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Mediale Erfahrungsräume jenseits von Märchen und Fantasy

3. Der Neue Deutsche Kinderfilm

Astrid-Lind-gren-Filme konnten Erfolge verbuchen, bedienten aber mit ihrer zunächst provozierenden Neigung Erziehungsinstanzen in Frage zu stellen, zumindest in den 60er/70er Jahren nicht gerade die Erwartungen vieler Eltern (vgl.

Topsch 1989:3/4). Das Charakterisieren von Kindheit als eher harmlose Idylle sorgte später allerdings für eine positive Rezeption dieser Filme, denn bis heute strömen Kinder und Erwachsene in „Pippi Langstrumpf“- oder

„Büllerbü“-Filme und erhalten so viele Kinderkinos am Leben.

Insgesamt aber stagnierte die formale wie thematische Weiterentwicklung des Kinderfilms, an dem zunächst auch Tendenzen der Entpädagogisierung und auf Emanzipation zielende Umwertung erzieherischer Ideale Ende der 60er Jahre vorbei liefen.

Pippi Langstrumpf, 1969 Tschetan, der Indianerjunge, 1972

Jugendlichen zu einer eigenständigen Identität zu finden beschreibt. Bohm wendet sich ausdrücklich gegen eine Etikettierung des Films als Kinderfilm, denn er drehe Kinofilme und setze sich nur mit Dingen auseinandersetze, die ihn beschäftigen (vgl. Heidtmann 1992: 37). Aus der Äußerung wird zum einen die aus der Geschichte resultierende diskriminierende Bedeutung des Begriffs „Kinderfilm“ deutlich, zum anderen aber zeigt Bohm, dass nicht die Wirkungsorientierung, also Erziehung oder Belehrung, bei der Produktion des Films eine Rolle spielen, sondern dass es darum geht, glaubhafte und ästhetisch überzeugende Geschichten zu erzählen, die an eigene Wirklich-keitserfahrungen anknüpfen, bei denen der Filmemacher selbst alleinige Reflexions- und Prüfinstanz ist. Bohm hat es bewusst vermieden, Annahmen über Zielgruppe und Wirkung zu formulieren, vielmehr sieht er sich in der Rolle des Künstlers, der künstlerisch-mediale Produkte erstellt, die zufällig auch für Kinder geeignet sind. Eine abgewandelte Form des Ausspruchs von Maxim Gorki: „Für Kinder muß man ebenso schreiben wie für Erwachsene, nur besser.“ (Strobel 1989: 25) Ein Beleg für die Aufbruchstimmung jener Jahre ist, dass Bohms Filme wie „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig“ (1974),

„Nordsee ist Mordsee“ (1975) oder „Moritz, lieber Moritz“ (1976) auch an der Kinokasse relativ erfolgreich waren und das schlechte Image des Kinder-films zumindest in Ansätzen revidierten.

Mit der Gründung des Remscheider Kinder- und Jugendfilmzentrums 1977 hat es einen beachtlichen Schub in Richtung eines ambitionierten, emanzi-patorischen Kinderfilms gegeben, in denen erstmals kindliche Konflikte und mögliche Konfliktlösungen thematisiert wurden. Gegenwartsprobleme, zwi-schenmenschliche Beziehungen, die Auseinandersetzung mit Staat und Geschichte, Umweltbedrohungen oder bislang tabuisierte Bereiche wie z. B.

Tod und Gewalt oder die Geschlechterrollenproblematik wurden für den Kinderfilm entdeckt, mit der Absicht aufzuklären, neue Sichtweisen und Ein-sichten zu vermitteln, Gegenentwürfe anzubieten. Beispiele dieser „neuen Filme“ sind z. B. „Die Vorstadtkrokodile“ (Wolfgang Becker, 1977), der sich für den Abbau von Vorurteilen und die Integration von Behinderten ein-setzt, „Der rote Strumpf“ (Wolfgang Tumler, 1980) eine Außenseiterge-schichte, die das Verhältnis von Kindern und alten Menschen bzw. die Pro-bleme von Altersverwirrtheit und Psychiatrie vermittelt, „Novemberkatzen“

(Sigrun Koeppe, 1986) ist eine Geschichte aus den 50er Jahren und erzählt über die Schwierigkeiten des Aufwachsens in Armut und Lieblosigkeit.

Gemeinsam ist allen Filmen, dass sie versuchen, aus der Perspektive von Kindern Wirklichkeit zu spiegeln, mit dem Ziel, sich vom Illusionismus und

Eskapismus des traditionellen Kinos zu lösen und bislang ausgeklammerte Aspekte von Wirklichkeit bewusst und zumindest medial erfahrbar zu machen. Neben den genannten gelungenen, weil ästhetisch-dramaturgisch anspruchsvoll und aktuell erzählten Beispielen, entstanden zur gleichen Zeit etliche konstruiert und „kopflastig“ wirkende, auf eindeutige Aussage bzw.

Belehrung abzielende Produktionen, die das Image des „neuen“ deutschen (Kinder)Films auch negativ geprägt haben. Auslöser dafür war letztlich eine Art „Gebrauchsanweisung“ für einen „guten Kinderfilm“, die in den 70er Jahren u.a. vom Förderverein Deutscher Kinderfilm entwickelt wurde: Gute Kinderfilme seien Produktionen, in denen Kinder ernst genommen werden, eigene Lebensformen finden, ihren Träumen nach hängen können. Gute Kin-derfilme zeichnen sich aus durch gute Darsteller, glaubhafte Geschichten, optimale filmische Gestaltung, durchgehende Handlung, Verständlichkeit;

sie sollen an Erlebnisse des Alltags anknüpfen, die Umwelt verständlich machen, gesellschaftliche Verhältnisse richtig wiedergegeben, keine Schein-realität, sondern positive Vorbilder zeigen, Gefühle ansprechen, zu selbstän-digem Handeln anregen, Probleme hinterfragen und erklären, eine Vertraut-heit mit dem Massenmedium Film herstellen, Wissen von den Gestaltungs-möglichkeiten von Film vermitteln u. v .m. (Strobel 1989: 25f).

Der Kinderfilm hatte demnach neben medienpädagogischen Aufgaben auch Lebenshilfe für Kinder zu sein, hatte soziale Aufgaben, Erklärungsmuster und Werteorientierungen anzubieten, darüber hinaus sollte er Konflikt-lösungsstrategien vermittelten und unterhalten. Die Vielzahl der z. T. sehr plakativ formulierten Kriterien zeigt, in welcher „bleiernen Umklammerung“

sich das Medium befunden hat und immer noch befindet. Im Spannungsfeld

„ästhetischer, ökonomischer, pädagogischer und pragmatischer Filterinstan-zen und Steuerungsprozesse“ (Thiele 2000:16) durch Regisseure, Autoren, durch Produzenten und Politiker (Filmförderung), durch Pädagogen, Eltern, Kritiker mit jeweils hochgesteckten, sich zum Teil widersprechenden An-sprüchen und Überfrachtungen konnte der problemorientierte Film letztlich nur scheitern und hat sich als Prototyp eines erneuerten Kinderfilms nicht durchsetzen können. In bester Absicht produziert und mehr ein pädagogi-sches Konstrukt denn ein künstleripädagogi-sches Produkt, wirken die in vielen Filmen dargestellten Konflikte aufgesetzt, die Figuren leblos und künstlich, der Humor gequält, die Filmsprache betulich, die Dramaturgie langatmig und

spannungslos.6 Die anscheinende Notwenigkeit des Konsenses, der eng mit dem Selbstverständnis des Mediums verknüpft ist, das sich im Spannungs-feld zwischen Kunst, Pädagogik und Markt, aber durch die Filmförderung auch im Blickfeld der Politik befindet, hat eine wirklich innovative auch ästhetisch grenzüberschreitende Belebung des Kinderfilms verhindert.

Allerdings konnte man bei der „Neuentwicklung“ des problemorientierten Kinderfilms in Deutschland auf keine Vorbilder zurückgreifen, sondern nur an eigenen Vorstellungen und Erfahrungen anknüpfen, so dass die subjektive Sicht auf Kinder und Kindheit, die Antizipierung von Erwartungen und Vor-stellungen, von Bedürfnissen und Belastbarkeit der Zuschauer zu einer

„Kopflastigkeit“ und Schematisierung der Produktionen führten. Die o. g.

Kriterien für einen „guten Kinderfilm“ wirken in ihrer offen Formulierung zwar zunächst als positive Leerstellen, die Kinder als Filmrezipienten ernst nehmen, in ihrer Fülle aber werden sie zu einem beengenden Korsett, das einer freien, künstlerischen Bearbeitung der „neuen“ Themen im Wege stand und steht.

Dem Kinderfilm der 80er Jahren haftete zwar nun nicht mehr das Etikett der lähmenden Harmlosigkeit bzw. der Ausgrenzung kindlicher Interessen oder Bedürfnissen wie in den 50er Jahren an, sondern eher das der ernsten, intel-lektuell überfrachteten Belehrung und Besserwisserei. Trotz der schon damals formulierten Kritik war der „Neue Deutsche Kinderfilm“ ein Indiz für die Neupositionierung und Aufwertung des Kindes in der Gesellschaft, das nicht nur in seinen Bedürfnissen nach Unterhaltung und Spaß respektiert wurde. Erstmals wurde der Fokus gerichtet auf individuelle Konflikte, aber auch auf soziale Wirklichkeit von Kindern, die endlich als erntzunehmender Teil der Gesellschaft betrachtet wurden. Auch das Medium selbst wurde als elementarer und nicht zu unterschätzender Bestandteil einer sich ausweiten-den Kinderkultur wahrgenommen. Medien, besonders das Fernsehen, spiel-ten im Kinderalltag eine zunehmend zentrale Rolle, dabei sollte der Film kontrollierte Gegenbilder liefern bzw. als visuelles Korrektiv für den zuneh-menden, als bedrohlich unkontrollierbar empfundenen Fernsehkonsum die-nen. Einwenden kann man, trotz einer generellen positiven Bewertung dieser Entwicklung, dass die „Macht der Bilder“ anzuerkennen und für die Vermitt-lung, wenn auch von „neuen“ Normen und Werten zu (be)nutzen, eine

6 Beispiele sind u. a nach meiner subjektiven Einschätzung:, „Ein Tag mit dem Wind“

(1978), „Metin“ (1979), „Rosi und die große Stadt“ (1980), „Konrad aus der Konserven-büchse“ (1983), „Echt tu matsch“ (1984), „Jakob hinter der blauen Tür“ (1987).

erneute Instrumentalisierung des Kinderfilms unter allerdings verschobenen Vorzeichen, im Sinne der sozialkritischen Tendenz der Nach-68er-Zeit bedeutet.

Arend Agthe, einer der wenigen bekannten Kinderfilm-Regisseure, formu-lierte das Dilemma 1994 so: „Hier [in Deutschland, d. V.] überlässt man den Kinderfilm sogenannten Spezialisten, sogenannten Pädagogen. Auf der einen Seite gibt es die behütete Kinderkultur, auf der anderen Seite den Schrott (...) Nichts dazwischen.“ (epd-Film 1994: 13)

Dass Arend Agthe mit seiner pessimistischen Einschätzung nicht ganz Recht hat, zeigen einige wenige deutsche, mehr noch internationale Kinderfilme, die scheinbar Unvereinbares vereinbaren, nämlich ästhetisch und inhaltlich anspruchsvoll Geschichten zu erzählen, die geprägt sind von Authentizität und Humor, die für Kinder wie Erwachsene spannend sind, ohne Belehrung auskommen und auch noch ein differenziertes Bild von Wirklichkeit spie-geln. In „Lisa und die Riesen“ (D 1982) ist es die plötzliche Arbeitslosigkeit des Vater, in „Die Vogelscheuche“ (UdSSR 1984), die Konfrontation mit Ausgrenzung und Vorurteilen, in „Ake und seine Welt“ (Schweden 1984) die erste Begegnung mit sozialen und gesellschaftlichen Hierarchien, in „Am großen Weg“ (Frankreich 1987) werden Streit und wachsende Entfremdung zwischen den Eltern thematisiert. Alle diese, aus der Perspektive von Kin-dern erzählten, in Alltagsgeschichten integrierten Konflikte leiten eine Ent-wicklung ein, die das Leben oft dauerhaft beeinflussen. Die Filmhelden reagieren mit Verwirrung, Zorn, Flucht oder kurzfristige Resignation auf die Veränderungen innerhalb ihres sozialen Umfeldes, aber bei aller Ernsthaftig-keit und gelegentlich auch Tragik bewirken sie immer eine Stärkung des kindlichen Selbst.

An dieser Stelle sollen einige problemorientierte Filme vorgestellt und einer exemplarischen Kurzanalysen unterzogen werden. Ein Ergebnis sei vorweg genannt, das auch für die eben genannten gilt: Der neue, problembezogene Kinderfilme erzählt in erster Linie von etwas und nicht für jemanden. Die Zielgruppe bzw. die Frage nach der Eignung und der Altersempfehlung wer-den deshalb hier vernachlässigt, da Film vor allem ein künstlerisches, kein pädagogisches Produkt ist, dessen komplexes inhaltliches, formales und erzählerisches Konzept stimmig und überzeugend sein muss. Das zentrale Gerüst des Films, seine Komposition, Fragen nach dem ästhetischen System, zu den Stilmitteln, Fragen zur Handlung, zu den Figuren, zum Bereich Werte bzw. Ideologie sind Aspekte einer strukturalistischen Analysemethode, die

hier ansatzweise reflektiert wird. Das Verhältnis von medialer Wirklichkeits-konstruktion und konkreter Realitätserfahrung ist dabei der entscheidende Bezugspunkt.