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- am Beispiel Pflege

2 Die Agenda wohlfahrtspolitischen Umbaus

2.1 Das Konzept des Enabling state

Der normative Begriff des "Enabling state" steht für einen mehr oder weniger umfassenden ideologischen Bezugsrahmen, der sich von libe-ralistischen Positionen eines Nachtwächterstaates ebenso unterscheidet wie von Konzepten der "Verstaatlichung" weitreichender Risikovorsorge und Versorgung, politisch möglicherweise aber umso besser legitimieren läßt: Die Parole lautet "enabling not providing" (vgl. Ridley 1988), staatli-che Politik soll sich im wesentlistaatli-chen nicht selbst um die Erstellung des konkreten Bedarfsausgleichs - etwa im Feld Pflege - kümmern, sondern vielmehr Rahmenbedingungen, Anreize und Wettbewerb schaffen, die die Pflegeversorgung durch den Markt, individuelle Vorsorge und die Gemeinschaft fördern.

Am Beispiel Großbritanniens läßt sich ein solcher Umsteuerungs-prozeß besonders eindringlich veranschaulichen. Den entsprechenden Reformen gingen hier - wie in den anderen Ländern mit Ausnahme Deutschlands auch - heftige Debatten voraus, die einerseits in dem Grif-fiths-Report "Community Care: agenda for action" (Griffiths 1988) ihren Ausdruck fanden und umgekehrt durch seine Veröffentlichung im März 1988 neue Nahrung erhielten.76

Der Griffiths Report hebt zwar einerseits die Leistungen des informel-len, gemeinnützigen und privaten Sektors im Pflegebereich hervor, be-tont jedoch nachdrücklich neue diesbezügliche Verantwortlichkeiten staatlicher Politik in Sachen Planung und Versorgung: "Die Vorschläge gehen davon aus, (...) daß es die vordringlichste Aufgabe öffentlicher Dienstleistungen ist, dieses Netzwerk an informellen Helfern zu unter-stützen und, wo möglich, zu stärken. Dies kann erreicht werden, indem

76 Inhaltliche Akzentsetzungen werden teilweise noch deutlicher in vorhergehen-den Berichten. Vgl. dazu genauer Walker (1989); Wistow u.a. (1992); Olk (1991).

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öffentliche Einrichtungen solche bestehenden und möglichen Netzwerke und Initiativen sichtbar machen, die Bedürfnisse der Helfer und Betreu-ten aufgreifen und entsprechende maßgeschneiderte Unterstützungslei-stungen anbieten" (Griffiths 1988, Abs. 3.2., zit. nach Baldock/Evers 1991a: 31).

Um das Enabling-Konstrukt sowohl genauer operationalisieren als auch analysieren zu können, sind verschiedene Adressaten- und Hand-lungsebenen zu unterscheiden. Wistow u.a. fragen mit Blick auf die ge-wünschte Transition "from providing to enabling", "who is being enabled, to what end and by whom" (Wistow u.a. 1992: 38). Sie sehen drei E-nabling-Modelle: "Enabling as personal development" zielt auf die Maxi-mierung der Potentiale der Individuen. Zwei Aspekte heben die Autoren hervor: das Modell "implies enabling individual users and carers to influ-ence the design and delivery of services so as to improve their welfare and let them participate in 'ordinary' lifestyles. It implies too a commit-ment to develop services which enable carers not only to care but also to share in patterns of everyday living" (Wistow u.a. 1992: 38).77

Im Kontrast zur vorgenannten Emphase auf die individuelle Ermächti-gung fokussiert das zweite Modell "Enabling as community develop-ment" auf gemeinwesenbezogene Anstrengungen. "It contains two cen-tral elements: first, the mobilization and support of community-based re-sources, especially those of the informal and local voluntary sector, to foster participation and democratize decision making; and second, a role for social services authorities based less on direct service provision and more on shaping the wider range of resources available within their communities" (Wistow u.a. 1992: 39). Die dritte Dimension wird als "E-nabling as market development" bezeichnet und soll in gewisser Weise die "'mixed economy' of care" sowohl hervorbringen als auch managen.

Letzterer Punkt kann als übergeordnete Funktion identifiziert werden.

"The term 'managing a mixed economy' implies diversity of supply and a purchasing function capable of specifying requirements in terms of iden-tified need, together with systematic procedures through which an

77 Das hier aufscheinende Postulat wird als wichtiger Aspekt eines Normalisie-rungskonzepts später nochmals zu vertiefen sein.

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propriate volume, mix and quality of supply can be purchased and moni-tored" (Wistow u.a. 1992: 40f.). Kurzformeln für das Credo des Enabling state wie "public support for private responsibility" (Gilbert 1993: 93) ver-führen demgegenüber zu einem personal-privat verengten Verständnis.

Auf der Grundlage der gewonnenen Kriterien wird rasch deutlich, wie sehr bei der Einschmelzung des Griffiths'schen Ausgangspunktes in ein entsprechendes Regierungskonzept die Verschränkung der sozialen Schutz- und Betreuungsfunktionen des Staates mit den Ansprüchen auf Eigeninitiative und privat-informelle Hilfsverpflichtungen verwässert wird, so daß nur noch einseitig die Rechte pflegeabhängiger Personen auf freie Wahl, Vielfalt und Autonomie übrigbleiben. "Die beiden Dokumente setzen unterschiedliche Akzente. Während der Griffiths-Report konse-quent die Verantwortlichkeiten staatlicher Politik im Rahmen eines 'En-abling'-Konzeptes zu umschreiben versucht, liest sich das Reform-programm der Regierung wie der Versuch, sich mithilfe eines solchen Konzeptes eben dieser Verantwortung zu entziehen" (Baldock/Evers 1991a: 31).78 Für die Umsetzung allerdings zeigen erste Implementa-tionsstudien, daß sich offenbar eine beträchtliche Beharrungskraft der Institutionen entfaltet.

Auch in Deutschland hat spätestens mit dem Regierungswechsel An-fang der achtziger Jahre eine neue Runde der Auseinandersetzung über das begonnen, was als Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips gelten soll. Insofern sich dahinter keineswegs eine Norm, sondern vielmehr der Appell verbirgt, eine Vielzahl sozialer Zwecke und Werte zu realisieren, ergibt sich eine beträchtliche Variationsbreite entsprechender Vorstel-lungen. Und zwar mit Bezug auf jede einzelne der "klassischen" inhaltli-chen Dimensionen: die Garantie des Existenzminimums, mehr Gleich-heit, soziale SicherGleich-heit, Mehrung des Wohlstands und Ausbreitung der Teilhabe daran (vgl. zur Vieldeutigkeit sozialer Ziele Zacher 1992: 318).

Dies ist bezüglich der Debatte um die Balance von privaten, sozialen und staatlich-öffentlichen Verantwortlichkeiten ebenso zu

78 Daß die lokale Umsetzung der entscheidende Faktor in vieler Hinsicht - vom Tempo über Ausmaß und Tiefe bis zur Betroffenenbeteiligung - ist und über Qualitäten letztlich hier entschieden wird, zeigen Wistow u.a. (1992) am Beispiel von 24 untersuchten "local authority social service departments".

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gen wie die Tatsache, daß Deutschland im Rahmen seiner "Hilfe zur Selbsthilfe"-Strategie aufgrund einer ganzen Reihe von Besonderheiten eine gewisse Randposition einnimmt. Hier läßt sich - im Unterschied et-wa zu den untersuchten Nachbarländern - nicht in diesem Maß von ei-ner geei-nerellen Verschiebung der Sichtweise sozialer Aufgaben spre-chen.

So wird kommunale Altenhilfe und Altenpolitik von einer Vielzahl unter-schiedlicher Träger, Organisationen und Vereine gestaltet. Im Rahmen der Subsidiaritätsregelungen des BSHG tragen die kommunalen Träger der Altenhilfe zwar eine besondere Verantwortung für die Sicherstellung einer flächendeckenden Versorgung mit entsprechenden Angeboten und Diensten. Die eigentliche Erbringung der Leistungen wird jedoch von nicht-öffentlichen Trägern gewährleistet. Die bei weitem wichtigste Rolle spielten dabei bislang die großen frei-gemeinnützigen Träger der Wohlfahrtspflege. Zwischen ihnen von Wettbewerb auszugehen, träfe die Logik der Verteilung von Aufgaben allerdings sicher nicht, viel eher ist es angemessen, von Domänepolitik zu sprechen (vgl. Hegner 1992).

In vieler Hinsicht weist gerade die bundesrepublikanische Altenpolitik nur eine bruchstückhafte Verrechtlichung auf. Auf der kommunalen Ebene ist sie als diffus, zufällig und beliebig strukturiert zu charakterisieren.

Steuerung und Lenkung finden in korporatistischen Kontexten von Sozi-alverwaltungen, Wohlfahrtsverbänden und Sozialunternehmungen statt, nicht nachvollziebar und nicht kontrollierbar.

So weist insbesondere das Sozialhilferecht sowieso bereits eine sub-sidiäre Struktur auf und versteht sich als Ausfallbürge gemäß dem Prin-zip der Nachrangigkeit. Das VersorgungsprinPrin-zip beschränkt sich im we-sentlichen auf die Beamten, während ein mit bescheidenen Solidarele-menten angereichertes Versicherungsprinzip als Hauptleitlinie sozial-staatlicher Ratio beschworen wird und entsprechend stark entwickelt ist.

Im Spezialfall des Pflegerisikos läßt sich bislang bestenfalls eine "gradu-elle Sozialisierung" konstatieren, die indes, jedenfalls in der Sozialhilfe, höchst problematische Steuerungsimpulse hinsichtlich des Bezugsrah-mens des Enabling state aufweist.

Erst allmählich lassen sich erste Anzeichen einer Pluralisierung der Angebotsträger erkennen. Schließlich wäre als Sonderheit die

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ständigkeit des Selbsthilfesektors zu nennen, die generell, aber auch ganz besonders mit Blick auf den Altenbereich zutrifft. Wenngleich also mit einer Reihe spezifischer und unterscheidender Merkmale behaftet, gilt für Deutschland das gleiche wie für die Wohlfahrtsgefüge in den an-deren europäischen Staaten. Aufgrund einer mehrdimensionalen Bedin-gungslage sind sie - insbesondere in der Leistungssparte sozialer Diens-te - mit einer Grundsatzfrage konfrontiert, in den WorDiens-ten von Evers:

"Glaubt man, die Geschlossenheit herkömmlicher Systeme mit relativ wenigen Trägern und starker öffentlicher Dominanz bewahren zu kön-nen, oder ist nicht der Trend zu mehr Anbietervielfalt, Unübersichtlichkeit und Fragmentierung auf den sozialen Märkten bis zu einem gewissen Grad unvermeidlich?" (Evers 1992: 5).

Hintergrund dafür sind nicht nur übernationale Strukturvorgaben, wie sie sich etwa durch die Öffnung des europäischen Binnenmarktes ergeben haben oder das sich in Ost und West bahnbrechende umfassendere Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Mindestens ebenso wichtig ist eine un-übersichtliche, politisch höchst unterschiedlichen Lagern zuzurechnende Kritik an der Effektivität und Effizienz hergebrachter Bedarfsdeckung durch standardisierte und universalisierte Leistungen. Die Rede vom Wohlfahrtsmix bezeichnet in diesem Kontext nicht nur einen analyti-schen Ansatz, sondern ist mit der Perspektive des Enabling state auch zentral für eine neue Programmatik der Kombination von Staat, Markt und Selbstorganisation (vgl. Hegner 1990).

Unter dieser Perspektive sind Seniorengenossenschaften in mehreren Bezügen fruchtbar zu interpretieren.

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