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Zum Interpretationsansatz des Welfare mix

- am Beispiel Pflege

1 Zum Interpretationsansatz des Welfare mix

Eine Autorengemeinschaft mehrerer renommierter Autoren legte Anfang der neunziger Jahre eine Reihe von stark beachteten Ergebnissen zum Wandel von Wohlfahrtsstaatlichkeit im Rahmen eines Konzeptes eines

"welfare mix" bzw. einer "mixed economy of welfare"72 vor.73 Darin stel-len sie fest, daß die Gründe, warum gerade im Bereich alter Menschen sozialpolitische Maßnahmen und Veränderungen besonders drastisch sind, auf der Hand liegen und sich in den betrachteten Staaten ähneln.

Mit etwas größeren Nuancen ließe sich dies ebenso für diejenigen euro-päischen Länder feststellen, die hier nicht berücksichtigt sind, ähnlich auch etwa für Kanada und die Vereinigten Staaten. Es sind die demo-graphischen Verschiebungen, insbesondere die Zahl der Hoch- und Höchstaltrigen, es ist deren Relation zur Gruppe der häufig pflegelei-stenden jüngeren Alten, sowie die Zahlenverhältnisse der "aktiven" zu den "inaktiven" Bevölkerungsteilen. Auf mittlere Sicht werden all diese Befunde zwar große Anstrengungen erfordern, aber "sicherlich keine unüberwindlichen Probleme aufwerfen, solange der Wille besteht, Res-sourcen entsprechend umzuleiten" (Baldock/Evers 1991a: 28).

72 Einen knappen, typologisierend orientierenden Überblick über die "fascinating variety of organizational and economic arrangements for the delivery, funding and regulation of welfare" (226) bietet Knapp (1989).

73 Vgl. die drei Sammelbände Kraan u.a. (1990) zum Thema lokaler Innovationen im Feld häuslicher Pflege Älterer und des jeweiligen sozialpolitischen Kontextes in den Niederlanden, Schweden und England/Wales; Evers/Wintersberger (1990) mit den Beiträgen von neun Forschungsteams aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Jugoslawien, Österreich, Po-len, Schweden zu "Shifts in the welfare mix" und ihren "impact on work, social services and welfare policies" sowie die Ergebnisse des Nachfolgeprojekts Evers/Svetlik (1993) über konzeptionelle Präzisierungen des Welfare mix Ansatzes sowie Fallstudien aus Finnland, Großbritannien, Israel, Kanada, Österreich, Polen, Slovenien und Ungarn. Deutschsprachig sind zugänglich Bal-dock/Evers (1991, 1991a); Evers (1992). BalBal-dock/Evers (1991a) diskutieren die Befunde darüberhinaus auch im Hinblick auf die Situation in der Bundesrepublik Deutschland.

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Einen wichtigeren Faktor, so stellen die Autoren weiter fest, "stellt wahrscheinlich der finanzielle und ideologische Druck dar. Es wird wei-terhin angenommen, daß Staatsausgaben für alte Menschen nicht mit deren zahlenmäßigem Zuwachs Schritt halten können. Neue Wege werden daher gefunden werden müssen, um auf ihre Ansprüche und Bedürfnisse antworten zu können. Zwar sind pflegebedürftige alte Men-schen selbst zu wenige, um als Wählergruppe von Bedeutung zu sein;

umso bedeutsamer ist es aber vor diesem Hintergrund, daß sich in der übrigen Bevölkerung ein verstärktes Problembewußtsein darüber ein-stellt, daß die Pflege alter Menschen heute zwar ein Randproblem er-scheinen mag, aber auf längere Sicht eine Kernfrage darstellt, die uns alle betrifft. Die Kohorte der pflegebedürftigen alten Menschen ändert sich naturgemäß sehr rasch. Pflegebedürftigkeit im Alter ist ein Le-bensumstand, von dem wenige Menschen über einen längeren Zeit-raum, die meisten aber irgendwann einmal betroffen sind. Rechnet man überdies jene hinzu, die sich mit der Verpflichtung konfrontiert sehen, al-te Menschen zu pflegen, dann zeichnet sich das Ausmaß des Problems deutlicher ab - wenn schon nicht für Politiker und ihre Wähler, so doch für Sozialwissenschaftler".

Die Autorengruppe räumt ein, daß natürlich zwischen den untersuch-ten Ländern, ihren Wohlfahrtssystemen allgemein, aber auch - spezieller - ihren Sozial- und Pflegesystemen sowie den sie prägenden ideologi-schen Grundannahmen bedeutende Unterschiede bestehen. Dennoch konzentrieren sich ihnenzufolge die Kontextveränderungen ebenso wie die Reformen auf ähnliche Brennpunkte74, womit sich eine Art gemein-samer Agenda ausmachen läßt, die vom Problemfokus her gesehen im wesentlichen folgende Aspekte beinhaltet:

Erstens "a special interest in those dimensions of the social sphere and its informal economies, which are represented by collective actors

74 Die Veränderungen des Kontextes von Wohlfahrtsstaatlichkeit - vom Ende des Wachstumsglaubens über die Neustrukturierung von Erwerbsarbeit und Impul-se feministischer Kritik bis zur Infragestellung bisher konsolidiert geglaubter Mit-tel und Ziele des Wohlfahrtsstaates - trägt Miller (1990: 371ff.) vor dem Hinter-grund der Beiträge des ersten Sammelbandes (Evers/Wintersberger 1990) zu-sammen.

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and their organizations. A considerable part of them, by changing the re-lationships between the role of (market) economy, state welfare per-formances and the contributions of households and individuals represent that type of social innovations which most of the research teams dealt with" (Evers 1990a: 15). Zweitens: Die Frage "how to make social ser-vices run better in terms of costs and quality if we accept that 'informal work' and personal social services are specific types of action to which the inherited market or state type of rationality cannot be applied" (Evers 1990a: 17). Drittens: "With respect to what kind of future concept of work does one analyze the increasing dissolution of the inherited role of em-ployment as a key element for welfare and people's well-being? What kind of future concept of social service provision is guiding one's analysis of new patterns of interaction between formal services and people's in-volvement?" (Evers 1990a: 20). Ein vierter fundamentaler Fragenkom-plex schließlich betrifft die "possibilities of coping with the bads and goods, the losses and newly opened up choices linked with deregulation in employment and social services" (Evers 1990a: 23).

Es lassen sich einige große Trends benennen, die die Eckpunkte die-ser wohlfahrtsstaatlichen Agenda ausmachen, und die deshalb geeignet scheinen, die Darstellung dieses Kapitels zu gliedern. Festgestellt wer-den:

- ein "Wandel in der Auffassung der Rolle des Staates und seiner öf-fentlichen Institutionen hin zur stärkeren Betonung von Maßnahmen, die sich weniger am Leitbild der sozialen Sicherung und mehr am Leitbild der 'Hilfe zur Selbsthilfe' orientieren;

- die Bereitschaft, privatwirtschaftlichen Lösungsansätzen und Markt-logiken mehr Raum zu geben;

- die Betonung der Rolle freier Träger, Vereinigungen und Initiativen sowie eine größere Aufmerksamkeit für den Beitrag sozialer Unterstüt-zungsnetzwerke, der Angehörigen und dabei insbesondere der Frau-en, bei Pflege- und Hilfsbedürftigkeit im Alter" (Baldock/Evers 1991a:

29).

- Diese Orientierung schlägt sich insbesondere in einem Umbau von Dienstleistungen im sozialen Bereich nieder.

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- Über diese vier von der Forschergruppe vorgeschlagenen Bündel von Neuorientierungen hinaus soll ein fünfter Aspekt systematisch geson-dert betrachtet werden, da sich offenkundig - und dies nicht nur in Deutschland - auf ihn eigene und abgrenzbare Diskurse und sozialpo-litische Interventionen beziehen. Es geht um den Sektor der Freiwilli-genarbeit und die damit zusammenhängenden Politiken.

Insgesamt läßt sich die These formulieren, daß im Rahmen dieser A-genda individuelle Verantwortung gegenüber kollektiver Risikoträ-gerschaft aufgewertet wird. Damit sind - immerhin in einem Zentralbe-reich wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung - ambivalente Implikationen ver-bunden. "Daß nämlich mehr individuelle Verantwortung sowohl mehr ei-gene Entscheidungsfreiheit als auch mehr Lasten und Pflichten ein-schließen kann, daß sie dem Einzelnen mehr Mitgestaltungsrecht bei der Findung angemessener Arrangements im Umgang mit Altersrisiken vermitteln, aber ihn bei Verlust bisheriger sozialer Anrechte auch hilflo-ser und ohnmächtiger werden lassen kann - genau das wird zu zeigen sein. Das Abwägen zwischen Freiheit und Sicherheit, aber auch das demagogische Ausspielen des einen Bereiches von Anrechten und Bür-gerrechten gegen den anderen kennzeichnet die heutige sozialpolitische Auseinandersetzung - auch und gerade im Bereich von Pflege und Hil-fen für alte Menschen und ihre helHil-fenden Angehörigen. Daß es sich da-bei nicht um ein einfaches Nullsummenspiel handelt, macht wohl auch die weitere Auseinandersetzung ebenso schwierig wie spannend" (Bal-dock/Evers 1991a: 29).

Der hier gewählte Untersuchungsansatz beansprucht also, sowohl die Gefahren als auch die Chancen der Umorientierungen im Politikfeld Pflege identifizieren zu können. Mittels unterschiedlicher Instrumente zwischen Diskursanalysen, Analysen der unterschiedlichen Rahmenbe-dingungen und Analysen des politikinduzierten Outcome werden Un-gleichzeitigkeiten und Widersprüchlichkeiten faßbar. Damit ist eine diffe-renzierte Basis für Bewertungen des Impact gegeben, also der tatsächli-chen Wirkungen im Lebensfeld der Betroffenen: der Modifikation von Handlungsmöglichkeiten, des Pflegeumfangs und der Pflegeintensität, der Zufriedenheit mit der Situation. Die Ergebnisse bauen auf vielfältigen vorgängigen Untersuchungen auf, wie sie in unterschiedlichen

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nen und Ländern seit Jahren vorgelegt werden. Sie verarbeiten ebenso politische wie wissenschaftliche Diskurse. Manches ist infolgedessen keineswegs besonders neu oder originell. Hier wird der Ansatz der For-schergruppe deshalb gewählt, weil er gleichzeitig einen breitangelegten und konsistenten Bezugsrahmen für die Veränderungsprozesse des und im Wohlfahrtsstaat sowie vergleichende empirische Informationen bie-tet.

Daneben existieren eine große Zahl alternativer, sich teilweise über-schneidender Deutungsangebote, die allerdings häufig in der eindimen-sionalen Bestimmung hochdifferenzierter Prozesse deren Widersprüch-lichkeit nur begrenzt zu begreifen in der Lage sind. Dazu wären z.B. die Kritik an umfassender Reprivatisierung und Familialisierung ebenso zu zählen wie die Kritik an der Entprofessionalisierung und Laisierung so-zialer Dienste (vgl. Bäcker 1979), an der Deregulierung des Sozialen oder auch die Entlarvung des Neuen oder Neo-Konservatismus (vgl.

Dubiel 1985; aus geschlechtsspezifischer Perspektive Hooyman 1990).

Zu nennen wären weiterhin die Kritik am abnehmenden Grenznutzen und den negativen Effekten der medizinischen und psychosozialen Ver-sorgung (z.B. Illich 1976; 1979) oder an der im Namen allgemeiner und spezieller Wohlfahrt betriebenen weitergehenden Verrechtlichung zent-raler Lebensbereiche bei gleichzeitiger Ausweitung der situativen An-wendung von Verordnungen auf dem Verwaltungswege (vgl. Voigt 1983).75

Die aufgeführten Dimensionen des Wandels in Auffassung und Praxis der Sozialpolitik scheinen geeignet, Trends vergleichend zu markieren.

Zugleich läßt sich mit ihrer Hilfe das Programm Seniorengenossen-schaften als hochaktuell ausgerichtetes kennzeichnen, das nicht nur in

75 Zur britischen "Welfare pluralism"-Debatte vgl. z.B. van Til (1988: 122ff.). Der Welfare-mix-Ansatz ist kompatibel mit einer Reihe disziplinär unterschiedlich verorteter analytischer Instrumente, mehr noch: er bedarf zu seiner differenzierten Einlösung derer Expertise. So erführe er - um nur ein Beispiel zu nennen - im Sozialrecht wichtige Präzisierungen durch die Untersuchung von internalisierenden bzw. externalisierenden Lösungen für soziale Probleme auf einerseits der gesellschaftlichen (privatrechtlichen), andererseits der staatlichen (öffentlich-rechtlichen) Seite (vgl. Zacher 1991; 1992: 313ff.).

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seinen konkreten Ergebnissen sondern mehr noch vielleicht in dem Bündel an "Botschaften", die es transportiert, Trendsetterfunktion in Deutschland erlangen könnte. Im folgenden werden die Ergebnisse der Welfare-mix-Forschung kurz vorgestellt und lediglich der besseren Ver-ständlichkeit halber an Länderbeispielen verdeutlicht, um sie dann als Folie für die Entwicklungstrends in Deutschland und - als Spezialaspekt - für die wohlfahrtspolitische Verortung der Seniorengenossenschaften fruchtbar zu machen.

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