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Zur Bedeutung des Bilderbuchs in der bildnerisch- bildnerisch-literarischen Sozialisation des Kindes

4. Bildnerische Grunderfahrungen am Bilderbuch

matt. Schließlich sind die Bildseiten gemäß den Gesetzen der Farbmischung von einem schmutzigen, trüben Grau überzogen. Deprimiert sieht man Malwida vor ihrem Schloß sitzen, eingehüllt in einen grauen Brei. Kein Schreien und Toben helfen ihr aus dieser Krise heraus.

Es ist dann wie im Märchen: erst nach einer Phase der Trauer und Verzweif-lung lösen sich die widerstreitenden Gefühle der Königin, werden Tränen freigesetzt, die sich allmählich in wunderbare Farbtupfer verwandeln, die immer weiter fließen, bis sie endlich zu leuchtenden Grundfarben werden.

Wie von Sternentalern umhüllt sitzt die weinende Malwida inmitten ihrer Tränen und gibt sich ihren Gefühlen hin. Märchenmotiv und Karikatur ver-binden sich zu einer anrührenden Szene. Nun strahlt alles in farbigem Licht.

Malwida und die Farben werden eins. Gelöst und heiter tanzen und fliegen sie über die Bildflächen. Die Farblinien wandeln sich mal zu dynamischen Strudeln, mal zu heiteren Skizzen, und immer ist es die befreite Malwida, die im Zentrum des Farbspiels steht. Die Farben sind nicht länger die Untertanen der Königin, und sie muß sie nicht länger herbeischreien. Sie sind zu Spiel-gefährten geworden, ja, Teil ihrer selbst. Indem sie die Farben in sich selbst entdeckt, kann sie die widerstreitenden Gefühle in sich vereinen und endlich zu sich selbst finden. Es scheint, als strömten die Farben nun aus ihr heraus, als produziere sie mit jedem Tanzschritt neue Lebensenergie durch Farb-ströme. Überwältigt gibt sich Malwida der Macht der Farbe hin. Aus ihren borstigen Haaren strömen Farbbündel wie aus einer Farbtube.

Man spürt es: Die Illustratorin hat sich von Malwidas neuer Lebenslust anstecken lassen. Die zeichnende Hand folgt den tanzenden Bewegungen der kleinen Figur, läßt die Stifte übers Papier fliegen, skizziert hier und da eine flüchtige Idee und gibt sich lustvoll dem Rausch der Farben hin. Im vorletz-ten Bild deckt Blau, die alles umfassende, ‚versöhnende‘ Farbe, die vor Glück erschöpfte Königin zu. Auch die Illustratorin legt die Buntstifte zur Seite. Ihre Aufgabe als ‚Untertan‘ ist beendet. Sie hat ihrer Königin die Far-ben geschenkt, die diese so dringend Far-benötigte. Nun bleibt ihr nur noch, den Kindern eine Doppelseite „für eigene Versuche“ anzubieten – kein pädagogi-scher Trick, sondern ein verführeripädagogi-scher Schritt nach so vielen motivierenden Vorlagen und Anregungen.

Jutta Bauers „Die Königin der Farben“ ist ein Bilderbuch von doppelter Les-art: ein Märchen von einer farblosen Königin, die erst die Farben in sich selbst entdecken muss, um glücklich zu werden. Mit wenigen schwarzen Pin-selstrichen charakterisiert die Illustratorin die wechselnden Gefühle ihrer

Hauptfigur, indem sie sich der Mittel der Karikatur und Pointierung bedient.

In ihrer knappen, reduzierten Formensprache entwickeln die Illustrationen eine starke Expressivität, die bereits den gleichnamigen Zeichentrickfilm auszeichnete.

Ganz unaufdringlich und unpädagogisch legt Jutta Bauer zugleich ein Farb-skizzenbuch über die Entdeckung der Farbe und die Lust am freien Zeichnen vor. Die freie Zeichnung erhält einen eigenen bildnerischen Wert und verbin-det sich doch mit den figürlichen und erzählerischen Motiven zu einer selbst-verständlichen Einheit.

Der Gefühlswert der Farben spielt auf der narrativen wie auf der bildneri-schen Ebene eine zentrale Rolle. Zuerst schwebt das Blau in locker gekräu-selten Strichen ins Bild hinein, berührt die Königin, legt sich sanft um sie und zieht wieder davon. Das Rot dagegen stürmt auf sie zu, wirft sie fast um.

Der Farbstrich ist nun härter, die Form des roten Knäuels aggressiver. Das aufziehende Gelb verschafft der Königin ein Wechselbad der Gefühle, wärmt und umhüllt sie, ist aber auch „zickig und gemein“, genau wie die streitsüch-tige Malwida. Später, wenn die Hauptfigur die Farben in sich selbst entdeckt, strömen die Farben wie ein Feuerwerk aus ihr heraus. Mit jedem Tanzschritt entsteht neue Lebensenergie durch Farbströme. Jutta Bauer hat sich von der wiederentdeckten Lebenslust ihrer gezeichneten Heldin anstecken lassen.

Die zeichnende Hand folgt den tanzenden Bewegungen der kleinen Figur, läßt die Stifte übers Papier fliegen, skizziert hier und da eine flüchtige Idee und gibt sich lustvoll dem Rausch der Farben hin. So wird das Zeichnen selbst zu einem zentralen Motiv der Bilder.

Nimmt man das labile Buch „Rotrothorn“ von Kv WD 3DFRYVNà aus dem Schuber und öffnet es, beginnt ein Spiel, das „in der Mitte der Papierwelt“

angesiedelt ist. Die Mitte der Papierwelt – das ist der eigene Zeichentisch der Prager Künstlerin, an dem sie mit Linie, Farbe und Form spielen kann. Dort ist sie ganz bei sich. Anlaß und Vorwand für ihre ungebrochene Lust am Zeichnen, Malen und Experimentieren ist der kleine Hauptakteur des Spiels, das „Kritzelmännchen“, das sich seine 13 Mitspieler beim Zeichnen selbst erfindet und ihnen dabei die merkwürdigsten Namen gibt: „Rotrothorn“,

„Lochlochlocher“, „Karo-Rhino“ oder „Tastenhorn“. Das Kritzelmännchen ist ein kleines, anarchisches Wesen, mal Farbfleck, mal Zeichenstift, ausge-rüstet mit einem langen Pinsel. Die Namen, die es erfindet, sind eng ver-knüpft mit den bildnerisch-sinnlichen Qualitäten der Buchseiten. „Am Mon-tag formt das Kritzelmännchen den Lochlochlocher“. Schon klappt dem

Betrachter eine gestanzte, durchlöcherte Papierplastik entgegen. Augen und angedeutete Arme ergeben eine beinahe abstrakte Figur, den „Lochloch-locher“. Durch die Löcher hindurch spiegelt sich das Rot der Rückseiten auf hochglänzender Folie. Zieht man die aufgeklappten Lochseiten höher, ergibt sich eine sechskantige Papierplastik, ein Raum hinter der Erzählschicht, der das Buch zum Objekt werden läßt. Die Spiralheftung der Seiten ermöglicht dabei eine Dehnung des labilen Objekts in verschiedene Richtungen. Das

„Tastenhorn“ dagegen ist eine reliefhaft gestaltete Seite mit unzähligen klei-nen erhabeklei-nen Punkten, die man erfühlen und ertasten muss. Auch hier redu-zieren sich die figürlichen Anteile auf ein Minimum.

Beim Blättern, Fühlen und Aufklappen der Seiten wird immer deutlicher, dass es Kv WD 3acovskà eigentlich nicht um das Spiel mit Figuren in einer direkten Erzählhandlung geht, sondern um das freie Experiment mit den Buchseiten, um sinnliche Farb- und Formspiele, um plastische Erfahrungen im Medium Buch. Fast scheint es so, als sei die kleine Geschichte vom Krit-zelmänchen nichts weiter als eine lästige Konzession an das traditionelle Geschichtenerzählen für Kinder. Tatsächlich ‚erzählt‘ Pacovskà auf ihre ganz eigene, visuelle Weise jenseits literarischer Normen und Gewohnheiten. Sie erzählt in bildnerischen Kategorien: von der Magie der leuchten Farben, vom Kontrast zwischen Rot und Grün, vom Zusammenprall von Schwarz gegen Blaugrün. Sie erzählt auch von den überraschenden Einblicken und Durchblicken, die die Öffnungen der Seiten freigeben.

Kann man in farbigen und plastischen Dimensionen ‚erzählen‘? Kann man noch von Erzählen sprechen, wenn die Handlung der Fantasie des Betrach-ters selbst überlassen wird? Gehen etwa im Abtasten einer Bildfläche die narrativen Qualitäten verloren oder erweitern sie sich vielmehr zu umfassen-den Erfahrungen? Kv WD 3DFRYVNàs Buch zeigt Spielräume des Erzählbe-griffs auf und weitet die Grenzbereiche zwischen Erzählen, Beschreiben und sinnlichem Erleben. Zu solchen übergreifenden Erfahrungen in der Kinder- und Jugendliteratur liegen kaum Definitionsversuche vor.

Wenn das Kritzelmännchen am Ende des Buches alle Mitspieler zu Papier gebracht hat, legt es sich nieder und schläft ein. „Wie sieht dein Rhino aus?

Willst du es malen, formen oder bauen?“, fragt die Künstlerin nun die Kin-der, die das Buch in den Händen halten. Nicht Beschäftigungstherapie ist der Anlass dieser Frage, sondern der Wunsch, das Kind in das Spiel mit Farbe, Form und Raum aktiv einzubeziehen, freilich immer noch gebunden an den lockeren Faden der Handlung und Figuren. Und wenn ein Kind tatsächlich

aus gefalteten und geschnittenen Papieren die Geschichte vom „Kubus-Rhino“ oder dem „Schwarzhorn“ weiterbauen und weiterformen würde und dabei lustvoll mit Farben hantieren würde – wäre das nicht auch eine Form der ‚Erzählung‘?

Es scheint auf die Perspektive anzukommen, unter der man Bilderbücher betrachtet. Erblickt man nur die Handlung, sucht man nur das vertraute Muster, die erinnerte Bildästhetik, bleibt der Blick auf die ästhetischen Lern-potentiale der Bücher möglicherweise verdeckt. Dann werden Räume, Gesten oder die Entfaltung eines Themas übersehen. Bilderbücher sind aber komplexe ästhetische Objekte, an denen Kinder auf spielerische Weise und über narrative Formen Zugänge zu Grundfragen der Kunst entdecken könn-ten – vorausgesetzt, die Erwachsenen erkennen ihre besondere Verantwor-tung bei der Vermittlung zwischen Kind und Kunst und geben den Bilderbü-chern eine Chance, in diesen Vermittlungsprozessen eine Rolle zu spielen.

Abb. 13 – Rotrothorn (1998)

5. Literatur