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Konzepte mit unterschiedlichen Zielen

im Kontext der Seniorenselbsthilfe

2 Institutionalisierung und konkrete Arbeit

2.5 Das Konzept "Zeitgutschrift" und seine konkrete Ausgestaltung

2.5.1 Konzepte mit unterschiedlichen Zielen

Das Bezugsproblem der "Zeitwährung" wurde in allgemeiner Weise ein-mal folgendermaßen gefaßt: "Es fehlt (...) - im biographischen Längs-schnitt betrachtet - an 'Zeitbanken' oder 'Speicherhäusern', in welche gleichsam die Überschüsse der 'sieben fetten Jahre' eingelagert und aus denen sie während der 'sieben mageren Jahre' entnommen werden können; erst recht fehlt die Möglichkeit eines 'Zeitkredits', den man in den mageren Jahren aufnehmen und in den fetten zurückzahlen würde.

Und ebenso fehlt es an geeigneten Verfahren des Bedarfsausgleichs, der im sozialen Querschnitt zwischen 'zeitarmen' und 'zeitreichen' Haus-haltstypen zum beiderseitigen Vorteil stattfinden könnte" (Offe/Heinze 1990: 35). Abstrakt ausgedrückt handelt es sich bei dem Konzept einer Zeitwährung um den Versuch, eingebrachte Leistungen oder Aktivitäten den jeweiligen ErbringerInnen auf einem "Zeitkonto" gutzuschreiben. Die Gutschrift soll im Bedarfsfalle zum äquivalenten Bezug von Dienst-leistungen der Seniorengenossenschaft berechtigen und institutionali-siert damit die Erwartung gegenseitigen, dauerhaft konservierbaren Hil-feversprechens.

Die Faszination der Idee mitsamt ihren typischen inhaltlichen Aufla-dungen kommt in den schlichtesten Lesarten am deutlichsten zum Aus-druck: Nach dem Muster eines möglicherweise auch "langfristig

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baren und später verzehrbaren 'Zeit-Kontos' wären (...) Lösungen denk-bar, die sich einerseits für den 'Verrentungsschock' der 'jungen Alten' und ihren plötzlichen und erzwungenen Rückzug aus der beruflichen Ar-beit, andererseits für das ebenso intensiv diskutierte Problem ver-mehrter Pflegebedürftigkeit der ältesten Bevölkerungsgruppen als Abhil-fe anbieten" (OfAbhil-fe/Heinze 1990: 302). Der konzeptionelle "Vater" mehre-rer Service-Credit-Modelle unterstreicht diese Lesart, indem er ebenfalls über die Funktion eines reinen Allokationsmechanismus hinausweist:

"Wir können anfangen, unsere sozialen Probleme zu lösen, indem wir ein neues Tauschmedium schaffen, das es erlaubt, bislang ungenutzte persönliche Zeit in marktgängige Guthaben umzusetzen, die reale Kauf-kraft erzeugen" (Cahn 1990: 127).60 Wie oben angedeutet, wird oft ge-nug gerade Pflegetätigkeit als Inhalt der Dienstleistungen angeführt: "In theory, service credit banking emphasizes the provision of long-term ca-re services to an impaica-red population by a ca-relatively healthy population"

(Feder/Howard/Scanlon o.J.: 36).

Angesichts der damit aufgeworfenen umfassenden Erwartungen auf höchst heterogenen Ebenen soll das mit "Zeitwährung" bezeichnete

"Medium" zunächst auf die ihm zugrundeliegenden Prämissen hin unter-sucht werden. Ein weiterer Fragenkomplex bezieht sich auf die damit zusammenhängenden Ausgestaltungsoptionen mitsamt ihren steue-rungstheoretischen Hintergründen. Schließlich sollen in knapper Form andernorts und zu anderen Zeiten gewonnene Erfahrungen dokumen-tiert und auf ihre Verallgemeinerbarkeit hin befragt werden.

Es existiert keine breitere Diskussion über Theorie, Empirie und Po-tential einer Zeitwährung. Einen Impuls bekam die deutschsprachige

60 Neben den Chancen, die sich aus der lokalen Umsetzbarkeit hinsichtlich einer raschen, angepaßten und pragmatischen Entwicklung ergeben, hebt Cahn folgende Merkmale hervor: "Es gibt keinen 'Statusverlust', wenn man Zertifikate für ein Leistungsguthaben verdient, während Stigmatisierungseffekte durchaus eintreten könnten, wenn man zu einem gesetzlich bestimmten Mindestlohn arbeitet. (...) Insofern Gesellschaften immer schon 'moralische' Kriterien benut-zen, um die Verteilung des von der Gesellschaft produzierten Reichtums zu be-stimmen, erlaubt es diese Währung den Bürgern, sich als Urheber aktiver Bei-träge und als Produzent zu verstehen - und nicht nur als Menschen, die eines Almosens gewürdigt werden" (Cahn 1990: 127).

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Auseinandersetzung allerdings durch zwei 1990 erschienene Bände von Offe und Heinze (Offe/Heinze 1990; Heinze/Offe 1990).61 In ihnen wird die Zeitwährung als Steuerungstypus und Ressource erörtert unter Rückgriff auf unterschiedliche disziplinäre Zugänge. Die dort breit und in-formiert geführte Diskussion bezüglich der soziologischen und sozio-ökonomischen Dimensionen soll hier nicht verdoppelt werden. Sie dient als Hintergrund für den nachfolgenden Versuch, auf einer mittleren Abs-traktionsebene die Einführung einer Zeitwährung im Feld der Arbeit mit Älteren zu analysieren.

Die Zeitwährung ist zu untersuchen als ein neues Steuerungs- und Verteilungsinstrument im Kontext freiwilliger Vereinigungen. Diesen ge-genüber scheint es wesensfremd, wenn nicht sogar unverträglich zu sein, was im Vergleich zur erwerbswirtschaftlichen Logik deutlich wird:

"Das Mitglied einer Vereinigung erhält für seinen Beitrag ein Recht, mög-liche Leistungen der Vereinigung in Anspruch zu nehmen oder profitiert sonst vom möglichen Erfolg der Vereinigung, ohne daß gesichert sein muß, daß dies in einem Äquivalenzverhältnis zu seinem Beitrag steht.

Die Input-Output-Beziehungen eines erwerbswirtschaftlichen Betriebes laufen dagegen idealtypisch über Märkte, erfolgen also nach dem Äqui-valenzprinzip. Als Alternativen hierzu gibt es das Prinzip der Gleich-verteilung der Ergebnisse und das solidarische Prinzip: 'Jedem nach seinen Bedürfnissen'. Beide spielen in freiwilligen Vereinigungen typi-scherweise eine Rolle" (Horch 1992: 51).

Nun wird allerdings im vorliegenden Text davon ausgegangen, daß es sich bei der durch die Zeitwährung konstituierten Input-Output-Relationen bestenfalls um mehrfach gebrochene und abgeschwächte Äquivalenzbeziehungen handelt. Als solche werden sie - und zwar in

61 Offe und Heinze diskutieren sowohl theoretisch als auch auf der Grundlage em-pirischer Befunde verschiedene Formen von Austauschmodellen, die mit Zeitgutschriften operieren. Sie beziehen sich auf Projekte insbesondere aus den USA, Kanada und den Niederlanden. Die dort vorhandenen Versuche als auch das vorgeschlagene Modell des Kooperationsrings beschränken sich in der Regel nicht auf die ältere Bevölkerung. Breit rezipiert wurde bereits der vier Jahre vorher erschienene Aufsatz der beiden Autoren (Offe/Heinze 1986). Es mangelt nicht an AutorInnen, die den Gedanken des Kooperationsrings seither propagieren, vgl. Rauschenbach/Müller/Otto (1992); Teichert (1993: 268f.).

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rer Geltungskraft auf Teilbereiche des Interaktionsgeschehens innerhalb der Vereinigung eingeschränkt - als zusätzliches Steuerungsprinzip in-tegriert, wobei in der Realität zu großen Teilen insbesondere von deren gegenseitiger Durchdringung und Mischung ausgegangen werden sollte.

Auf dieser Folie erscheinen Zeitgutschriften zunächt als eine nicht unbe-deutende Verstärkung jenes "Hauptcharakteristikums freiwilliger Verei-nigungen, daß sie im Bezug auf viele soziale Struktureigenschaften eine spannungsreiche Zwischenstellung einnehmen" (Horch 1992: 61).

Schon bezüglich der Zielvorstellungen, die in den einzelnen Modellen im Vordergrund stehen, gehen die Vorstellungen weit auseinander. Ein Pol - idealtypisch zugespitzt - wird durch die Leitlinie repräsentiert, die Zeitgutschrift in erster Linie zu einem Medium der Gewinnung von Mitar-beit auszugestalten und zu nutzen. Ausgangspunkt ist der Diskurs des Mangels, der vor allem Dienstleistungslücken identifiziert und prognosti-ziert, weshalb die Anreizfunktion nach Maßgabe der Bedarfe ganz o-benan steht. Erfolgskriterium wäre in diesem Falle die Einwerbung und dauerhafte Einbindung eines möglichst breiten Tätigkeitsvolumens, um die Lücken zu schließen. Ob dies funktioniert, ist die eine Frage. Eine andere Sache ist die Bewertung der allgemeinen Wohlfahrtseffekte, ins-besondere auch unter Verteilungsgesichtspunkten, die freilich vor dem Hintergrund der Lückentheorie nachrangig werden.

Von diesem "extremen" Typus sind bezüglich der leitenden Zielbe-stimmungen erhebliche Abweichungen vorzufinden. Sie verdichten sich in je unterschiedlicher Kombination und Gewichtung zu unterschiedli-chen Sichtweisen differenzierter Problemkonstellationen. So rückt teil-weise sehr viel stärker die "EmpfängerInnen"-Perspektive in den Vor-dergrund, die besonders auf deren Ausgangsbedingungen (Ressourcen, familiale und Netzwerk-Einbindung, demographisch bedingte Lebensla-gen, Problematik des Hilfeannehmens usw.) und die entsprechenden Verteilungserfordernisse verweist.

Diese Orientierung eines Zeitgutschriftmodells kann zusammen-kommen mit jener, in der vor allem Bezug auf die ErbringerInnenper-spektive genommen wird, auf das Eigeninteresse der Beteiligten an be-stimmten Tätigkeitsarrangements und -inhalten und auf deren spezifisch gefärbtes Streben nach eigener Sicherheit. Die Gestaltung der

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schrift läßt sich hier eher davon leiten, Engagement um dessen Eigen-wert willen zu ermöglichen und von den Ansprüchlichkeiten, Fähigkeiten und Wünschen der "Aktiven" auszugehen. Handelt es sich also in der Tat um "eine Währung, die für spezifische soziale Probleme und spezifi-sche Bevölkerungsgruppen 'maßgeschneidert' werden kann, und zwar allein durch Festlegungen darüber, welche Dienste geleistet werden sol-len und für wen; ist es eine Währung, die ausdrücklich eingerichtet wer-den kann, um gegenseitige Selbsthilfe, die Familie, ausgedehnte Fa-milienunterstützungssysteme und vielfältige Formen nachbarlichen Ver-haltens zu belohnen" (Cahn 1990: 127)?

2.5.2 Wie läßt sich Selbsthilfe und Solidarität konkret