• Keine Ergebnisse gefunden

1 Einleitung

1.5 Zielsetzung der Arbeit

Die in Kapitel 1.3 beschriebenen Konzepte und Programme sind zeit-, ressourcen- und kostenin-tensiv. Daher ist es notwendig, einzelne Programme wissenschaftlich auszuwerten, um ihren Einfluss auf die Arzneimitteltherapiesicherheit qualitativ oder quantitativ bestimmen zu können.

In dieser Arbeit wurde die oben skizzierte Maßnahme „Arzneimittel sicher anwenden“ be-schrieben und systematisch evaluiert. Evaluation bedeutete in dieser Arbeit, die Daten und Ergeb-nisse zusammenzutragen, die bei den Medikationsanalysen und zum teilnehmenden Patientenkollek-tiv angefallen sind, sie durch geeignete Methoden zu kategorisieren und durch eine Risikobewertung in einen Zusammenhang mit der Arzneimitteltherapiesicherheit zu stellen. Konkrete Änderungen der Medikation konnten im Rahmen der Auswertungen nicht weiter untersucht werden, da in der Projektplanung der Krankenkasse ein Follow-up fehlte, und daher Aussagen zu den Medikations-änderungen nicht in ausreichender Qualität sichergestellt werden konnten.

Im Einzelnen gehörten folgende Bestandteile zur Evaluation dazu:

 Beschreibung eines ambulanten Patientenkollektivs mit Multimorbidität und Polypharmazie,

 die Sammlung und Strukturierung der identifizierten risikoreichen Medikationen aus dem Ver-lauf der Maßnahme sowie die Kategorisierung der potentiellen Verordnungsfehler,

 die Einschätzung der möglichen risikoreichen Auswirkungen für den Patienten durch die Er-mittlung eines Schweregrads und die Ableitung eines Risikoindexes,

 die Möglichkeit, Kontakt zu den behandelnden Ärzten herzustellen, um eine Beratung zu den ermittelten potentiellen Verordnungsfehlern zu realisieren.

Aus diesen Kriterien sollten Schlussfolgerungen gezogen und Verbesserungsmöglichkeiten aufgezeigt werden.

| 23 Den Kernteil der Evaluation bildete die Auswertung der Medikationsanalysen (Konsilergebnisse), die im Verlauf der Maßnahme erstellt wurden. Die Ergebnisse der Medikationsanalysen wurden zu-nächst zur besseren Auswertung in acht Haupt- und 33 Unterkategorien eingeteilt. Grundlage dieser Kategorien bildeten Literaturangaben und Vorgaben der Krankenkasse, die diese dem Expertenteam für die Erstellung der Medikationsanalysen während des Ablaufs der Maßnahme zur Verfügung ge-stellt hatte. Auf der Basis dieser kategorisierten Medikationsanalysen wurden eine Bestimmung der Zuverlässigkeit, eine Schweregradeinschätzung und eine Risikobewertung durchgeführt.

2.1 Beschreibung der Maßnahme „Arzneimittel sicher anwenden“ der Kaufmännischen Krankenkasse

Die Maßnahme „Arzneimittel sicher anwenden“ der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) bestand in ihrer Organisationsstruktur wesentlich aus folgenden drei Teilbereichen (Abb. 6):

Abb. 6: Die drei Teilbereiche der Maßnahme Arzneimittel sicher anwenden" der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH).

A: telefonisches Gesundheitscoaching der teilnehmenden Patienten, das durch ausgebildete Krankenpflegekräfte der Krankenkasse durchgeführt wurde

B: Medikationsanalyse der Arzneimittel der Patienten und die Erstellung eines Konsils durch ein klinisch-pharmakologisches Expertenteam des Instituts für Klinische Pharmakologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

C: telefonische klinisch-pharmakologische Beratung des behandelnden Arztes, wenn dieser sich nach Erhalt des Konsils zurückmeldete, durchgeführt durch die Mitglieder des klinisch-pharmakologischen Expertenteams

Nachfolgende Abb. 7 zeigt den Ablauf der Maßnahme der Kaufmännischen Krankenkasse. Nach dem Einverständnis der Versicherten zur Teilnahme an der Maßnahme, welches durch die Kranken-kasse eingeholt wurde, wurden diese einem Versorgungszentrum in Halle oder München zugeordnet und erhielten ein regelmäßiges telefonisches Gesundheitscoaching von geschulten Gesundheitsbera-tern. Diese erfragten bei dem Patienten Informationen zu vorliegenden Erkrankungen und der aktu-ellen Medikation, die an das Expertenteam zur Auswertung übermittelt wurden. Aus diesen Daten erstellte das Expertenteam ein Konsil, das auf Weg A an den Patienten gesendet wurde, der es bei seinem nächsten Termin an seinen behandelnden Arzt weiterleitete. Nach der Hälfte des Evalua-tionszeitraums konnte auch Weg B durch den Patienten gewählt werden, wobei das Konsil nach

A B C Medikationsanalyse/

Erstellung eines Konsils

klinisch-pharmako-logische Beratung Gesundheitscoaching

| 24 verständnis des Patienten direkt an den Arzt versendet wurde. Es bestand die Möglichkeit einer klinisch-pharmakologischen telefonischen Beratung des Arztes durch das Expertenteam.

2.1.1 Der organisatorische Rahmen und der Ablauf der Maßnahme

Den Rahmen der Maßnahme bildete ein individuelles telefonisches Gesundheitscoaching, das von ausgebildeten Pflegekräften der Krankenkasse durchgeführt wurde. Über einen Zeitraum von 12 Monaten und in einem Intervall von etwa sechs Wochen wurden Telefongespräche mit den teil-nehmenden Versicherten durchgeführt. Detaillierte Inhalte der Gespräche standen für die Evaluation nicht zu Verfügung. Die Themen dieser Gespräche waren vor allem die Schulung des Versicherten in

Gesundheitscoach (KKH) Expertenteam (MHH)

Abb. 7: Schematischer Ablauf der Maßnahme "Arzneimittel sicher anwenden" der Kaufmännischen Krankenkasse (185).

| 25 seinem Krankheitsverständnis und die Motivation zu präventiven und gesundheitsfördernden Verhaltensweisen. Der Patient sollte bestärkt werden, regelmäßig Blutdruck-, Blutzucker- oder Körpergewichtswerte zu messen, sowie Empfehlungen zu Pflege-, Bewegungs- oder Ernährungs-programmen nachzukommen. Ebenso wurden die Arztbesuche mit dem Patienten vorbereitet, um mehr Eigeninitiative im Gespräch mit dem behandelnden Arzt zu erreichen, sowie Gesundheits-broschüren zugesandt, die über die bestehenden Erkrankungen informierten.

Die Versicherten und ihre Daten wurden durch ein krankenkasseninternes Screening des gesam-ten Versichergesam-tenpools nach einem krankenkasseneigenem Risikoalgorithmus herausgefiltert. Mitar-beiter prüften, ob die Versicherten für ein Gesundheitscoaching im Rahmen der Maßnahme „Arznei -mittel sicher anwenden“ in Frage kamen. Das Auswahlkriterium der Krankenkasse war eine Polyme-dikation mit der parallelen Einnahme von mindestens fünf Arzneimitteln und die Übereinstimmung der Versichertendaten mit dem internen Algorithmus, der individuelle Risikofaktoren für eine Krankenhauseinweisung oder dem Auftreten unerwünschter Arzneimittelereignisse abschätzte. Bei einer parallelen Einnahme von mehr als 12 Arzneimitteln wurde der Versicherte ohne vorherige Überprüfung des Algorithmus direkt zu einer Teilnahme an der Maßnahme angefragt. Ausgeschlos-sen von der Teilnahme waren Versicherte mit einer Krebsdiagnose, Patienten in stationärer Pflege sowie Patienten mit einer Dialysepflicht. Der Risikoalgorithmus wurde in einer eigenständigen Disser-tation beschrieben (105). Nach einem Akquise-Anruf durch den Gesundheitscoach und dem Unter-schreiben einer Teilnahmeerklärung wurden die zeitlichen Abstände der Telefonanrufe mit dem Ver-sicherten festgesetzt.

2.1.2 Die Durchführung eines telefonischen Gesundheitscoachings

Während des Coachingzeitraums wurden die Versicherten in festgelegten Abständen von ihrem Gesundheitscoach kontaktiert. Vergleichbare Programme sind im deutschen Gesundheitswesen noch nicht etabliert worden, der Ansatz des Telefoncoachings wurde aus den Vereinigten Staaten über-nommen, wo diese Art der Prävention bereits seit einigen Jahren durchgeführt wird (106). In den telefonischen Beratungsgesprächen wurde zunächst ein persönliches Vertrauensverhältnis zu dem Versicherten aufgebaut. Der Versicherte konnte Fragen und Probleme zu seinen Gesundheitszustand oder zu bestimmten Behandlungen mit seinem Gesundheitscoach besprechen. Nach dem dritten oder vierten Gespräch erfolgte die Anfrage durch den Coach, ob der Versicherte seine bestehende Polymedikation durch ein unabhängiges, wissenschaftliches Expertenteam begutachten und auf As-pekte der Arzneimitteltherapiesicherheit hin überprüfen lassen möchte. Bei Teilnahmebereitschaft bestätigte der Versicherte dies durch das Ausfüllen einer weiteren Teilnahmeerklärung. Durch diese wurden das Expertenteam, der Gesundheitscoach, sowie der vom Patienten angegebene behandeln-de Arzt von behandeln-der Schweigepflicht zum Austausch behandeln-der für eine Medikationsanalyse erforbehandeln-derlichen

| 27 Bei der telefonischen Rückmeldung des Arztes wurde ein Beratungsgespräch auf der Basis des zu-vor verfassten Arzneimittelkonsils und der dokumentierten Ergebnisse durchgeführt. Das Gespräch wurde von einem Arzt des Expertenteams durchgeführt. Alle kritischen dokumentierten Medikatio-nen wurden angesprochen und mit dem behandelnden Arzt auf ihre Relevanz hin überprüft. Dabei wurde abgeklärt, ob Diagnosen existierten oder ob eine bei Konsilerstellung vorliegende Information bereits überholt war. Es wurde abschließend eine schriftliche Zusammenfassung des Gesprächs er-stellt und dem behandelnden Arzt in Briefform als abschließende Empfehlung (Zweitkonsil) zuge-sendet. Eventuell anstehende Änderungen der Medikation wurden nicht systematisch abgefragt. Es erfolgte eine regelmäßige Erfassung von Medikationsänderungen durch die Gesundheitscoaches, allerdings konnte eine gezielte Befragung zum Konsil nicht durchgeführt werden, da ein Eingreifen des Gesundheitscoaches nicht stattfand und Arzt und Patient ohne „Druck“ entscheiden sollten.

Lediglich Rückfragen wurden durch den Gesundheitscoach geklärt mit Verweis auf den be-handelnden Arzt (109).

Das Expertenteam bestand aus einem habilitierten Facharzt für Klinische Pharmakologie, zwei Assistenzärzten in der Weiterbildung zum Facharzt für Klinische Pharmakologie und einem Apotheker. Die Ärzte des Expertenteams waren zudem in die klinisch-pharmakologische Beratungs-tätigkeit des Arzneimitteltherapie-Informationssystems (ATIS) eingebunden und konnten somit auf bereits vorhandene Erfahrung in Bezug auf komplexe Fragestellungen der Arzneimitteltherapie-sicherheit zurückgreifen. Das ATIS bietet niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten in Niedersachsen sowie angestellten Ärzten der MHH und angeschlossener Lehrkrankenhäuser einen klinisch-pharma-kologischen Informationsdienst zu Arzneimitteltherapiefragen in Zusammenarbeit mit der Kassen-ärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) an (110).

2.1.4 Erstellung der Arzneimittelkonsile durch das Expertenteam

Die inhaltliche Grundlage für die Erstellung eines Konsils bildete eine durch die Krankenkasse für die Maßnahme festgelegte Zielsetzung für das Expertenteam als „Senkung von Arzneimittelrisiken und Leistungsausgaben für Arzneimittel durch eine pharmakoökonomische Optimierung der Arzneimitteltherapie“ (111). Mit mehreren Unterpunkten beinhaltete diese Zielsetzung Vorschriften, die bei der Medikationsanalyse zur Risikoreduktion der vorliegenden Polymedikation zu berücksich-tigen waren. Bei der Erstellung der Konsile war eine wichtige Anforderung, dass trotz der herauszu-arbeitenden Risiken weder der behandelnde Arzt noch der Versicherte verunsichert oder das Arzt-Patienten-Verhältnis gestört werden sollte. Aus den Medikationsanalysen sollten konkrete Hand-lungsempfehlungen für den behandelnden Arzt abgeleitet werden. Neben den durch die Kranken-kasse übermittelten patientenbezogenen Daten wie

| 28

 Alter, Geschlecht, Body-Maß-Index (BMI), vorliegende Laborparameter wie z.B. Harnsäure-Werte, Serum-Kalium-Harnsäure-Werte, Serum-Kreatinin-Harnsäure-Werte,

 Diagnosen,

 genaue Medikation (Präparat) mit Dosierung mit der Angabe eingenommener Präparate der Selbstmedikation,

waren die nachfolgenden Punkte in der Zielsetzung benannt und wurden zur Bearbeitung der vorliegenden Daten und Ausarbeitung der arzneimittelbezogenen Risiken herangezogen:

 Reduktion der Multimedikation auf möglichst weniger als 13 oder optimal weniger als neun Wirkstoffe,

 Reduktion der Anzahl an Risikoarzneimitteln (Arzneimittel der PRISCUS- (112) und der Beers-Liste (113)),

 Reduktion von Arzneimittelinteraktionen,

 Reduktion von Medikationsfehlern in den Bereichen Indikation, Kontraindikation, Allergie, Dosierung, Dosisanpassung an Alter und Organfunktion, Doppelverordnungen,

 Erkennen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen,

 Aufzeigen von Versorgungslücken und Empfehlung von nicht vorliegenden indizierten Arzneimitteln,

 pharmakoökonomische Optimierung durch die Auswahl von Arzneimitteln der Selbstmedikation.

Auf der Basis dieser vorgegebenen Richtlinien erstellte das Expertenteam eine Standard Operating Procedure (SOP), die sowohl das inhaltliche, als auch das administrative Vorgehen zur Dokumentation und dem Versand der Medikationsanalysen beschrieb. Die Ausarbeitung der Medika-tionsanalysen nach den oben beschriebenen Punkten erfolgte zunächst durch einen Assistenzarzt oder Apotheker. Um die notwendigen Recherchen durchzuführen, verwendete das Expertenteam folgende Datenbanken:

 Interaktionsdatenbanken: Micromedex® (114), AiDKlinik® (115), Lexi-Interact® (116)

 aktuelle wissenschaftliche Publikationen: PubMed® (117), UpToDate® (118)

 Fachinformationen der einzelnen Arzneimittel: Fachinfo-Service® (119)

Die Ergebnisse der Recherchen wurden individuell bewertet. Jede endgültige Beurteilung wurde mindestens nach dem Vier-Augen-Prinzip durch einen Assistenzarzt oder einen Apotheker und durch einen habilitierten Facharzt für Klinische Pharmakologie erstellt. Jede abschließende Freigabe er-folgte durch den habilitierten Facharzt für Klinische Pharmakologie. Alle Konsilergebnisse wurden vom Expertenteam stichwortartig oder als Fließtext in eine Excel-Tabelle eingefügt. Der ab-schließende Bericht (Synonym: Konsil, Arzneimittelkonsil, Erstkonsil) wurde elektronisch festgehalten und zur Übermittlung an den Patienten oder behandelnden Arzt ausgedruckt. Folgende Aspekte spielten für die Erstellung der Konsile eine Rolle:

| 29 (I) Indikation

Für jedes Arzneimittel auf dem Arzneimittelmarkt in Deutschland wurde durch das Zulassungsver-fahren vom Hersteller geprüft und belegt, dass dieses für die gemeldeten Indikationen wirksam, in Bezug auf seine Sicherheit unbedenklich ist und die dafür erforderliche pharmazeutische Qualität be-sitzt (120). Die Indikationen für das Arzneimittel sind in der zugehörigen Fachinformation festgehal-ten (119). Weiterhin geben Fachgesellschaffestgehal-ten Leitlinien zur Arzneimitteltherapie als Empfehlungen für die Anwendung der Arzneimittel bei bestimmten vorliegenden Erkrankungen heraus (121). Unter Berücksichtigung der aktuellen Studienlage kann somit eine evidenzbasierte Arzneimitteltherapie durchgeführt werden (122).

(II) Risikomedikamente

Die Zahl älterer Menschen in Deutschland steigt kontinuierlich. Im Jahr 2030 wird der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahre im Vergleich zum Jahr 2011 von 20 % auf 29 % angestiegen sein (123).

Eine Auflistung risikoreicher Arzneimittel, die für ältere Menschen über 65 Jahre zu verstärkten uner-wünschten Wirkungen führen können wie beispielsweise einer vermehrten Sturzgefahr oder dem Auftreten deliranter Symptome, findet sich in der PRISCUS-Liste (112). Die Anwendung dieser Arznei-mittel sollte nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen, wenn das Absetzen oder der Aus-tausch des Arzneimittels durch einen risikoärmeren Wirkstoff nicht möglich ist. Eine andere Zusam-menstellung risikoreicher Medikamente für ältere Menschen findet sich auf der aus den USA stam-menden Beers-Liste (113). Einige Medikamente dieser Liste sind in Deutschland nicht zugelassen, wiederum finden sich in Deutschland zugelassene Medikamente nicht auf der Liste, da sie für die USA keine Zulassung besitzen, daher ist diese Auswahl nur bedingt auf den deutschen Arzneimittelmarkt übertragbar.

(III) Interaktionen

Das Risiko des Auftretens von Interaktionen steigt mit zunehmender Zahl eingenommener Arznei-mittel. Die Konsequenz von Interaktionen kann vielfältig sein, zum Beispiel Wirkabschwächungen, fehlende Wirksamkeit des Arzneimittels oder auch Wirkverstärkungen (124). Im Fall einer verminder-ten oder ausbleibenden Wirkung wird die Krankheit nicht oder nicht ausreichend behandelt, es können Komplikationen auftreten oder der Heilungsprozess kann verzögert werden, im Fall verstärk-ter Wirkungen kann es zu Überdosierungen oder vermehrten Nebenwirkungen kommen. Weiverstärk-tere Effekte sind unter anderem Veränderungen der Blutdruck- oder Laborwerte.

Interaktionen können nach verschiedenen Schweregraden und nach klinischer Relevanz eingeteilt werden. Elektronische Datenbanken speichern eine Vielzahl an Wechselwirkungen, die dann an-schließend durch den behandelnden Arzt, der Patientenhistorie und -umstände genau kennt, in ihrer Relevanz eingeschätzt werden müssen. In vielen Arztpraxen und in allen Apotheken befinden sich

| 30 reits Computerprogramme mit Interaktionsdatenbanken (125,126). Viele Interaktionen bedürfen keiner besonderen Handlung, allerdings ist meist das Wissen um eine bestehende Interaktion not-wendig, um eventuelle Risikofaktoren frühzeitig zu erkennen oder ein entsprechendes Monitoring zu veranlassen.

(IV) Kontraindikationen

Die Anwendung von Arzneimitteln bei einer gegebenen Indikation und einer gleichzeitig vor-liegenden Gegenanzeige darf nicht vorgenommen werden. Es wird in der Theorie zwischen absoluten und relativen Kontraindikationen unterschieden (127).

(V) Dosierung

Richtdosen der Arzneimittel sind vom Hersteller durch verschiedene klinische Studien ermittelt worden und werden als Empfehlung zur Erzielung therapeutischer Effekte in der zugehörigen Fachin-formation festgehalten. Dazu gehören neben indikations- und altersbezogenen Dosierungen auch die Angabe von Tageshöchstdosierungen, oberhalb derer toxische Effekte auftreten können. Bei be-wusster Überschreitung dieser Maximaldosierungen ist der Hersteller nicht mehr haftbar, da es sich um einen nicht bestimmungsgemäßen Gebrauch handelt (128). Darüber hinaus gelten für unter-schiedliche Indikationen bei demselben Wirkstoff verschiedene Dosierungen, die je nach Begleiter-krankungen oder Organfunktionen noch variiert oder angepasst werden müssen. Neben diesen The-rapieempfehlungen der Fachinformationen geben auch Fachgesellschaften in Leitlinien im Internet oder in Fachzeitschriften Empfehlungen zu Dosierungen heraus (129).

(VI) Nierenfunktion

Etwa jedes 7. Arzneimittel wird hauptsächlich renal eliminiert (130). Ist die Niere geschädigt oder in ihrer Funktion eingeschränkt, kann der Wirkstoff nicht vollständig aus dem Körper ausgeschieden werden und es besteht die Gefahr der Akkumulation und der toxischen Wirkung des Wirkstoffs.

Daher ist bei nierenerkrankten oder älteren Patienten, deren physiologische Nierenfunktion altersbe-dingt nachlässt (131), die Dosierung des Arzneimittels an die Nierenfunktion anzupassen. Zudem ist eine eingeschränkte Nierenfunktion auch als Kontraindikation für diejenigen Arzneimittel zu sehen, die die Niere schädigen können, auch dann wenn sie nicht primär renal sondern hepatisch eliminiert werden, wie z.B. NSAR oder Ciclosporin.

Die Nierenfunktion kann, neben der direkten Bestimmung aus Blut und Urin, unter anderem mit Hilfe der Cockcroft-Gault-Formel über den Serum-Kreatinin-Wert als Kreatinin-Schätzclearance be-rechnet werden (132). Eine weitere Möglichkeit der Berechnung ist die Anwendung der vereinfach-ten MDRD-Formel (Modification of Diet in Renal Disease), mit der durch das Einsetzen der Variablen Alter, Geschlecht, Hautfarbe (schwarz oder nicht-schwarz) und des Serum-Kreatinin-Wertes die

| 31 meruläre Filtrationsrate (GFR) bestimmt werden kann (133). Weder die Cockroft-Gault-Formel noch die MDRD-Formel dürfen bei stark ausgeprägter Adipositas angewendet werden (134,135). Die MDRD-Formel darf darüber hinaus nicht bei hohem Alter und großen Personen, bei Mangelernähr-ung oder bei sich schnell ändernder Nierenfunktion (134) angewendet werden und hat eine Stan-dard-Körperoberfläche zur Grundlage. Allerdings wurde für die Erstellung der Konsile dennoch die MDRD-Formel angewendet, da die Berechnung der GFR nicht zur Diagnostik, sondern lediglich zur Dosierungsberechnung diente, und die Durchführung der Dosisanpassung weiterhin dem behandel-nden Arzt oblag.

Die erforderliche Dosisanpassung berechnet sich über die individuelle Ausscheidungskapazität Q.

In der Ausscheidungskapazität Q ist auch der extrarenal ausgeschiedene Anteil des Arzneistoffes Q0

berücksichtigt, der die Erforderlichkeit einer Dosisanpassung an die Nierenfunktion stoffspezifisch beschreibt, und dessen Werte tabellarisch gelistet sind (130). Die meisten Arzneimittel müssen ober-halb einer GFR von 60 ml/min in ihrer Dosierung angepasst werden (136). Über die Fachinformation gibt der Hersteller Empfehlungen zur Anpassung der Dosis an eine eingeschränkte Nierenfunktion oder verschiedene GFR-Intervalle mit bereits ermittelten Dosierungen an. Bei gegebener GFR kann so über das Q0-Konzept die erforderliche Dosisanpassung bestimmt werden.

(VII) Doppelverordnung

In der Regel sind Doppelverordnungen desselben Wirkstoffes nicht beabsichtigt und stellen einen Fehler bei der Verordnung dar. Es besteht die Möglichkeit, dass durch fehlenden Informationsaus-tausch ein und dasselbe Medikament von mehreren behandelnden (Fach-) Ärzten verordnet wurde oder dass derselbe Wirkstoff durch denselben Arzt in Kombinationspräparaten verordnet wurde, so dass die Doppelverordnung nicht sofort ersichtlich war. Doppelverordnungen unterliegen einem hohen Risiko für Überdosierungen des einzelnen Wirkstoffes und somit potentiellen toxikologischen Wirkungen.

(VIII) Versorgungslücke

Neben der Polypharmazie besteht das unter Kapitel 1.1.1 beschriebene Phänomen des

„underprescribing“, der fehlenden Versorgung des Patienten mit Arzneimitteln, die nach aktueller Studienlage oder nationalen Leitlinien empfohlen werden. Dieses Phänomen muss jedoch individuell hinterfragt werden, da einzelne Faktoren, die den Patienten selbst betreffen, eventuell bei der Nicht-Verordnung berücksichtigt wurden, und somit kein Nicht-Verordnungsfehler vorliegt.

Selbstmedikation

Unter dem Begriff „Selbstmedikation“ versteht man alle vom Patienten auf Eigeninitiative hin er -worbenen und eingenommenen Arzneimittel und Präparate, die der Prävention oder der Therapie

| 32 von Krankheiten dienen (46). Präparate der Selbstmedikation sind als apothekenpflichtige Arzneimit-tel in Apotheken oder als freiverkäufliche ArzneimitArzneimit-tel zusätzlich in Drogerien und Reformhäusern er-hältlich und unterliegen nicht der Verschreibungspflicht (OTC-Arzneimittel = „Over-the-Counter“ -Arzneimittel). Zur Selbstmedikation gehören auch Nahrungsergänzungsmittel sowie diätetische Lebensmittel, welche nicht als Arzneimittel sondern als Lebensmittel gelten, und daher frei von Nebenwirkungen sein müssen (47). Allerdings können diese bei unsachgemäßem Gebrauch wie Überdosierung oder einer Kombination mit bestimmten Arzneimitteln auch schädlich sein. Die An-wendung dieser Präparate geschieht häufig ohne Kenntnis des Arztes. Bei der Selbstmedikation kommt daher der Apotheke bei der Abgabe eine wichtige Bedeutung in der Beratung und Informa-tion des Patienten zu.

2.1.5 Konsilversand

Wie in Kapitel 2.1 beschrieben, konnte das Konsil (Erstkonsil) auf zwei Wegen an den behan-delnden Arzt weitergeleitet werden:

Weg A (Kurzkonsil): Ein Konsilbrief wurde stichwortartig verfasst, indem lediglich einzelne Wirk-stoff- oder Präparatenamen aufgezählt wurden, für die ein erhebliches Risiko aufgefunden wurde.

Dieser Brief wurde an den Patienten gesendet, der diesen dann bei seinem nächsten Termin an den behandelnden Arzt weitergab, der Patient selbst erhielt eine Kopie. Etwa drei Monate nach Beginn der Sammlung auszuwertender Konsile (März 2012) wurden vom Expertenteam nicht mehr alle iden-tifizierten Empfehlungen aus den Konsilergebnissen als Stichworte in die Kurzkonsile aufgenommen, sondern beabsichtigt auf drei bis fünf Anmerkungen reduziert.

Weg B (Direktkonsil): Bei Einverständnis des Patienten wurde ein ausführlich verfasstes Konsil direkt an den behandelnden Arzt versendet. Der Patient erhielt einen Informationsbrief über den er-folgten Versand des Konsils. Das Direktkonsil enthielt ebenfalls stichwortartige Hinweise, jedoch mit einer ausführlicheren Beschreibung des jeweiligen Risikos, das das Expertenteam bei einem bestim-mten Arzneimittel festgestellt hatte. Die Möglichkeit des Direktkonsils war nicht zu Beginn, sondern etwa erst 10 Monate nach Beginn der Maßnahme gegeben (s. Kapitel 2.1.7).

Weg B (Direktkonsil): Bei Einverständnis des Patienten wurde ein ausführlich verfasstes Konsil direkt an den behandelnden Arzt versendet. Der Patient erhielt einen Informationsbrief über den er-folgten Versand des Konsils. Das Direktkonsil enthielt ebenfalls stichwortartige Hinweise, jedoch mit einer ausführlicheren Beschreibung des jeweiligen Risikos, das das Expertenteam bei einem bestim-mten Arzneimittel festgestellt hatte. Die Möglichkeit des Direktkonsils war nicht zu Beginn, sondern etwa erst 10 Monate nach Beginn der Maßnahme gegeben (s. Kapitel 2.1.7).