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Die CD-ROM – ein neues Medium in der KJL

1. Kinderliterarische Angebote auf CD-ROM: die Fragestellung

eingehen, die sich auf eine kinder- bzw. jugendliterarische Vorlage traditio-neller Art – also ein Printmedium – beziehen. Im Zusammenhang mit dieser multimedialen Präsentation werde ich statt von Leserinnen und Lesern von Rezipientinnen und Rezipienten sprechen.

Literatur schafft neue Erfahrungen durch das Angebot einer vom Alltag dif-ferenten Welt. Der Rezipient / die Rezipientin baut aus der Erkenntnis der Differenz eine neue Einsicht auf, die die alte Lebenssicht verändern, aber auch bestätigen kann. Erst die Differenz zur Alltagswelt unterscheidet das literarische Angebot vom alltäglichen Umgang. Ein für Kinder und Erwach-sene einleuchtendes Beispiel für diese ästhetische Differenz sind die Mär-chen. Die Eindimensionalität zwischen der realen und imaginären, häufig zauberhaften Welt ermöglicht die Konstruktion einer irrealen Welt, in der z. B. Entwicklungsaufgaben als typisch für jede nachwachsende Menschen-generation definiert werden. So wäre etwa die Erkenntnis des Grimmschen Märchens „Dornröschen“, dass Entwicklung nicht durch noch so sorgfältige Bewachung eines jungen Mädchens aufgehalten werden kann und dass ande-rerseits genau dieses Mädchen Zeit für seine Entwicklung braucht, durchaus auch alltagssprachlich – etwa als Postulat „Du sollst ...“ oder „Du sollst nicht ...“ – darstellbar. Die Konstruktion einer von der Alltagserfahrung völlig abgehobenen Wirklichkeit durch Symbole wie die Spindel in der Hand des am Beginn der Pubertät stehenden Mädchens oder die alte Frau, die in einem verschlossenen Turm sitzt und die Weisheiten ihrer Generation und ihres Geschlechts weiter zu geben bereit ist, ermöglichen eine vermutlich unbe-wusste, in jedem Fall aber distanzierte Form, die Notwendigkeit und die Bedingungen des Erwachsenwerdens zu erkennen.

Die literarische Form ist ein Angebot an den Rezipienten, aus der angebote-nen als different wahrgenommeangebote-nen Welt und den eigeangebote-nen Vorstellungen, Erkenntnissen und Erfahrungen eine neue Einsicht zu konstruieren. Dabei bildet das literarische Angebot einen Rahmen, innerhalb dessen das Subjekt dieses Angebot in Verknüpfung mit dem eigenen Begriffsnetz integriert. Auf beiden Seiten – beim literarischen Angebot und beim rezipierenden Subjekt – gehen somit historische, kulturelle, religiöse, gruppenspezifische u. a. Vor-stellungen ein, die die Fragilität und Flexibilität literarisch konstruierter Welten verdeutlichen, aber auch zeigen, dass weder die Einflussnahme durch gesellschaftlich bestellte Literaten noch gänzlich subjektive Interpretationen angebotener Texte denkbar sind. Literatur wird durch den häufig fragilen Diskurs zwischen dem Autoren / der Autorin und dem Leser / der Leserin,

der Rezipientin und des Rezipienten von Büchern, Filmen, Videos, CD-ROMS, Hörspielkassetten etc. wirksam.

Bei der CD-ROM handelt es sich um ein relativ neues Medium im Bereich der sogenannten „elektronischen“ Medien. Durch seine Fähigkeit, Informa-tionen multicodal zu speichern, kann es von den Medienproduzenten sehr flexibel eingesetzt werden, d. h. mit einer CD-ROM kann man sich traditio-nell geschriebene Texte auf den Bildschirm laden, aber auch stehende und bewegte Bilder bis hin zur 3-D-Qualität bekommen und natürlich eine große Bandbreite an Sprache, Musik und Geräuschen hören. Alle benutzten Codes sind so vernetzt, dass sie vom Benutzer flexibel abgerufen werden können.

Der multicodalen Präsentation steht also die multimodale Rezeption gegen-über, d. h. der Rezipient / die Rezipientin kann – oder muss – mehrere Sinneskanäle bei der Rezeption einsetzen, muss traditionell lesen und kann gleichzeitig audiovisuell und auditiv decodieren. Hinzu kommt die Interakti-vität, die eine Selbststeuerung durch den Nutzer / die Nutzerin innerhalb der Grenzen ermöglicht, die durch das Medium gesetzt sind, und somit bis zu einem gewissen Grade selbstbestimmte Rezeptionsprozesse bewirkt.

Dass das neue Medium CD-ROM im Bereich der Kinder- und Jugendmedien sehr schnell vermarktet wurde, ist angesichts der vielfältigen Präsentations-möglichkeiten leicht erklärlich. Hier sind zwei Sektoren besonders erfolg-reich, nämlich der der Computerspiele3 mit vielen Ausprägungen und die auf unterschiedliche Lernbereiche und gleichzeitig auf das Bedürfnis nach Unterhaltung ausgerichteten Angebote, das sogenannte „Edutainment“ bzw.

„Infotainment“4. Die Grenzen zwischen beiden Bereichen sind fließend. – Die beiden eben genannten Themenfelder werde ich nicht problematisieren, sondern mich einem eher zögerlich angenommenen und auch präsentierten Angebot widmen, nämlich den Versuchen, kinderliterarische Vorlagen auf CD-ROM zu interpretieren.

Ich werde versuchen, anhand einiger Beispiele folgenden Fragen nachzuge-hen:

3 Einen sehr informativen Überblick über die Problematik der Computerspiele kann man finden bei Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (Hrsg.), Handbuch Medien: Computerspiele.

Theorie – Forschung – Praxis. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 1997 4 Über das multimediale Lernen informiert umfassend Michael Kerres, Multimediale und

telemediale Lernumgebungen. Konzeption und Entwicklung. München und Wien 1998

Wie verändert das neue Medium die kinderliterarische Vorlage?

Ermöglicht die Rezeption von Kinderliteratur auf CD-ROM den Aufbau imaginativer Welten, die durch ihre Distanz zur realen Welt für die Kinder neue Erkenntnismöglichkeiten eröffnen? Mit anderen Worten: Ist die Prä-sentation auf CD-ROM ein sozialisatorisches Angebot an die nachwach-sende Generation?

Werden medienspezifische Mittel entwickelt, um die Sinnkonstitution auch durch diese Präsentation von Kinderliteratur zu ermöglichen?

Können kinderliterarische Texte auf CD-ROM auch zum Lesen der

„Printmedien“ motivieren?

Erleichtert der Umgang mit elektronischer Kinderliteratur Kindern den Zugang zum Computer bzw. – umgekehrt: kann die Präsentation auf CD-ROM auch motivierend auf das Lesen wirken?

Bei der ersten Fragestellung gehe ich von der Annahme aus, dass jedes neue Medium durch eine jeweils andere Codierung Sinn und Inhalte verändert und vor allem auch neue Interpretationsweisen für die rezipierenden Subjekte eröffnet. Da ich nicht annehme, dass es für einen kinderliterarischen Text eine für alle und immer gültige Interpretation geben kann, kann ich nur Ver-mutungen anstellen, ob und wie die Veränderungen durch die neue mediale Präsentation zu neuen Interpretationen führen. Die Flexibilität des Mediums eröffnet zumindest neue Möglichkeiten des Zugangs.

Dass es mich als Schulpädagogin nicht nur interessiert, ob und wie neue Erkenntnismöglichkeiten durch dieses Medium für Kinder eröffnet werden, sondern auch, wie diese Angebote aussehen, liegt auf der Hand. Wenn ich von einem sozialisatorischen Angebot durch die Kinder- und Jugendliteratur spreche, so gehe ich davon aus, dass Sozialisation ein Prozess ist, durch den das Individuum sich einerseits zu einem „gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt“5 entwickeln soll, zum anderen aber eben dieser Prozess nur vor-stellbar ist als eine individuelle Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Angeboten, an dessen Ende – so es eines gibt – immer die individuelle Modi-fikation der angebotenen Werte und Normen, Verhaltensweisen und Hand-lungsmuster steht. Sozialisation setzt also die Eigenaktivität und damit kon-struktive Bearbeitung der gesellschaftlichen Sinnangebote durch das Indi-viduum voraus. Literatur ist ein vielschichtiges Sinnangebot an Kinder und

5 Klaus Hurrelmann, Einführung in die Sozialisationstheorie. Über den Zusammenhang von Sozialstruktur und Persönlichkeit. 6., überarbeitete Auflage, Weinheim und Basel 1998, S. 65

Jugendliche, das in besonderer Weise dieser „Doppelperspektivität“ von Sozialisation gerecht wird. Bettina Hurrelmann weist darauf hin, dass dieser Aspekt noch wenig in der Kinder- und Jugendliteratur-Forschung berück-sichtigt wird.6

Ob kinderliterarische Texte auf CD-ROM Kinder zum Lesen motivieren können, wird natürlich zunächst von der Vorlage abhängen. Ich vermute jedoch, dass bei Ausnutzung der Möglichkeiten dieses Mediums Kinder mit nur geringer Leseerfahrung bzw. -motivation zumindest Anregungen bekom-men. Dabei ist „Lesen“ nicht an das Printmedium gebunden, sondern durch-aus auch mit anderen Medien, z. B. am Computer vorstellbar.

Lesen und der Umgang mit dem Computer werden geschlechtsspezifisch unterschiedlich beherrscht. Beide Kulturtechniken sind jedoch Vorausset-zung, um am öffentlichen Leben in dieser Gesellschaft teilnehmen zu kön-nen. Mädchen haben häufig eine Distanz zum von ihnen eher als technisch und damit fremd erlebten Computer. Kinderliterarische Vorlagen, die in erster Linie Mädchen ansprechen und wenig technische Schwierigkeiten bieten, könnten eine Brücke zwischen beiden Kulturtechniken sein.

Die letzte Fragestellung könnte man zusammenfassen mit dem Hinweis, dass durch den Umgang von Kindern mit Literatur auf CD-ROM möglicherweise Teilbereiche ihrer Medienkompetenz entwickelt werden können.