• Keine Ergebnisse gefunden

Die CD-ROM – ein neues Medium in der KJL

2. Beispiele aus der neuesten CD-ROM-Produktion

2.2 Integration von Text und Spiel: Robinson Crusoe nach Daniel Defoes Abenteuererzählung

2.2 Integration von Text und Spiel: Robinson Crusoe nach Daniel

stitutionellen Monarchie. Wirtschaftlich begann der Aufstieg des Bürgertums und das bedeutete, dass England seine Handelsmacht festigte, seine Kolonien ausbaute und gegen die holländische, portugiesische, spanische und französi-sche Handelskonkurrenz antrat. Geistesgeschichtlich stand die Lebenszeit Defoes unter dem Spannungsbogen zwischen Puritanismus und Aufklärung.

Der eifernden, auf das Jenseits gerichteten Religiosität wurde ein auf das Diesseits ausgerichtetes und von Toleranz und Eigenverantwortung gepräg-tes Denken entgegengestellt. Auch im „Robinson Crusoe“ sind beide Gei-steshaltungen präsent: Einerseits kann Robinson nur überleben, weil er sei-nen eigesei-nen Verstand einsetzt und durch unkonventionelles Handeln seine Existenz sichert. Andererseits ist es ihm ein Anliegen, seinen „wilden“

Gefährten Freitag zu missionieren, d. h. zu einem gläubigen Christen umzu-erziehen, wodurch er ihn seiner ursprünglichen Kultur entfremdet.

Defoes Leben war geprägt von den Umbrüchen seiner Zeit. Sein Leben war unstet, wirtschaftliche Katastrophen und politische Verfolgungen bis hin zu einer unbegrenzten Haftstrafe prägten ihn. Trotzdem veröffentlichte er ca.

500 Titel, hauptsächlich im journalistischen Bereich, aber auch andere Romane, die z. T. heute noch zugänglich sind, z. B. „The Fortune and Mis-fortune of Moll Flanders“.16 Defoe starb 1731.

Die Geschichte der Rezeption des „Robinson Crusoe“ spiegelt wie kaum ein anderes jugendliterarisches Werk durch massive Eingriffe in das Original – das natürlich für Erwachsene und nicht für Kinder und Jugendliche ge-schrieben war – die sich jeweils wandelnden Ansprüche an die Funktion der Kinder- und Jugendliteratur wider. 1762 empfiehlt Rousseau den Robinson als Jugendlektüre: „Dieses Buch wird das erste sein, welches mein Emile lesen wird; es wird lange seine ganze Bibliothek ausmachen, und es wird stets einen ansehnlichen Platz darin behalten ...“17 Rousseau begründet im 2. Teil seines „Emile“ seine Auswahl mit dem natürlichen Menschwerdungs-prozess, den Robinson fern jeder Zivilisation auf einer fernen Insel durchlau-fen muss und der seinem Zögling Anregung und Vorbild sein kann, der diesen Prozess fernab von gesellschaftlichen und damit verderblichen Einflüssen auf sich allein gestellt durchleben soll.

16 Eine Reihe von englischen Texten von Defoe z. B. beide Teile des Robinson und The Fortune and misfortune of the Famous Moll Flanders können abgerufen werden unter http://www.unterthesun. cc/Classics/Defoe/index.htm

17 Jean Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung. zitiert nach Bettina Hürlimann, Europäische Kinderbücher in drei Jahrhunderten. Freiburg (Breisgau) 1959, S. 73 f.

1780 erschien die wohl erfolgreichste Umarbeitung und Didaktisierung des Robinson durch den Philanthropen Joachim Heinrich Campe, der u. a. das Philanthropin in Dessau gegründet hatte und Erzieher von Alexander und Wilhelm von Humboldt war. Campe machte die Figur des Robinson zum Helden eines über Jahrzehnte erfolgreichen Volks- und Jugendbuches und betonte vor allem den erzieherischen Charakter der Erzählung. Campes Geschichte heißt „Robinson der Jüngere“ und als Untertitel erfährt man, dass das Buch „zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder“ ge-schrieben ist. Bei Campe ist Robinson „absolut mit sich und der wilden Natur der Insel allein. Aus dem Nichts baut er ein neues menschliches Leben auf. Auf seinem Inselaufenthalt (es sind diesmal nur 28 Jahre) wird noch ein-mal alle kreatürliche Angst, ihre Überwindung, die Rückkehr zu Gott, der Aufbau eines gottgefälligen Lebens, alle Mühe, aller Schweiß, sich mit dem Nötigsten zu versehen, geschildert.“18 Damit bei der Rezeption durch Kinder und Jugendliche auch wirklich nichts „Falsches“ gelernt wird, leitet Campe jedes Kapitel mit einer Unterhaltung zwischen ihm und seinen Schülern ein, bei der die „richtige“, d. h. moralisch gültige Interpretation vorgegeben wird.

Dass auch im 20. Jahrhundert Defoes Robinson noch als faszinierende Jugendlektüre (besser: Jungenlektüre) gilt, zeigen drei pädagogische Ver-wendungen:19

Die Arbeitsschule erkennt in der Figur des Robinson ein Vorbild für den zu erziehenden tätigen, selbstständigen Menschen, der durch handwerk-liche und kognitive Tätigkeit sein Leben aus dem Nichts bewältigen kann.

Charlotte Bühler definiert in ihrer Theorie der Lesephasen das „Robinson-alter“ und meint damit Jungen in einem Alter, in dem Abenteuerlektüre von den Kindern gefragt und von den Pädagogen empfohlen wurde.

Aus psychoanalytischer Sicht wird Robinson benutzt, um Pubertätsrebel-lion und Selbstfindung unter Abnabelung von der väterlichen Bindung zu bearbeiten.

Besonders die pädagogischen Verwendungen des 20. Jahrhunderts konzen-trieren sich auf die Kerngeschichte, nämlich den einsamen Kampf des schiff-brüchigen Robinsons um das Überleben auf einer menschenleeren Insel ohne den Komfort der modernen Zivilisation und vollkommen auf sich selbst

18 Bettina Hürlimann, a. a. O., S. 75

19 Vgl.: Reinhard Stach, Robinson Crusoe. In: Klaus Doderer (Hrsg.), Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Band 3. Weinheim und Basel 1979, S. 186 f.

gestellt. In der Regel geht dieser Kerngeschichte eine erzählende Einleitung über die Zeit, in der die Geschichte spielt, die Rolle des Vaters bei der Berufsfindung und bei dem Aufbruch des Jungen mit einem Schiff in unbe-kannte Abenteuer, voraus. Die ersten Reisen von Robinson, sein erster Schiffbruch, seine erfolgreiche „Karriere“ beim Anbau und der Vermarktung von Zuckerrohr in Südamerika, seine Konfrontation mit Piraten bei einer erneuten Reise und die Flucht aus der Sklaverei, in die er durch die Piraten geraten war, werden häufig weggelassen. Diese Kürzungen sind vermutlich Didaktisierungen, durch die die erzieherische Wirkung durch den Überle-benskampf auf der Insel verstärkt und nicht durch kurzweilige oder informie-rende Erzählungen über allerlei Abenteuer eingeschränkt werden soll.

Auch die Produzenten der CD-ROM gehen diesen Weg.20 Nach dem übli-chen Vorspann wird die Erzählung – durch teilweise bewegte Bilder unter-stützt – mit den wichtigsten Daten wie Geburtsjahr des Protagonisten sowie mit dem Jahr des Beginns der Schiffsreise und einigen moralisierenden Kommentaren zu seinen Entscheidungen eingeführt. Danach erscheint auf dem Bildschirm ein aufgeschlagenes Buch, auf dessen linker Seite ein Bild, auf der rechten die Einteilung des Buches in Prolog, vier Kapitel und Epilog erscheint. Fährt man mit dem Mauszeiger über die rechte Seite, so ändert sich das linksseitige Bild, und zwar jeweils bezogen auf den Inhalt des mit dem Mauszeiger angefahrenen Kapitels. Man bekommt also hier eine visu-elle Orientierung, welche Inhalte man in den jeweiligen Teilen zu erwarten hat. Überschriften und damit verbale Hilfen werden hier nicht gegeben.

Klickt man auf die Kapitel, so kommt man an den Anfang des jeweils gewünschten Teiles.

Die vier Teile werden jeweils zu Beginn der Kapitel noch einmal – diesmal verbal – untergliedert, so dass man eine inhaltliche Struktur erhält. Für den ersten Teil sieht das folgendermaßen aus:

Das Abenteuer auf der ‚Insel der Verzweiflung‘ beginnt.

Auf der Suche nach einem schützenden Versteck.

Bau einer sicheren Festung.

Wie alle Anstrengungen zunichte gemacht werden.

Durch Anklicken kann man dann die jeweiligen Abschnitte aktivieren.

20 Robinson Crusoe, nach dem Roman von Daniel Defoe, Tivola, Berlin 1999. Sprecher: Jür-gen Vogel. Produktion und Realisierung: gyoza media

Bei der Rezeption des Textes hat man die Wahl zwischen einem Vorlese- und einem Selbstlesemodus. Beim Umblättern muss man allerdings den Vorlesemodus jeweils erneut aktivieren. Die Lautstärke ist regulierbar; die Sprecherqualität akzeptabel. Die Hintergrundmusik ist dem exotischen Handlungsort angepasst. Sie variiert in den einzelnen Kapiteln, so dass die jeweiligen Handlungen durch Hintergrundgeräusche und -musik untermalt sind. Diese akustische Kulisse kann ausgeschaltet werden.

In den Text werden viele farbige Bilder eingeblendet, zu denen häufig Ani-mationen aufgerufen werden können. Durch Veränderung des Mauszeigers kann man erkennen, dass neben dem Bild eine Animation möglich ist. Die Animationen erläutern häufig das Geschehen. So wird bei der Beschreibung des Hausbaues ein Bild eingeblendet, auf dem vor einer leeren Fläche altes Handwerkszeug zu sehen ist. Klickt man die einzelnen Gerätschaften an, so erscheint Robinson in der Mitte des Bildes und führt die Funktion des jeweils gewählten Handwerkszeugs durch Bearbeiten eines Gegenstandes vor. Das erspart schwierige verbale Erläuterungen und ermöglicht dadurch eine zügige Rezeption.

Bei dem eben geschilderten Bild ist die Reihenfolge der Animationen, die vom rezipierenden Kind gewählt werden, gleichgültig, denn jede Animation bietet eine in sich abgeschlossene Information an. Bei einigen Bildern kann zwar die Reihenfolge beliebig gewählt werden, der Inhalt des Bildes erfor-dert jedoch die Einhaltung eines logischen Ablaufes. So kann z. B. der Pro-zess des Brotbackens vom Pflügen des Feldes bis zum Hineinbeißen in das frisch gebackene Brot animiert werden. Dabei kann man zwar z. B. mit dem Einschieben des fertigen Teiges in den Backofen beginnen und dann erst die Aussaat des Korns animieren; die Sinnlosigkeit der Reihenfolge wird jedoch schnell klar. Das erfordert Aufmerksamkeit bei der Rezeption und kritisches Verfolgen der Interaktion mit dem Bild.

Die Bilder unterstützen den Rezeptionsvorgang, ohne die Phantasie einzu-schränken. Durch die erläuternden Animationen kann man sich mit der Ge-schichte vertiefend auseinandersetzen, ohne aussteigen zu müssen. Vielmehr verweilt man im erzählerischen Geschehen und kann im Umgang mit einer anderen Präsentationsform über einen anderen Sinneskanal aktiv weitere Informationen einholen und verarbeiten. Will der Rezipient / die Rezipientin auf diese medientypische Form der inhaltlich-visuellen Weiterführung der Erzählung verzichten, so ist das ohne Informationsverlust möglich. Die Ani-mationen zu den Bildern sind somit ein individuell zu nutzendes Angebot,

das einen – allerdings eingeschränkten – interaktiven Umgang mit dem Stoff zulässt.

Auf der Ebene der Textpräsentation wird die kinderliterarische Vorlage kom-plett als geschriebener Text und in der vorgelesenen Version präsentiert.

Voraussetzungen hinsichtlich der Vorkenntnisse der Rezipientinnen und Rezipienten werden nicht gemacht, und da die technischen Voraussetzungen durch einen Autostart eine leichte Handhabung ermöglichen, ist die CD-ROM auf der Textebene leicht zugänglich.

Neben der Textebene gibt es eine Spielebene, die formal unabhängig von der Textrezeption zugänglich ist, jedoch ohne Rezeption des Textes kaum nach-vollzogen werden kann. Das Einsteigen in das Spiel ist nur über den Text-modus möglich und geschieht durch Überwechseln in den SpieleText-modus an dafür vorgesehenen Bildern im Textbuch mittels anzuklickender Buttons.

Die Produzenten geben für das Spiel folgende Hinweise:

„Ziel des Spieles ist es, auf der Insel der Verzweiflung zu über-leben und sie schließlich wieder zu verlassen.

Dazu schlüpfst du in die Rolle des Gestrandeten. Alle wichti-gen Hinweise, um dein Leben auf der Insel zu meistern, findest du im Buchteil.

Über eine Karte gelangst du auf die Insel der Verzweiflung.

Nun bist du also gestrandet und musst verschiedene Aufgaben lösen um nicht zu verhungern und zu verdursten oder gar das Opfer wilder Tiere zu werden. Nach und nach entdeckst du weitere Inselabschnitte, die dann auf der Seekarte erscheinen.

Und auch die Zeit schreitet voran.“21

Beginn, Ziel und permanenter Orientierungspunkt ist die Landkarte mit der

„Insel der Verzweiflung“. (Der Name scheint mir ungeschickt gewählt zu sein, da Robinson zwar beim Anblick der für ihn zunächst trostlosen Insel verzweifelt; sie sich ihm dann aber durch seine Initiative und Problemlösefä-higkeit zum positiven Identifikationsobjekt entwickelt.) Das Einsteigen in das Spiel geschieht an einem vor der Insel gelegenen Punkt im Meer, an dem das Schiffswrack liegt, in das man nur an der im Textteil beschriebenen Stelle – dem herabhängenden Tau – einsteigen muss. Hier erledigt man die erste Aufgabe, die sich auch hier inhaltlich eng an Vorgaben aus dem

21 Robinson Crusoe, CD-ROM, a. a. O., Liesmich, S. 4

teil anlehnt und ohne die Information aus dem Text kaum gelöst werden kann. Geht man nach erfolgreichem Abschluss der ersten Aufgabe in den Textteil zurück, so verwandelt sich das Bild im Text, an dem die Aufgabe begonnen hatte, in eine 3-D-Animation. Text und Spiel sind also eng mitein-ander verknüpft. Es sei aber noch einmal daran erinnert, dass der Textteil auch ohne das Spiel rezipiert werden kann.

Nach der Lösung jeder Aufgabe hat man einen weiteren Teil der Insel erkun-det. Das wird auf der Insel durch Hinzufügen von Bildern und durch Ändern des Datums am linken Rand der Karte markiert. Man wird hier noch einmal auf die Zeitdimension aufmerksam gemacht. Damit hängt zusammen, dass es eine Reihenfolge der Aufgaben gibt, die vom Spieler/von der Spielerin ein-gehalten werden muss. Man kann keine Teile der Insel aus Neugier erkunden oder weil es gerade Spaß macht, sondern die Zeitdimension ist durch den Textteil vorgegeben. Lässt man eine Aufgabe aus, kann man nicht weiter-spielen. Von der Logik des Textes ist die Einhaltung der Reihenfolge ein-sichtig. Modisches Zappen etc. ist hier nicht möglich. Ob hier der Robinson-Stoff einmal mehr als Erziehungsmittel eingesetzt wird?

Das Spiel ergänzt das Lesen, macht die beim Lesen gewonnenen Vorstellun-gen plastisch erfahrbar und erfordert durch den Wechsel der Rezeptionsstra-tegie eine Distanz zum gelesenen Inhalt. Es bietet aber gleichzeitig eine Gelegenheit zur Überprüfung der Identifikation, die beim Lesen stattgefun-den hat, da das spielende Kind aus dem Strom des Lesens aussteigen kann, ohne dabei die Welt der beim Lesen erworbenen Vorstellungen verlassen zu müssen. So ermöglicht das neue Medium gleichzeitig Identifikation und Distanz bei einem Optimum an individueller Steuerungsmöglichkeit der Rezeption, und zwar sowohl der Rezeptionsgeschwindigkeit als auch der inhaltlichen Struktur der Geschichte, freilich nur bis zu einem von der Text-logik vorgegebenem Maße22.

Bedauerlich ist, dass die Produzenten nicht die Möglichkeit einer umfassen-den Hintergrundinformation durch eine Art Hypertextlexikon genutzt haben.

Da auf einer CD-ROM sowohl visuelle als auch verbale und auditive Infor-mationen in verschränkter und umfassender Weise vermittelt werden kön-nen, ist hier eine Chance vertan worden.23

22 Vgl. auch: Horst Heidtmann, Robinson Crusoe. Nach dem Roman von Daniel Defoe.

Tivola, Berlin 1999. In: Beiträge Jugendliteratur und Medien, 1/2000, S. 58 f.

23 Dass das Printmedium in eingeschränkter Weise in der Lage ist, Hintergrundinformationen mit der Erzählung zu verknüpfen, kann man an der vom Gerstenberg.-Verlag vorgelegten