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Mediale Erfahrungsräume jenseits von Märchen und Fantasy

4. Zeitgeschichtliche Themen im Kinderfilm:

hier ansatzweise reflektiert wird. Das Verhältnis von medialer Wirklichkeits-konstruktion und konkreter Realitätserfahrung ist dabei der entscheidende Bezugspunkt.

sozialismus. Paul, von Spiel, Sport und Gemeinschaft in der Hitlerjugend fasziniert, tritt schließlich in die HJ ein, Erwin gerät mehr und mehr ins Abseits, auch wegen seiner Freundschaft zu Miriam, einem jüdischen Mäd-chen aus dem Vorderhaus.

Eine genauere Betrachtung macht schnell klar, dass dem Film „Die Kinder aus Nr. 67“ ein komplexes, die Aussage stützendes ästhetisches Konzept zu Grunde liegt. Auffällig ist der verhaltene Beginn des Films. In langen, beschreibenden Einstellungen, fragmentarisch erzählt, charakterisieren die Regisseure die Freundschaft von Paul und Erwin. Wir erfahren von ihren gemeinsamen Unternehmungen, von ihren Streichen, ihrer Vertrautheit im Umgang mit einander, die keiner Sprache bedarf. Gesten, Blicke, das alltäg-liche Miteinander spielen in der Exposition eine entscheidende Rolle. Die Kamera bleibt dabei in ihrer Nähe, fängt beide zusammen im Bild ein, was ihr Zusammengehörigkeit, ihre emotionale Nähe, aber auch ihre soziale Gleichwertigkeit betont. Halbnahe Einstellungen dominieren die Erzählhal-tung, so dass der Zuschauer den beiden Jungen zwar nah kommt, doch nicht zu nah: die Kamera wahrt Distanz, der Betrachter nimmt eine eher beobach-tende Position ein; eine den kritischen Blick verstellende Emotionalisierung durch Nahaufnahmen wird vermieden. Später werden beide auch innerbild-lich getrennt, denn je stärker ihre Entfremdung wird, desto mehr werden ihre Gespräche im Schuss-Gegenschuss-Verfahren gezeigt. In einem der letzten Bilder des Films, stehen sich Erwin und Paul aber wieder innerhalb einer Großaufnahme gegenüber. Doch die Bildharmonie, die anfangs noch die Gleichwertigkeit der Figuren betont hat, ist gestört und verweist nun klar auf eine Hierarchie zwischen den Jungen. Paul im Vordergrund dominiert das Bild, er wirkt größer, kräftiger, in einer überlegenen Position. Erwin dagegen scheint an den Rand gedrängt, bedrängt von Paul, in einer unterlegenen Position. Pauls Hakenkreuz-Armbinde in der unteren Mitte des Bildes wird zum Symbol für die tiefere Ursache des Bruchs und markiert das Trennende.

Auch die Kameraposition erzählt vom Standpunkt der Filmemacher ihrer Figuren gegenüber: die Kinder werden meist aus leichter Untersicht (Schul-terhöhe) gefilmt, sie wirken dadurch größer; sind Erwachsene mit im Bild, bewirkt diese Perspektive fast ihre Gleichsetzung. Die traditionelle „Auf-sicht“ auf Kinder, das „Von oben herab“ wird aufgegeben zu Gunsten einer Positionierung der Kamera, die Kinder aufwertet und hierarchische Gefüge auflöst.

Noch sind Paul und Erwin Freunde. Das Ende einer Freundschaft Die Kinder aus Nr. 67, 1979/80

Auch die Analyse der Kamerabewegung ist aufschlussreich. In langsamen Bewegungen tastet sie die Gesichter der Figuren ab, legt Beziehungsge-flechte offen, vermittelt wichtige Raumerfahrungen. Gestützt wird der Ein-druck von Enge, Beengtheit der Wohnverhältnisse auch durch die sparsame Ausleuchtung. Die Dunkelheit, die fehlende Weite (fast nie ist der Himmel zu sehen), all das wird zum Synonym für die Ausweglosigkeit und Isolation, für die Begrenztheit der Perspektiven auch im sozialen Sinne. Die zuneh-mende emotionale und politisch Kälte, die Feindseligkeit wird an einer sich verändernden Farbigkeit deutlich. Im Laufe der Handlung werden die Bilder dunkler, die Atmosphäre kühler, die Schauplätze leerer, ein bläulich dunsti-ger Schleier, eine fast bleierne Schwere legt sich über die Szenerie, so dass die latente Bedrohung durch die SA fast körperlich greifbar wird.

Interessant ist, dass etliche Spielszenen, besonders die kindlichen Streiche oder Straßenszenen, improvisiert wirken. Die zunehmenden Konflikte, wie etwa die Prügeleien mit der Hitlerjugend, werden fast beiläufig erzählt, ohne Dramatisierung und Emotionalisierung z. B. durch subjektive Kamera, Groß-aufnahmen oder Musik, wodurch die beobachtende Distanz auch an diesen markanten Stellen erhalten bleibt. Das Vermeiden einer Parteinahme oder Dämonisierung der HJ zugunsten einer vordergründigen Spannung zeigt, dass es hier nicht darum geht, Wertungen oder Standpunkte zu vermitteln, sondern dass der Zuschauer selbst Position beziehen soll.

Der Film konzentriert sich auf den sich langsam, fast schleichend steigern-den Konflikt der Kinder: Die anfängliche Harmonie wird erschüttert, als Erwin sich mit dem jüdischen Mädchen Miriam anfreundet. Paul reagiert zunächst mit Eifersucht, die zunehmend abgelöst wird von einem grundsätz-licheren Unverständnis und einer Entfremdung, die beeinflusst ist durch die

Radikalisierung des Alltags und der sich immer deutlicher widersprechenden Standpunkte der Eltern. Dass Pauls Hinwendung zur HJ weniger aus politi-scher Überzeugung, sondern als Suche nach Geborgenheit, nach Kamerad-schaft in einem klar definierten sozialen Gefüge zu verstehen ist, mehr eine Verführung als eine Entscheidung ist, wird deutlich. Gerade hier bietet der Film den Zuschauern Identifikationsmöglichkeiten, denn die Schwierigkeit, Freundschaft vor Krisen und Konkurrenz zu bewahren, aber auch den Ver-lust zu ertragen, ist den meisten Kindern bekannt, deshalb nachvollziehbar und auf die eigene Wirklichkeit übertragbar.

Fast beiläufig und doch glaubwürdig integriert, gelingt es dem Film auch historische, zum Filmverständnis beitragende Informationen zu vermitteln.

Es fällt auf, dass die Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen weitge-hend getrennt sind. Während sich die Kinder zunächst spielend und auch streitend meist im Innenhof aufhalten, werden die Eltern fast ausschließlich in ihren Wohnungen gezeigt, in denen sie fast wie Gefangene (beide Väter sind arbeitslos) leben. In innerfamiliären Diskussionen werden die politi-schen Positionen Sozialdemokraten versus Nationalsozialisten entwickelt, Fakten und wesentliche Eckdaten genannt, so dass der politische Hintergrund auch Kindern ohne tiefere Kenntnis der Zeit verständlich wird. Der sich ausweitende Nationalsozialismus, die schleichende Infiltration und wach-sende Bedrohung wird aber im Wesentlichen über Bilder transportiert; die erwähnte atmosphärische „Schwere“ wird ergänzt durch Hakenkreuz-Fahnen, Transparente, Uniformierte, die mehr und mehr das Straßenbild prä-gen. Obwohl der Film Brutalität meidet, wird auch die zunehmende Gewalt-tätigkeit der SA nicht ausgeklammert.

Das Berliner Haus wirkt in seiner klar strukturierten Räumlichkeit wie ein bühnengleicher Mikrokosmos und steht letztlich exemplarisch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Der Innenhof, als räumliches Zentrum des Films, ist auch ein symbolischer Ort: Synonym des psychischen Über-gangs zwischen der Geborgenheit des Hauses bzw. der Kindheit und der rauer werdenden Wirklichkeit der Strasse, dem Erwachsenenwerden.

„Große“ Geschichte, gespiegelt an persönlicher, verweist auf den symboli-schen Charakter des Films, der historische Ereignisse nachvollziehbar mittelt, ohne in Geschichtsbelehrung oder plakative Oberflächlichkeit zu ver-fallen. Dazu trägt auch die durchdachte filmsprachliche Ebene bzw. die Raum-Zeitinszenierung bei, die nicht bei der Bebilderung des Geschehens bleibt, sondern als filmsprachlicher Subtext interpretatorische Hilfen liefert.

Malte Dahrendorf spricht im Zusammenhang mit der Symbolsprache des Films sogar von einer sich klar abbildenden „Faschismustheorie“, vom Klas-senwiderspruch, versinnbildlicht am „Vorder-“ und „Hinterhaus“ mit ihren Bewohnern (Dahrendorf 1989:100/101).

Usch Barthelmeß-Weller und Werner Meyer zu ihrem Film: „Die fiktive Geschichte von Paul und Erwin, mit deren Augen wir den Beginn der natio-nalsozialistischen Infiltration erleben, ermöglicht es, die formelhaften Ant-worten über die Vergangenheit etwas aufzubrechen. Wir wollen nicht Ver-gangenheitsbewältigung betreiben, nicht belehren. Lieber wollen wir Fragen aufwerfen, den Bezug zu den Erfahrungen der Gegenwart knüpfen.“ (BJF 1990:173)