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Dunkelziffer-Überwindung und Inanspruchnahme

Daß das Problem der Nichtinanspruchnahme real und gewichtig ist, läßt sich daran zeigen, daß selbst im Feld verstärkter Hilfe- und Pflegebe-dürftigkeit weiterhin davon auszugehen ist, daß nur eine Minderheit die-ser Personen von ambulanten Diensten besucht wird. Allerdings kann über deren Anteil nur spekuliert werden, solange aktuelle und abgesi-cherte Daten noch fehlen (vgl. Brandt/Göpfert-Divivier/Schweikart 1992:

163; 174f.; 177).146 Dennoch läßt sich sagen, daß professionelle Hilfen gerade in diesem Bereich oft erst dann in Anspruch genommen werden, wenn die innerfamiliären Probleme und Leidenserfahrungen einen er-heblichen Chronifizierungs- und Kumulationsprozeß durchlaufen haben.

Die Dunkelzifferproblematik bezieht sich auf diejenigen Individuen bz-w. Haushalte, die trotz empfundener Bedarfslage (felt needs) keine Nachfrage anmelden (expressed needs). Für dieses Phänomen existie-ren eine Reihe von Erklärungsansätzen.147 Nichtinanspruchnahme in

146 Daten zur Nichtinanspruchnahme sozialer Dienste bei Pflegebedürftigkeit wur-den bereits im Kapitel zur Politik des informellen Sektors präsentiert.

147 Eine Theorie der Inanspruchnahme sozialer Dienste hat Wirth (1982) vorgelegt.

Er macht systematisch auf den wichtigen Sachverhalt aufmerksam, daß auch Inanspruchnahme nur sinnvoll als Prozeß zu rekonstruieren ist, dessen

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der Altenhilfe hängt zusammen mit deren beiden Aspekten: dem Alter und der Hilfe. Genauer betrachtet verbergen sich hinter "dem Alter" dif-ferenzierbare Kohorten, Einstellungen und Zeitgeisteffekte, die den Be-zug zu sozialstaatlichen Angeboten zur Hilfe und Pflege in je unter-schiedlicher Weise prägen (vgl. Evers/Leichsenring/Pruckner 1993:

18ff.). Der andere relevante Aspekt verweist auf die Prägung dieses Be-reichs durch die Sozialhilfe. "Bedürftigkeit (...) wird nur in harten Bedarfs-lagen von den Mitgliedern der Altenpopulation eingestanden, ihre Offen-legung in Kauf genommen. Freizeitbetätigung, gesellschaftliche Partizi-pation, Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens sind offenbar nicht Gegenstand so harter Bedarfsausprägungen, daß sie für größere Grup-pen tolerabel erscheinen lassen, sich dem 'Geruch der Bedürftigkeit' auszusetzen" (Bäcker u.a. 1989: 258). Dies gilt besonders dort, wo es die Hilfe mit innerfamilialen Auseinandersetzungsprozessen zu tun hat.

Daß sich der Geruch der Bedürftigkeit abschwächt, ist nicht unbedingt wahrscheinlich. Vor dem Hintergrund von Pluralisierungs- und Individua-lisierungstendenzen auch im Alter kommen eher einander verstärkende Effekte in Gang: "Je mehr sich Aktivität erlaubende und fördernde, Ges-taltung zulassende, Bildung vermittelnde und Erfahrungswissen abfra-gende, aber auch Rekreation und körperliche Aktivität bietende Erleb-nisbereiche für ältere Menschen aus der Altenarbeit fortbewegen, umso stärker wächst die relative Benachteiligung jener, die an dieser Bewe-gung - die auch Fortschritt ist - nicht partizipieren können" (Bäcker u.a.

1989: 258).

Wenn dahinter eine "zunehmende Bewertung der Altenarbeit und ihrer Angebote gegen den Hintergrund einer lebendigen, differenzierten und durchaus attraktiven gesellschaftlichen Normalität des soziokulturellen Lebens" (Bäcker u.a. 1989: 258) steht, stellt sich die Frage, inwiefern Abhilfe durch eine verstärkte Öffnung der Altenhilfe zu erwarten wäre.

Allerdings spricht gerade angesichts der angeführten und historisch ver-festigten residualen Verortung der Altenhilfe einiges gegen den Ansatz eines Einbaus auch soziokultureller Integrationsfelder in den Rahmen ih-rer Einrichtungen. Gerade von hier aus ergibt sich die Attraktivität

minanten mithin in verschiedenen Phasen verschiedene sind.

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bezüglich unbelasteter Marktlösungen. Allerdings läßt sich auch unter-halb solcher Neuzuschnitte einiges tun, wie die Praxis zeigt. Dezentrale Organisationsformen werden ebenso erprobt wie die Zusammenarbeit mit Vereinen und Initiativen vor Ort, in Verbindung mit genauer Kenntnis der Verhältnisse im Stadtteil wird erwartet, daß auf diese Weise zumin-dest partiell eine Art Geh-Struktur zu realisieren ist.

Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen zur Problematik der Für-sorgenähe stehen weitere Ursachen der Nichtinanspruchnahmeproble-matik, die mit einigen empirischen Hinweisen verdeutlicht werden sollen.

Inanspruchnahme von sozialen Hilfen und Einrichtungen hängt ab von deren Kenntnis. Und diese ist selbst bei den am besten eingeführten Einrichtungen für Ältere bei eben diesen noch keineswegs umfas-send.148

Inanspruchnahme hängt darüberhinaus vermutlich ab von der Selekti-vität der Angebote, Hilfen und Dienste. Ganz allgemein gesprochen müssen zunächst empfundene Bedarfe als bearbeitbare "portioniert"

und definiert werden und dann entsprechende Instanzen als Adressaten erkannt werden. Die hohe Konsultation von Hausärzten, auf die bereits hingewiesen wurde, kann in diesem Zusammenhang interpretiert wer-den. Demgegenüber zeichnen sich Angebote der Sozialverwaltungen ebenso wie der freien Träger für ältere Menschen in der Regel durch Unüberschaubarkeit, Arbeitsteilung und Spezialisierung aus. Deren Ne-beneinander in verschiedener Trägerschaft überlagert die Situation nochmals.

Als weitere Elemente kommen die wahrgenommene oder unterstellte Problemlösungskompetenz der im Feld agierenden Professionen - bzw.

derjenigen unter ihnen, die aus individueller Sicht bekannt sind und po-tentiell in Frage kämen - sowie die entweder unüberschaubare oder nicht vorhandene Kostenübernahme hinzu. Auf dieser Folie erklärt sich das Ergebnis der einschlägigen Studie von Cooper und Sosna (1983),

148 Zu einer differenzierten Analyse des Informationsverhaltens bezüglich organi-sierter Hilfen vgl. Stiefel (1985: 297ff.). Gut die Hälfte kennt Sozialstationen (55%), "Essen auf Rädern" (55%) und das Sozialamt (52%), die Nachbar-schaftshilfe nur noch 38% und mobile Hilfsdienste 28% (vgl. MAGFF 1983;

1986).

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gemäß der der Anteil jener Personen an der Altenbevölkerung, die Sozi-alarbeiter oder Sozialdienst im engeren Sinne konsultieren, mit 0,6%

sehr gering ist, obwohl dort darauf hingewiesen wird, daß ein guter Aus-baustand dieser Dienste vorliegt.149 Angebote einerseits und die Mentali-täten und Einstellungen auf seiten der (potentiellen) NutzerInnen ande-rerseits sowie Reziprozitätsbalancen innerhalb von Haushalten, Fami-lienkontexten oder Ehebeziehungen sind in einer komplizierten Wech-selbeziehung verstrickt, die nur schwer aufzubrechen ist.150

Bemühungen, all diese Schwellen zu minimieren, betreffen zunächst überwiegend konzeptionelle Entscheidungen für den Bereich der beruf-lich-bezahlten Altenarbeit. Allerdings hat gerade die genauere Kenntnis der professioneller Hilfe zumeist vorgelagerten vielfachen Unterstützung im sozialen Netzwerk auch hier dessen stärkere Einbeziehung stimuliert.

Gerade weil dies für ihn nicht gilt, soll es an einem vielrezipierten Ar-beitsansatz auf der Grundlage einer ebenso vielrezipierten Sozialarbeits-theorie verdeutlicht werden: an zugehenden Angeboten, die sonst immer wieder erfolgreich von oder mit Ehrenamtlichen durchgeführt werden.

Ihre diesbezüglichen spezifischen Möglichkeiten sind sinnvoll als Ge-meinwesenarbeit entlang der Kategorien der territorialen, kategorialen und funktionalen Gemeinwesenarbeit zu begreifen (vgl. Boulet/Krauss/-Oelschlägel 1980). Mit Blick auf die territoriale Dimension kann das der Stadtteil als mögliche räumliche Einheit ebenso sein wie größere Räume (etwa in Gestalt der Versorgungsgebiete im Rahmen der Diskussion um ambulante Arbeitsgemeinschaften o.ä.) oder kleinere Einheiten, z.B.

149 Häfner kommentiert demgegenüber gewiß etwas unterkomplex, aber in Über-einstimmung mit Teilen der Fachmeinung anderer Disziplinen: "Die vielfältigen Bedürfnisse nach sozialen Hilfen, die im hohen Lebensalter bei abnehmender Kapazität zur selbständigen Lebensbewältigung steil zunehmen, ließen erwarten, daß die sozialen Dienste einen fühlbaren Beitrag zur sozialen Unter-stützung und Versorgung alter Menschen leisten. Daß dieser Beitrag nicht erbracht wird, hat wahrscheinlich mit zwei Gründen zu tun: der Abneigung alter Menschen gegenüber sozialen Hilfen und der überspezialisierten Ausbildung von Sozialarbeitern, die weder spezifische Kenntnisse noch Motivation für Hilfe-stellungen im Alter vermittelt" (Häfner 1992: 171f.).

150 Vgl. hierzu die Ergebnisse der qualitativen Studie zur Gesundheitsselbsthilfe durch Laien bei Grunow/Breitkopf/Grunow-Lutter (1984; insb. 134ff.).

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Straßenzüge, Wohnblocks, Altenwohnanlagen oder Heime. "Ziele einer territorialen Gemeinwesen- und Altenarbeit sind das (Wieder)-Herstellen einer Öffentlichkeit und tragfähigen Kommunikation zwischen den Mit-gliedern der kategorialen Zielgruppen und den Einwohnern des Ge-meinwesens. (...) Allgemeine Ziele dieses Ansatzes sind Basis- und Bürgernähe der professionell Arbeitenden" (Karl u.a. 1990: 313). Beson-ders gute Voraussetzungen dafür bieten Ehrenamtliche als "interme-diäre" Personen.

Die kategoriale Dimension hinsichtlich zugehender Arbeitsformen hängt mit möglichen Zielgruppen der Arbeit zusammen. Neben sozio-ökonomischen Kriterien kommen noch weitere in Betracht, um Adressa-tInnenkategorien zu bestimmen: Natürlich sind dies Varianten von "Risi-kogruppen" nach anderen Definitionskriterien (z.B. bei Partnerverlust, Krankenhausentlassung usw.) und weitere Altersgruppen (z.B. ältere Arbeitnehmer, Vorruheständler, Frauen in der 'leeres-Nest'-Phase usw.).

Hinzu kommen aber "soziale Netzwerke (Familien, Verwandtschaften, Nachbarschaften im generationenübergreifenden Kontext), Organisatio-nen und Vereine, in deOrganisatio-nen verschiedene Altersgruppen vertreten sind, Personengruppen, die mit alternden Menschen zu tun haben (Ehren-amtliche, Professionelle, Dienstleistungserbringer u.ä.). Die Anlässe und Orte der zugehenden Altenarbeit, aus denen Gesprächs- und Bera-tungssituationen (und Hilfeleistungen; U.O.) entstehen können, sind demnach offener und breiter gestreut als bei einem ausschließlichen Zugang zu 'Problemgruppen'" (Karl u.a. 1990: 313f.). Viele dieser Anläs-se und Orte sind "sowieso" Teil des Netzwerks von freiwilligen HelferIn-nen, weshalb diese häufig eine viel direktere und "unverdächtigere" Zu-gangsmöglichkeit haben als Professionelle.

Die funktionale Dimension bezieht sich auf den thematischen Zugang zur kategorialen Gruppe in einem bestimmten räumlichen Kontext. Das Spektrum vielfältiger Projekte umfaßt als Anknüpfungspunkte bspw. Be-fragungen über die Lebenssituation, Erzähl- und Erinnerungsarbeit, die Wohnungssituation, die Gesundheitsvorsorge, die sozioökonomische Si-tuation, kritische Lebensereignisse, die familiäre Situation und lebens-zyklische Einschnitte (Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen etc.) - wie z.B.

in der kirchlichen Gemeindearbeit praktiziert, Interessensgebiete (wie

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z.B. in den Hobby- und Wissensbörsen). Es wird zurecht darauf hin-gewiesen, daß damit keineswegs einer erneuten Aufsplitterung der Le-bensbereiche und einer noch verfeinert arbeitsteiligen Bearbeitung von Finanz-, Gesundheits- und psychosozialen Problemen Vorschub geleis-tet werden soll. Die genannten Einzeldimensionen sind statt dessen or-ganisierende "Einstiege", um auf den gesamten Lebenszusammenhang zuzugehen (vgl. Karl u.a. 1990: 315). Bei fast allen von ihnen sind Eh-renamtliche bzw. freiwillige MitarbeiterInnen in besonderem Maße integ-rierbar.

In vielen Projekten wurde im Vorfeld von bezahlt-beruflichen Hilfen versucht, eine Schwellenverringerung durch Sprechzeiten oder Bera-tungsstunden bei Freiwilligen zu erreichen, die nicht unbedingt in öffent-lichen Gebäuden stattfinden müssen, sondern auch bei den HelferInnen zuhause angesiedelt sein können. Entsprechende Potenzen wurden weiter oben unter dem Gesichtspunkt der Qualitätsverbesserung als ei-genständige Prozesse diskutiert, können aber ebenso als Brücke zu professionellen Diensten wichtige Zwischenschritte darstellen.

Schwellenverringerung und organisierende Einstiege, Zwischenformen von privater und öffentlicher Begegnung - das ist zugleich das Erfolgsre-zept der Arbeit in Zentren, wie sie insbesondere als Mütter- oder Famili-en- und Nachbarschaftszentren bekannt geworden sind. Sie als Dienst-leistung zu begreifen führt am wesentlichen vorbei, insofern in dieser Ar-beit am Anfang offene Beziehungs- und Netzwerkangebote stehen, aus deren unverbindlichem Rahmen heraus später auch "Dienstleistungen"

auf Austauschbasis oder gegen Entgelt - und nötigenfalls ebenso wieder

"Linkages" zu beruflichen Diensten - entstehen können.

Die Auflösung klarer HelferIn-KlientIn-Attributionen als eines der zent-ralen Merkmale dieser Interventionsform kann in noch radikalerer Form instrumentalisiert werden. So läßt sich auf die Stigmatisierungsthese bei gesundheitlich weniger Beeinträchtigten mit einer Vertauschung der Rol-len antworten, bspw. dem Angebot von Volunteer-RolRol-len an jene Perso-nen, die eventuell als HilfesucherInnen nie aufgetaucht wären, aber möglicherweise den Haupteffekt aus der "Hilfebeziehung" ziehen (vgl.

Abrahams 1976). "Persons are placed in a volunteer role in order that they themselves might be helped and one of the main correlates of a

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volunteering role is increased self-esteem" (Perry 1983: 116). Daran an-knüpfende Konzepte haben lange Tradition. Schon Riessmann (1965) nennt den Prozeß, in dem Menschen, die ursprünglich in der Position des Dienstleistungs- oder Hilfeempfängers sind und dann in eine Helfer- bzw. Volunteerrolle überführt werden "the helper-therapy-principle".

Auf die Rollenproblematik und die mit ihr verbundenen Rezipro-zitätsaspekte hat die Zeitgutschrift auch in diesem Kontext Einfluß. Aus der Sicht der EmpfängerInnen von Hilfeleistungen könnte sie dazu füh-ren, daß sie sich "nicht in eindeutiger und oftmals stigmatisierender Weise als Objekte 'guter Taten' anderer, sondern mindestens teilweise auch als Inhaber berechtigter Ansprüche auf Hilfe fühlen können - wenn auch diese Ansprüche nicht auf eigenen Geldleistungen, d.h. Käufen, Versicherungsbeiträgen, Steuern, sondern auf eigenen früheren Hilfs-leistungen, Anspruchsübertragungen Dritter oder schließlich auf Gegen-leistungen beruhen, welche die Helfer selbst zukünftig in Anspruch nehmen können" (Offe/Heinze 1990: 165). So trägt die Zeitgutschrift mit ihrer teilweisen Ersetzung der Transfer- durch die Tauschlogik zur ein-stiegsweisen Integration befreiender Marktelemente bei.

Der Vollständigkeit halber ist ein Aspekt zugehender Arbeit zu reflek-tieren, der diese zwar nicht per se disqualifiziert, aber Vorbehalte auf-keimen lassen könnte. Jene Tradition, ehrenamtliche BürgerInnen in zu-gehender Arbeit mit Hilfebefugnissen und Kontrollaufgaben auszurüsten, geht zurück auf das Elberfelder System der Armenpflege. Die Berliner Sozialkommissionen variieren diese Ambivalenz im Laufe ihrer Entwick-lung und unterschiedlich akzentuierten behördlichen Überformungen, le-gen sie aber nie ab (vgl. Bendkowski/ Porrmann 1984).

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