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Welche Rolle spielt Mehrsprachigkeit?

1. Interkulturelle Kinder- und Jugendliteratur

Kinder- und Jugendliteratur, die die Folgen der Migration aufgreift, gibt es in der Bundesrepublik Deutschland fast seit Beginn der Zeit, in der auch ver-mehrt Kinder und Jugendliche von ihren als Arbeitmigranten eingewanderten Eltern nachgeholt wurden und in Deutschland zur Schule gingen und eine Berufsausbildung begannen. Eine einheitliche Bezeichnung für diesen Teil der Kinder- und Jugendliteratur gibt es bis jetzt nicht, was sich auch bei jedem Besuch in einer Buchhandlung oder auch einer Stadtbücherei zeigt:

Die Buchhändler haben ebenso wie die Bibliothekare unterschiedliche Wege gefunden, diese Literatur zu registrieren, so dass zum Teil Migrantenliteratur als Oberbegriff dient, obwohl hierunter im Allgemeinen Literatur von ein-gewanderten Personen verstanden wird, die nur zum Teil auch Kinder- und Jugendliteratur ist. In vielen Bibliotheken finden sich die einschlägigen Titel unter Sachgebieten eingeordnet, also etwa Mädchen, Abenteuer, Politik. Das ist in dem Sinne begrüßenswert, als es die Normalität einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaft vorgibt, in der Migranten selbstverständ-lich Teil aller Bereiche sind – auch wenn es nur sehr bedingt der Realität ent-spricht. Häufig findet sich auch eine Rubrik ‚Ausländer‘. In einigen Buch-handlungen findet sich eine Abteilung ‚Interkulturelles‘, die in vielen Fällen sehr unterschiedliche Kinder- und Jugendbücher enthält: Neben Kinder- und Jugendbüchern über eingewanderte Kinder und Jugendliche in Deutschland findet man dort oft vor allem Bücher zur sog. Dritten Welt, aber auch Bücher über Reisen in andere Länder oder auch Bücher aus anderen Ländern. Auch Literatur zum Nationalsozialismus findet sich in diesen Abteilungen (vgl.

hierzu z.B. Proske / Schmitz 1998).

Diese Mischung unterschiedlicher Themen unter dem Begriff ‚interkulturel-ler Kinder- und Jugendliteratur‘ findet sich auch in der Sekundärliteratur: So werden in den Beiträgen in Hurrelmann / Richter (1998) unter dem Titel

‚Das Fremde in der Kinder- und Jugendliteratur. Interkulturelle Perspekti-ven‘ in erster Linie Werke aus dem europäischen wie außereuropäischen Ausland als Bestandteil deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur unter-sucht. ‚Interkulturell‘ bedeutet hier also in erster Linie das, was in anderen Ländern ist. Dieses – internationale – Verständnis von interkultureller Kin-der- und Jugendliteratur findet sich auch bei Ewers / Lehnert / O'Sullivan (1994). Baumgärtner (1994) behandelt unter dem Thema ‚Interkulturelle Bildung durch Kinder- und Jugendliteratur‘ Übersetzungen aus romanischen Sprachen. Wir stehen hier also vor dem Phänomen, dass ‚interkulturell‘ in pädagogischen ebenso wie in literaturwissenschaftlichen oder didaktischen Kontexten sehr unterschiedlich definiert wird – Definitionen, die oft jegliche Form von Begegnung mit Menschen oder auch Produkten aus anderen Kul-turen umfassen. Demgegenüber möchten wir im Folgenden von einer enge-ren Bestimmung des Interkulturellen ausgehen, indem wir uns auf die Mehr-sprachigkeit und Mehrkulturalität in Deutschland beziehen. Damit unter-scheiden wir eine interkulturelle Binnenperspektive von einer eher interna-tionalen Außenperspektive (vgl. Luchtenberg 1998). Hiermit ist keine Abwertung des Internationalen verbunden, denn die Erziehung zu Offenheit gegenüber Menschen in anderen Ländern oder Gesellschaften ist auch im Kinder- und Jugendbuch eine wichtige Aufgabe. Die Vermischung beider Bereiche birgt dagegen die Gefahr, dass kulturelle Vielfalt in Deutschland nicht als neue Lebenswirklichkeit wahrgenommen wird, sondern als Begeg-nung mit ausländischen Menschen und Kulturen in Deutschland anstelle einer Begegnung mit Menschen, die ebenfalls in Deutschland leben. Dies bedingt, dass eine deutsche Sicht eingenommen wird im Gegensatz zu einer Wir-Sicht aus einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaft her-aus. Zudem wird die Unterscheidungsmöglichkeit zwischen der Begegnung mit Ausländern in Deutschland – zum Beispiel Touristen, Geschäftsleute, etc – und der Begegnung im mehrsprachigen und mehrkulturellen Alltag schwie-riger. Übergänge zwischen der Binnen – und Außenperspektiven sollen nicht übersehen werden: Hierzu gehört das Leben in Grenzgebieten, aber bei-spielsweise auch ein zweiwöchiger Schüleraustausch.

Es können auch solche Kinder- und Jugendbücher zu den interkulturellen gezählt werden, die deutsche Kinder in einer Migrationssituation darstellen, auch wenn hier noch ein Transfer auf die deutsche Lebenswirklichkeit gelei-stet werden muss.

Unter interkultureller Kinder- und Jugendliteratur verstehen wir im Folgen-den Literatur für Kinder und Jugendliche, die in der mehrsprachigen und mehrkulturellen Gesellschaft der Bundesrepublik spielt bzw. in einem ver-gleichbaren Kontext in einem anderen Land. Mit dieser Definition ist noch nichts darüber ausgesagt, ob das betreffende Buch selbst auch eine inter-kulturelle Perspektive aufweist oder ob es eher eine ausländerpädagogische Sichtweise enthält, die das Anderssein zugewanderter Menschen nicht selten als eine Herausforderung für deutsche Kinder begreift, die Hilfestellung bei der Integration (zum Beispiel Deutschlernen) leisten sollen oder zu Toleranz angeleitet werden sollen. Dabei ergibt sich, dass in vielen Kinder- und Jugendbüchern vor allem der 70er und 80er Jahre Kinder aus Familien mit nicht-deutscher Erstsprache dadurch Akzeptanz finden, dass sie etwas Besonderes leisten (im Extremfall ein Kind aus einer Notsituation retten) oder etwas Besonderes können (z.B. Flöte spielen). Deutsche Kinder sind oft in der Helferrolle, während den Migrantenkindern geholfen wird oder sie dadurch, dass sie Akzeptanz erwerben müssen, in eine Art Bittstellerrolle geraten. Integration ist keine Selbstverständlichkeit. Interkulturelle und aus-länderpädagogische Perspektiven lassen sich in vereinfachter Weise wie folgt darstellen:

Ausländerpädagogische Perspektive Interkulturelle Perspektive Zielgruppe: Deutsche Leser/innen Zielgruppe: Deutsche

Leser/in-nen

Defizitorientiert Differenzorientiert Wecken von Hilfsbereitschaft Erfahren von Vielfalt

Wecken von Verständnis für

‚Fremde‘

Differenz statt ‚Fremdem‘

Darstellung von Fremdheit und Anderssein

Verschiedenheit und Gleichheit Tabelle 1: Ausländerpädagogische und interkulturelle Perspektive im

Kin-der- und Jugendbuch

Die interkulturelle Perspektive kann noch differenzierter dargestellt werden, wenn man antirassistische Erziehung hinzunimmt (vgl. Luchtenberg 1999, 180). Rösch (2000, 55 und 264) differenziert nach den drei Merkmalen

Defi-zit / Egalität, Differenz und Diversität / Dekonstruktion, denen sie jeweils zwei unterschiedliche Formen von Kinder- und Jugendliteratur gegenüber-stellt:

Assimiliations KJL Defizit / Egalität Minderheiten KJL Verständigungs KJL Differenz Antirassistische KJL KJL der Vielfalt Diversität /

Dekonstruktion

Dominanzkritische KJL

Tabelle 2: Facetten interkultureller Kinder- und Jugendliteratur nach Rösch (2000)

Hiermit wird zum einen versucht, die neuere Entwicklung in der interkultu-rellen Pädagogik als eine eigene, neue Phase zu interpretieren, was auf Grund des Unterschieds von Differenz zu Diversität durchaus eine Berechti-gung hat, wenn man nicht beides als Teile interkultureller Pädagogik auffas-sen will. Zugleich unterscheidet Rösch (2000) hiermit in jeder der drei Pha-sen eine eher von der dominanten Gruppe ausgehende Sichtweise, die sie als kompensatorisch, individualisierend und idealisierend kritisiert, während eine eher die von der Minderheiten erfahrenen Machtstrukturen berücksichti-gende Sichtweise als emanzipatorisch, gesellschaftskritisch und dominanz-kritisch eher positiv beschrieben wird. Ein wichtiger Gesichtspunkt betrifft die Entwicklung einer Kinderliteratur der Vielfalt, in der „nicht mehr nur die Figurenkonstellation ethnisch, kulturell, sprachlich, manchmal auch religiös vielfältig erscheint, sondern auch einzelne Figuren multiple Identitäten bzw.

Entwicklungsmöglichkeiten aufweisen ...“ (Rösch 2000, 365). Es bleibt zu fragen, wie sich Zwei- und Mehrsprachigkeit in dieses Konzept einbinden lässt.

Seit den siebziger Jahren richteten sich viele Kinder- und Jugendbücher an deutsche Kinder und versuchten, ihr Mitgefühl für die Situation von Migran-tenkindern zu wecken und sie zur Hilfsbereitschaft anzuregen. Allerdings gab es auch Beispiele dafür, Migrantenkinder als Leser und Leserinnen anzu-sprechen. Ein Weg hierzu war die zweisprachige Gestaltung einiger Bilder-bücher wie Selim und Susanne (Kirchberg 1978/82), ein Kinderbuch, das ansonsten viele der oben genannten Merkmale aufweist (vgl. Rösch 1997, 2000 zu einer kritischen Einschätzung im Gegensatz zu Sahr 1987). Die zweisprachige Gestaltung kann insofern als integrativer Ansatz bewertet

werden, als die Erstsprache zumindest als Hilfsmittel auf dem Weg zur deut-schen Sprache anerkannt wurde. Außerdem erzeugen solche Bücher den Ein-druck von Gleichwertigkeit zweier Sprachen, was wiederum auch für die deutschen Leser und Leserinnen wichtig ist. Die Einbeziehung der zweispra-chigen Kinder in die Adressatengruppe wird auch durch Anstrengungen der Bibliotheksdienste angeregt worden sein, die sich in den 70er Jahren tatkräf-tig darum bemühten, Lesestoff in den Erstsprachen der Migrantenkinder anzuschaffen (vgl. Betten 1979).

2. Zwei- und Mehrsprachigkeit in der Kinder- und Jugendliteratur