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Der kinder- und jugendliterarische Ertrag des Goethejahres 1999

4. Sehen – Schauen – Lesen: ein Comic-Versuch zum Goethejahr (Irmhild Wragge-Lange)

Kindern des 20./21. Jahrhunderts Goethe zugänglich zu machen, ist ein schwieriges Geschäft, und man sollte den Versuch von Friedemann Bedürf-tig (Text) und Christoph Kirsch (Illustrationen) (1999a) unter dem Aspekt betrachten, Neugier zu wecken und erste Informationen zu Johann Wolfgang von Goethes Leben und Werk zu liefern. Dass das eine „verwegene Idee“ ist, weiß auch Hilmar Hoffmann, der als Präsident des Goethe-Institutes als Mit-herausgeber der beiden Comic-Bände fungiert, und fragt dann: „Was würde Goethe dazu sagen?“ Zweifeln an dieser Mediatisierung des Dichterfürsten versucht er durch einen Hinweis auf eine Goethe zugeschriebene Maxime zu begegnen, in der es heißt: „Wir reden zuviel, wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen“ (aus dem Vorwort). Die Einladung, „auf unkonventio-nelle Weise sich mit einem der bedeutendsten Dichter und Denker der deut-schen Geschichte vertraut zu machen“ (ebenda) wird also mit dessen Zugang zu Bildern begründet, nicht mit der eigentlichen Klientel, den heutigen Kin-dern und Jugendlichen, deren Beziehung zu BilKin-dern eine andere sein dürfte als die von Menschen aller Altersklassen und Stände der Goethe-Zeit.

Der erste Band umfasst die Zeit der Geburt, die Kindheit und Jugend ein-schließlich einer Beschreibung seiner Familie und der bürgerlich-behüteten Verhältnisse, in denen er aufwachsen konnte, die Studienzeit in Leipzig, die durch die schwere Erkrankung abgebrochen wurde, die Fortsetzung der Stu-dien in Straßburg einschließlich der Begegnung mit Friederike Brion und die Trennung von ihr, die Entstehung des „Götz“ und schließlich seine Liebe zu Charlotte Buff, die er durch den „Werther“ unsterblich machte. Es folgt eine Episode, die Klinger und den Sturm und Drang einführt, seine Ankunft in Wiemar wird beschrieben und seine unterschiedlichen Aktivitäten als Mini-ster, Dichter, Naturforscher und Lebemann werden dargestellt. Es folgen Episoden über die erste italienische Reise; abgeschlossen wird der erste Band durch die erste Begegnung mit Christiane Vulpius.

Obwohl es sich um einen Comic handelt, steht die sprachliche Vermittlung der Informationen im Vordergrund. Dabei werden sowohl Zitate aus Goethes Werken als auch moderne erzählende Sprache innerhalb der einzelnen Epi-soden und Informationen im Stil eines Lexikons benutzt. Die Zitate aus Goethes Werken sind durch eine besondere Schriftart herausgehoben.

Auch im Bereich der Bilder gibt es unterschiedliche Ebenen. Maler, die Goethe dargestellt haben wie Tischbein u. a., werden häufig zitiert, wobei die Zitate zum Teil verfremdet werden. Die Umgebung, in der Goethe gelebt hat, wird durch Zeichnungen abgebildet, die vermutlich auf Fotografien basieren, so dass auch hier eine gewisse Authentizität erreicht wird. Dass es auch eine Reihe nicht festzumachender Bilder gibt, liegt in der Natur des Genres Comic. Goethe selbst wird von seiner Geburt bis zur Begegnung mit Christiane Vulpius immer wieder dargestellt. Hier wird durch die Darstel-lung mit Knopfaugen und Wuschelmähne wenig Individuelles gezeigt.

Als Beispiel für den Aufbau einer Episode soll die Seite über den „Werther“

dienen (Abb. 5). Die Seite ist geteilt; in der oberen Hälfte befindet sich ein Bild, das Werther im Studierzimmer zeigt, den Revolver an die Schläfe gedrückt, den Abschiedsbrief auf dem Schreibtisch. In die rechten Seite des Bildes ist eine Vergrößerung hineinmontiert, die den zeitlichen Ablauf – Brief schreiben, Selbstmord – demonstriert. Zwei Texteinschübe erklären die Bilder – und damit den „Werther“:

„Das Erlebnis mit Lotte gestaltet Goethe in seinem Roman „Die Leiden des jungen Werthers“. Damit überwindet er seinen Liebeskummer. Ein Kollege in Wetzlar aber, ebenfalls unglücklich verliebt, ...“

„Sie ist geladen. Es schlägt zwölfe! So sei es denn! – Lotte! Lotte, lebe wohl!

Lebe wohl!“ (S. 23)

Durch den oberen Text soll eine Verbindung zwischen der auf der linken Seite erzählten Begegnung zwischen Goethe und Charlotte Buff und der Ent-stehung des „Werthers“ hergestellt werden; der zweite Text wird durch Sprechblasen mit dem Mund des gezeichneten Werthers verbunden und ist ein Zitat, das jedoch – wie alle Zitate des Comics – nicht belegt ist. Lediglich eine veränderte Schrift deutet an, dass es sich um ein Goethe-Wort handelt.

In der unteren Hälfte der Seite sind zwei Bilder, auf der linken Seite sieht man sechs Männer einen Sarg tragen. Im Bild steht das Zitat „Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.“ Bild und Text werden durch das daneben stehende Bild erklärt, das die Reaktion der Kirche auf

Selbst-mord zweifach thematisiert, nämlich als sachliche Erklärung in einem „Lexi-konkasten“ und als Sprechblase, die zu einem Geistlichen auf einer Kanzel führt, der seiner Gemeinde erläutert, warum vor Gott Freitod verwerflich ist.

Abb. 5 – Der Goethe-Comic (Bedürftig 1999, 22f)

Für den „Werther“ wird also eine einzige Seite verwendet. Dass das dem Roman nicht gerecht wird, bleibt unbenommen, denn wesentliche Informa-tionen werden nicht vermittelt. Trotzdem kann das lesende Kind einen Ein-druck über das Werk bekommen: Die Thematik des unglücklich Liebenden wird deutlich, und es wird auch die Reaktion auf den Selbstmord Werthers in der damaligen Zeit problematisiert. Beides kann Spannung und Neugier zum Lesen des eigentlichen Textes erzeugen. Ob es aber dem „Werther“ gerecht wird – und ob Kinder und Jugendliche durch die Lektüre des Comics wirk-lich zum Lesen angeregt werden, bleibt absolut offen.

„Zum Schauen bestellt“, der zweite Band des Goethe-Comics (1999b), umfasst zeitlich den restlichen Teil von Goethes Leben, setzt also in Weimar ein, und zwar mit Reisevorbereitungen für die Teilnahme am Krieg gegen Frankreich bis zu seinem Tod. Im Aufbau unterscheidet sich dieser Teil

grundlegend von seinem Vorgänger. Der Faust wird zur Leitfigur der Gestal-tung; das Leben Goethes wird mit Szenen aus diesem Drama verknüpft.

„Stationen aus Goethes Leben sind verwoben mit Szenen aus seinem Stück:

Auf die Wette zwischen Gott und dem Teufel folgen Blicke ins private Leben Goethes, Gespräche mit dem Freund Schiller, Beispiele für ihre poeti-sche Welterklärung“ (aus dem Vorwort).

Diese integrierte Konzeption macht die Rezeption des Comics für Kinder und Jugendliche problematisch. Voraussetzung, um die einzelnen Episoden zu verstehen, ist zunächst, dass man unterscheiden kann zwischen den Zita-ten aus dem „Faust“ und aus anderen Werken Goethes und auch Schillers (z. B. der Apfelschussszene aus dem „Tell“). Das ist gerade bei Kindern und Jugendlichen, für die dieser Comic ja gedacht ist, kaum zu erwarten. Visuelle Hilfen, etwa durch eine veränderte Schrifttype wie das im ersten Band prak-tiziert wurde, werden nicht gegeben. Auch die Bilder, die zum „Faust“ gehö-ren, unterscheiden sich kaum von denjenigen aus dem Alltagsleben Goethes.

Dass die z. T. banalen Szenen z. B. mit Sohn August und einer Puppe nicht in den „Faust“ gehören, können Kinder noch nicht einmal ahnen.

Aus der Sicht der erwachsenen Leser – vielleicht sogar der Goethe-Kenner –, mag die Integration zwischen Alltagsleben und „Faust“ gelungen erscheinen.

Ob sie Kinder zum Lesen von Goethe-Texten oder zur Beschäftigung mit der Figur Goethes und darüber hinaus der Weimarer Klassik anregt, bleibt offen und eher zweifelhaft.

Am Ende der beiden Comics befindet sich eine übersichtliche Biografie Goethes, deren Text und Bilder in beiden Bänden identisch sind (Ausnahme sind einige farbige Drucke im Band 1, die im Band 2 nur schwarz/weiß erscheinen). Abgeschlossen werden beide Bände mit kommentierten Text-proben aus den jeweils erwähnten Werken. Diese werden außer in deutscher auch in englischer, spanischer und französischer Sprache abgedruckt.

Alle an der Konzeption und Herausgabe dieser Comics Beteiligten waren und sind sich im klaren, dass es ein Versuch ist, Goethes Leben und Werk in einem modernen Medium jungen Menschen des 20./21. Jahrhunderts zugänglich zu machen. Das letzte Wort haben die jungen Leserinnen und Leser. Ob sie diese Art der Goethe-Tradierung akzeptieren werden, steht zumindest zu bezweifeln.