden in einem ersten Durchgang kurz zusammengefaßt bezüglich der Anforderungen und Möglichkeiten in bezug auf Ressourcen bei Gründung und laufendem Betrieb und die Abwägung der Angemessenheit in bezug auf die vorge-nommenen Ziele. Letzterer Aspekt betrifft sowohl den Geschäftsbereich als auch die politischen und sozio-kulturellen Vorstellungen und Ziele.

Ein zentraler Erklärungsansatz für die Wahl der Vereinsform ist sicher, daß sich die Seniorengenossenschaften in ihrem momentanen Entwick-lungsstand kaum der Absicherung materieller Problemlagen oder der Entwicklung investiver Vorhaben verschrieben haben. Das verbindet sie eher mit der sozialen Selbsthilfelandschaft insgesamt, unterscheidet sie aber von jener Selbsthilfe, die sich noch in den 50er Jahren im Genos-senschaftswesen umsetzte. Umgekehrt läßt sich natürlich fragen, ob nicht auch die Vereinsform in den Augen möglicher Kapitalgeber und in-vestitionsbezogener Kooperationspartner die entsprechenden Bedingun-gen erfüllen könnte.

Vor diesem Hintergrund geben offensichtlich ganz pragmatische Gründe den Ausschlag. Die Gründung einer eingetragenen Genos-senschaft scheint eine beträchtliche Hürde darzustellen. Sie braucht Zeit - mehr, als viele der in den Startlöchern ungeduldig Wartenden gerade unter den älteren Akteuren hinzunehmen bereit sind. Sie braucht Know-how - anderes, als es die meisten sowohl der organisationserfahrenen Älteren als auch der vielfach beteiligten Akteure aus diversen Verwal-tungen oder Verbänden mitbringen. Ohne eine professionelle angestellte Geschäftsführung könnten sich die meisten Akteure die Gründung und Aufrechterhaltung einer Genossenschaft nicht vorstellen. Ob die diesbe-züglichen Hemmnisse im einzelnen bekannt sein mögen oder nicht ist hierbei zunächst zweitrangig, die Einschätzung ist entscheidend.

36 "Nicht 'marktfähig' sind solche Güter, von deren Konsum, wenn sie einmal hergestellt sind, Personen, die sich nicht an den Produktionskosten beteiligen, nicht oder nur unter großem Aufwand ausgeschlossen werden können" (Horch 1992: 51).

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sondere die Tätigkeit der genossenschaftlichen Prüfungsverbände bei Registrierung der Genossenschaft37 wird als ein Problem zum Teil recht-licher, zum Teil soziokultureller Natur - jedenfalls deutlich als "Brems-funktion" (Döse 1992: 253) - wahrgenommen.

Als bedeutender Vorteil der Vereinsform wird ein weiterer Aspekt her-vorgehoben: Ein e.V. zeichnet sich dadurch aus, daß die Aktivitäten be-reits mit einer geringen Mitgliederanzahl aufgenommen werden können, daß selbst größere Mitgliederschwankungen ohne Einfluß auf die Stabili-tät der äußeren rechtlichen Form bleiben. Damit ist der Faktor der

"Gruppengröße" angesprochen, die von ca. 15 bis zu mehreren hundert Mitgliedern variiert.

Jene bei Genossenschaften hohen Standards bezüglich Verbindlich-keit und Sicherheit, die durch die beschriebenen Formen von Kontrolle zu sichern versucht werden und mit aufwendigen Entscheidungs-strukturen einhergehen, werden als Strukturmerkmale bislang entweder als verzichtbar erachtet oder aber als gegen die spezifischen Äuße-rungsformen von Selbstorganisation gerichtet, wie sie Ältere sich wün-schen. Ein kurzfristig naheliegenderes ökonomisches Erfordernis deckt auch der e.V. ab: nämlich als Arbeitgeber fungieren zu können sowie Sachleistungen von Dritten empfangen und verwalten zu können.

Die mit Institutionalisierungsformen verbundenen prozeduralen Aspek-te haben inhaltliche KorrelaAspek-te, so verweisen sie bspw. auf die politische

37 Nach deutschem Genossenschaftsrecht geht der Eintragung eine doppelte materielle Wirtschaftlichkeitsprüfung voraus: zum einen die Prüfung durch das Registergericht (§ 11a GenG), zum anderen die Prüfung durch den zuständigen genossenschaftlichen Prüfungsverband (§ 11 Abs. 2 Ziff. 4 GenG), in dem die einzutragende Genossenschaft Mitglied sein muß (§ 54 GenG). "Der Prüfungs-verband begutachtet dabei, 'ob nach den persönlichen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, insbesondere der Genossenschaft, eine Gefährdung der Belange der Genossen oder der Gläubiger der Genossenschaft zu besorgen ist'. Gerade diese Koppelung von Zwangsmitgliedschaft und genossen-schaftlicher Gründungsprüfung scheint sich für Genossenschaften neuer Art als Hürde zu erweisen" (Döse 1992: 253). Döse verdeutlicht am Beispiel der alter-nativen Öko-Bank, inwiefern die Prüfungsverbände bei Ausübung ihres Ermes-sens nicht nur reine Wirtschaftlichkeitsgesichtspunkte, sondern auch kulturelle und politische Bewertungsmaßstäbe einbringen, die innovative, vom Herkömm-lichen abweichende Unternehmenskonzepte tendenziell ablehnen.

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Seite von Genossenschaftlichkeit. Hier ist der Partizipationsgedanke an-zusprechen, der in dem alten Prinzip: "ein Genosse - eine Stimme" in Verbindung mit institutionalisierten Beteiligungsformen immerhin als ge-nossenschaftliches Essential seinen Ausdruck findet. Dem Partizipati-onsbedürfnis scheint demgegenüber in der bis heute erreichten Entwick-lungsphase der Seniorengenossenschaften - angesichts der begrenzten Größenverhältnisse, des starken Gemeinwesenbezuges und der Zu-sammensetzung der beteiligten Akteure - zum einen auch durch die Ver-einsstruktur, zum anderen durch den Überhang solcher Aus-handlungsprozesse, die in überschaubaren Gruppen auf der Basis ge-genseitigen Vertrauens und/oder persönlicher Bekanntschaft stattfinden, ausreichend Rechnung getragen. Diese Struktur gilt naturgemäß be-sonders stark in den auf Verbindlichkeit aufbauenden Initiativgruppen für gemeinschaftliches Wohnen.

Die Institutionalisierungsform Verein stand schon historisch in der Re-gel in einem engen Zusammenhang zu inhaltlichen Zielsetzungen und sozio-kulturellen Ausdrucksformen. Es ist ein verkürztes Verständnis, wenn heute beim Stichwort Verein allzusehr der Geselligkeits- und Frei-zeitaspekt die Assoziationen bestimmt. Auch in historischer Perspektive ist festzustellen, daß Vereine immer auch zu einem bedeutenden Teil

"solidarische Zusammenschlüsse (waren; U.O.), um die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, gleichgültig, ob es sich dabei um Vereine der Ar-beiter oder der Unternehmer handelte. Ferner traten viele Vereine mit dem Ziel auf, für das Gemeinwohl nützlich zu sein" (Richter 1985: 97).

Dazu gehörte - damals wie heute - ein Mindestmaß geteilter Lebenslage oder Situationseinschätzung, es erforderte "ein Bewußtsein gleicher so-zialer Lage von den Betroffenen und solidarische Haltung, um sozialen Mißständen ein Ende zu setzen" (Richter 1985: 97).

Vereine sind schon von daher nicht nur Organisationsformen. Es las-sen sich noch grundsätzlichere Aspekte anfügen. Sie sind für Richter zugleich ein "Symbol für prosoziales Verhalten, Wunsch nach Gesellig-keit, Organisation des Freizeitlebens und Nicht-Eingriffnahme des Staa-tes. Freiwillige Vereinigungen sind sicher kein politisches System, sind aber typisch für eine bestimmte politische und wirtschaftliche Kultur, sie sind an sich noch kein eigenes Sozialsystem, sind aber typisch für ein

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bestimmtes Sozialsystem, das zum Beispiel keine Gliederung in Stände oder Kasten besitzt. Deshalb symbolisieren sie verschiedene Systeme"

(Richter 1985: 76).38

In soziokultureller Hinsicht konvergieren Vereine und Genossenschaf-ten weitgehend. Insofern zeigen die genannGenossenschaf-ten Umsetzungsmerkmale, daß eigentlich Genossenschaftsmerkmale - entgegen des vordergründi-gen Widerspruchs der Wahl der Vereinsform - gerade im Rekurs auf die Ideen der kollektiven Selbsthilfe und gemeinwohlorientierter Solidarität bestehen. Gemeinsame Kennzeichen sind die Emphase auf Freiwillig-keit in Mitgliedschaft und Mitarbeit sowie in der partizipativen Struktur und der angestrebten Unabhängigkeit. Strukturell sind speziellere ge-nossenschaftliche Anknüpfungspunkte angelegt in den Versuchen, in-terne, gebrauchswertorientierte und konkurrenzgeschützte "Märkte" - z.B. mit Hilfe der Börsen und des Zeittauschmechanismus - zu konstitu-ieren. Auf die hier ebenfalls zu erwähnende Kapitalbildungsfunktion wird noch einzugehen sein.

38 Der Autor bietet darüberhinaus höchst basale Chiffren an, um die Charakteristik freiwilliger Vereinigungen zu verdeutlichen: "Vereine stehen für Kontaktnahme, Berufserfolg, prosoziales Verhalten einerseits, wie andererseits Familie für Liebe und Sexualität steht" (Richter 1985: 76f.). Diese Identität symbolisieren sie u.a. durch selbstgeschaffene Symbole, sie sind nicht nur typisch für eine bestimmte Kultur, sondern zeichnen sich darüberhinaus selbst durch "gemein-same Produktion von Kultur" (Lengkeek 1992: 32) aus. Hinsichtlich der verallge-meinernden Aussagen zu soziokulturellen Verständnissen freiwilliger Vereini-gungen ist nicht auszuschließen, daß sie - in einer geschlechtsdifferenzieren-den Betrachtung - bezüglich der Frauen zu relativieren wären. Vgl. Halves (1989: 139).

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