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Die CD-ROM – ein neues Medium in der KJL

2. Beispiele aus der neuesten CD-ROM-Produktion

2.1 Zauberhaftes vom Monitor: Michael Ende / Annegret Fuchshuber (Ill.): Das Traumfresserchen

Jugendliche, das in besonderer Weise dieser „Doppelperspektivität“ von Sozialisation gerecht wird. Bettina Hurrelmann weist darauf hin, dass dieser Aspekt noch wenig in der Kinder- und Jugendliteratur-Forschung berück-sichtigt wird.6

Ob kinderliterarische Texte auf CD-ROM Kinder zum Lesen motivieren können, wird natürlich zunächst von der Vorlage abhängen. Ich vermute jedoch, dass bei Ausnutzung der Möglichkeiten dieses Mediums Kinder mit nur geringer Leseerfahrung bzw. -motivation zumindest Anregungen bekom-men. Dabei ist „Lesen“ nicht an das Printmedium gebunden, sondern durch-aus auch mit anderen Medien, z. B. am Computer vorstellbar.

Lesen und der Umgang mit dem Computer werden geschlechtsspezifisch unterschiedlich beherrscht. Beide Kulturtechniken sind jedoch Vorausset-zung, um am öffentlichen Leben in dieser Gesellschaft teilnehmen zu kön-nen. Mädchen haben häufig eine Distanz zum von ihnen eher als technisch und damit fremd erlebten Computer. Kinderliterarische Vorlagen, die in erster Linie Mädchen ansprechen und wenig technische Schwierigkeiten bieten, könnten eine Brücke zwischen beiden Kulturtechniken sein.

Die letzte Fragestellung könnte man zusammenfassen mit dem Hinweis, dass durch den Umgang von Kindern mit Literatur auf CD-ROM möglicherweise Teilbereiche ihrer Medienkompetenz entwickelt werden können.

gabe (dtv 1991), eine Verfilmung durch den Bayerischen Rundfunk (1995) und zuletzt eine CD-ROM-Version (1999) vom Erfolg dieses Buches.

Wie in vielen Geschichten von Michael Ende wird die Handlung in eine phantastische, zauberhafte Welt verlegt. „In Schlummerland ist das Wichtig-ste für alle Leute das Schlafen ... Wer gut schlafen kann, .. der hat ein freund-liches Gemüt und einen klaren Kopf. Und deswegen machen sie denjenigen, der am besten schlafen kann, zu ihrem König.“8 Und da Könige immer Kinder haben müssen, gibt es die Prinzessin Schlafittchen – und der passiert das für Schlummerländer Furchtbarste: Sie hat böse Träume und kann deswegen nicht schlafen. Der Vater ruft die Weisen, Ärzte und Professoren des Landes und bittet sie um Rat – vergebens. Der erlösende Schlaf will sich bei der Prinzessin nicht einstellen. Da macht er sich schließlich selbst auf den Weg und findet nach einer abenteuerlichen Reise ein seltsames Wesen, das sich ihm als das „Traumfresserchen“ vorstellt. Der König schildert ihm sein Problem. Die Lösung, die das Traumfresserchen dem Vater vorschlägt, besteht in einem gereimten Spruch. Nachdem der Spruch aufgeschrieben wurde, setzt sich der Vater auf den Buckel des Traumfresserchens und beide fliegen über Berg und Tal zurück zum Schloss des Königs, wo sie die Prinzessin tatsächlich von ihrem Leiden erlösen können. Von nun an ist die Welt der Prinzessin und ihres Vaters wieder in Ordnung.

Es handelt sich bei diesem Kunstmärchen um die uralte Geschichte von den bösen Träumen der Kinder, durch die ihre Ängste und Sorgen symbolisiert werden. Probleme – auch die psychischen von Kindern – können durch eigene Initiative oder durch Geschehnisse, zu denen die betroffenen Kinder selber nichts beitragen können oder sollen, gelöst werden. In Michael Endes Erzählung wird der zweite Weg beschritten. Die Prinzessin ist zur vollkom-menen Inaktivität verurteilt; sie leidet unter ihren bösen Träumen und erleidet die Befreiung davon durch das von ihrem Vater gefundene Traumfresser-chen. Sie selber tut nichts – ja, kann nichts tun, um sich aus dieser väterli-chen Umklammerung zu lösen. Die Mutter spielt lediglich eine traditionell weibliche Statistenrolle, z. B. als sich der König aufmacht, um eine Lösung für Schlafittchens Probleme zu suchen. („Sie bügelte ihm seinen Reiseanzug, den er schon lang nicht mehr getragen hatte, und packte ihm einen Rucksack voll Proviant.“9)

8 Michael Ende – Annegret Fuchshuber (Ill.), Das Traumfresserchen. München (dtv) 1991, ohne Seitenzahlen

9 Ende / Fuchshuber, a. a. O., ohne Seitenzahl

Im Gegensatz zu anderen Erzählungen und Romanen, z. B. „Momo“ oder

„Die unendliche Geschichte“, in denen die Rolle des Kindes bis zur Erlöser-figur interpretierbar ist, wird hier ein inaktives Kind präsentiert, ein Kind, das sich selber nicht befreien und nicht entwickeln kann, sondern auf Hilfe von außen angewiesen ist. Da die Rolle der Mutter konservativ weiblich gezeichnet ist und nur der Vater Aktivitäten entfalten kann, wird hier ein Rollenmodell angeboten, das auch schon im Erscheinungsjahr von „Traum-fresserchen“ – 1978 – als zumindest problematisch gelten konnte.

1999 ist bei Terzio / Thienemann10 eine CD-ROM-Version vom „Traumfres-serchen“ erschienen, die sich sehr eng an die kinderliterarische Vorlage von Michael Ende und die Illustrationen von Annegret Fuchshuber hält. Der Text wird von Rufus Beck hervorragend gelesen und ist nahezu unverändert. Er wird nur akustisch angeboten; eine Leseversion gibt es nicht, da sich die Geschichte an Kinder im Vorschulalter bzw. im ersten Grundschulalter wendet. Es gibt zwei Modi, um die CD-ROM zu rezipieren; man kann einen automatischen Ablauf wählen und bekommt die Geschichte vollständig vor-gelesen und automatisch die Bilder, Animationen etc. präsentiert, oder man kann einen manuellen Ablauf anklicken und kann interaktiv mit der Ge-schichte umgehen. Der Start erfolgt mit Windows Autoplay problemlos.

Wird der automatische Modus gewählt, ändert sich für den Rezipienten / die Rezipientin am Ablauf der Geschichte im Vergleich zu der Printversion nur wenig. Modifiziert werden die Bilder, die zwar in ihrer Grundsubstanz erhal-ten bleiben, jedoch „dekomponiert“ werden, d. h. von einem Bild bleibt ein wesentlicher Bestandteil erhalten, die fehlenden Teile werden im Lauf der Lesung hinzugefügt, zum Teil sind sie verändert. Man hat jedoch versucht, den Charakter der von Annegret Fuchshuber entworfenen Figuren etc. beizu-behalten. Das wirkt teilweise wie ein Papiertheater, wenn z. B. Personen, die beim ersten Einblenden des Bildes noch nicht zu sehen sind, allmählich in den Bildschirm geschoben werden. Teilweise werden die Bilder animiert, aber auch hier sind die Änderungen vorsichtig; teilweise wirken sie fremd und man bemerkt, dass sie für das Printmedium und nicht für eine Computer-animation entworfen wurden (z. B. das Bewegen von Mund und Augen beim Sprechen, das Blinzeln der schlaflosen Prinzessin).

10 Michael Ende / Annegret Fuchhuber, Das Traumfresserchen, Terzio, Möllers & Belling-hausen Verlag, München 1999, Sprecher: Rufus Beck, Musik, Idee und Realisierung: Ana-tol Gardner

Mit Musik und Hintergrundgeräuschen wird vorsichtig umgegangen; tragen-des akustisches Element ist die in flexiblen Tonlagen und angepassten Geschwindigkeiten m. E. hervorragend gelungene Leseinterpretation von Rufus Beck. Sein „hinreißender Erzählton ... und sein Sprechgesang des Traumfresserchen-Verschens ... heftet sich ganz schnell im Ohr fest“11 und erleichtert so die akustische Rezeption, die durch die vorsichtig präsentierten Bilder unterstützt, nicht aber gelenkt wird. So bleibt der Phantasie genug Raum, um eine eigene fiktionale Welt aufzubauen und in der ästhetischen Distanz die reale Welt zu betrachten, sich in eigene Betrachtungsweisen hin-ein zu denken, das eigene Subjekt mit der Geschichte in Beziehung zu set-zen.

Wählt man den interaktiven Modus, so ergeben sich naturgemäß größere Änderungen gegenüber der kinderliterarischen Vorlage als bei der Rezeption der automatischen Version. Durch das Bewegen des Mauszeigers erreicht man sechs Buttons, durch die man mittels Anklicken

die Erzählung unterbrechen,

zwischen dem manuellen und dem automatischen Modus wechseln,

sich die Geschichte ab dem Beginn der ausgewählten Episode noch ein-mal vorlesen lassen kann,

auf eine Übersicht kommt, die anzeigt, bis zu welchem Teil der Ge-schichte man gekommen ist und von dem aus man jede beliebige Episode anklicken und neu starten kann,

sich die Buttons erklären lassen und

die CD-ROM beenden kann.

Man kann außerdem beliebig vor- und zurückblättern. Der interaktive Modus ermöglicht eine an die individuelle Geschwindigkeit angepasste Rezeption mit der Möglicht des individuellen Anhaltens, Wiederholens, Verweilens etc.

einschließlich des Neuanfangs bzw. Quereinstiegs und der Orientierung, wie weit man die Geschichte bereits gehört hat.

Durch Veränderung zeigt beim interaktiven Modus der Mauszeiger diejeni-gen Bildteile an, hinter denen sich Spielmöglichkeiten verberdiejeni-gen. Da die Geschichte und die CD-ROM für Vorschul- und Kinder im ersten Grund-schulalter konzipiert wurden, sind diese Angebote begrenzt. Hier kommt es

11 Monika Klutzny, Zibeldibix, hier gibt’s Träume zu futtern! Das Traumfresserchen auf CD-ROM. In: Bulletin Jugend & Literatur 12/1999, S. 30

zu Einfügungen, die zum Teil bildnerisch und sprachlich neu gestaltet wur-den, sich jedoch im wesentlichen an die bildnerischen und sprachlichen Vor-gaben von Annegret Fuchshuber bzw. Michael Ende halten.

Wichtig ist die Frage, ob durch die Spielangebote das aus der Printversion interpretierte Sinnangebot durch die CD-ROM-Fassung modifiziert, verstärkt oder gänzlich geändert wird. Ich möchte mich hier besonders auf die ge-schlechtsspezifischen Rollenvorgaben beziehen, die eingangs erwähnt wur-den. Um zu demonstrieren, dass die durch das Printmedium vorgegebenen Verhaltensweisen auch für die CD-ROM-Fassung gelten, verweise ich auf zwei Animationen:

• Nachdem der König beschlossen hat, sich selber auf die Suche nach einer Lösung für Schlafittchens Probleme zu begeben, wird auf einem Bild in der Bilderbuchversion die königliche Mutter gezeigt, die hinter einem Bügelbrett stehend die Hosen für den Vater in Ordnung bringt.

Schlafittchen steht beobachtend im Hintergrund. Dieses Bild wird in der CD-ROM-Version unverändert übernommen; im Spielemodus kann man die Mutter anklicken, die dann das Bügeleisen bewegt. Ihre Sprache besteht in liebevollen Kommentaren zu den Reisevorbereitungen des Vaters. Klickt man den König an, erhält man eine Reihe von Aufforde-rungen, um ihn für die Reise auszustatten, also ihn zu bedienen – Stiefel anzuziehen, den Mantel umzulegen, die Krone gegen den Hut einzutau-schen etc. Prinzessin Schlafittchen ist nicht aktivierbar; sie schaut nur im Hintergrund den Reisevorbereitungen zu.

• Als der König den Spruch des Traumfresserchens nach Hause gebracht hat, liegt Schlafittchen im Bett und kann nun endlich schlafen. Hier ist das von Annegret Fuchshuber vorgegebene Bild der Printversion verän-dert; im Spielemodus erhält man eine Prinzessin, die zwar im Bett liegt, jedoch nicht in der Lage ist, die notwendigen Verrichtungen wie Zu-decken, ihren Teddy ins Bett zu holen, das Licht auszupusten etc. selber auszuführen. Diese Aktivitäten kann das rezipierende Kind ausführen.

Hier wird deutlich, wie sehr sich die Produzenten der CD-ROM dem konser-vativen Frauen- und Familienbild der kinderliterarischen Vorlage ange-schlossen und dieses noch verschärft haben. Weder die Prinzessin als Prota-gonistin der Geschichte noch die Mutter als weitere weibliche Figur werden aktiviert bzw. aus ihrer traditionellen Rolle herausgenommen, vielmehr ist es der König, der Befehle erteilen kann, der im Spiel verschiedene Stationen

der Welt bereisen muss etc. Da durch den Spielemodus die Aufmerksamkeit des rezipierenden Kindes auf die jeweils animierbaren Episoden gelenkt wird, werden die angedeuteten konservativen Familienbilder durch die CD-ROM-Version eher verstärkt als abgeschwächt.

Technisch ist die CD-ROM-Version einfach zu bedienen und sicherlich ge-lungen. Die zugrunde liegende märchenhafte Geschichte von Michael Ende und Annegret Fuchshuber ist durch ihre phantasievollen Bilder und eine flüssige, kindgemäße Erzählweise vermutlich dazu geeignet, dass sich Mäd-chen im Vorschul- und beginnenden Grundschulalter dann mit ihr identifi-zieren, wenn sie entweder eine heile Welt suchen oder eigene Erfahrungen darin wiederfinden. Diese Mischung aus leichtem technischen Zugang und Identifikationsmöglichkeiten mit wenig emanzipatorischen Inhalten machen die Crux dieser CD-ROM aus. Einerseits bietet sie für traditionsorientierten Mädchen vermutlich Identifikationshilfen an. Da gerade diese Gruppe von Mädchen häufig nur schwer den Zugang zum Computer findet, könnte eine CD-ROM mit einer märchenhaften Erzählung und einfacher technischer Handhabung dann einen Einstieg in die neue Technologie sein, wenn sie inhaltliche Identifikationsangebote macht. Wenn jedoch dieses inhaltliche Identifikationsangebot die traditionelle Rolleninterpretation als Idealbild weiblicher Sozialisation anpreist, verschärft das neue Medium eher ge-schlechtsspezifische Konflikte als dass es sie zu beheben hilft.

Man kann die Betrachtung der CD-ROM-Version des „Traumfresserchens“

zutreffend mit einem Zitat von Cornelia Rosebrock zusammenfassen:

„Indem die Kinder- und Jugendliteratur in ihrer Hauptströmung die jeweils vorherrschenden diskursiven Praktiken des Umgangs mit den Kindern und Jugendlichen einer Epoche realisiert und dokumentiert, ist sie Teil des zeit-genössischen erzieherischen Wirkens.“12 Nun kann man zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr von Hauptströmungen erzieherischen Wirkens sprechen, sondern kann eine Vielzahl von Orientierungen und Einstellungen hinsichtlich sozialisatorischer Ziele für die nachwachsende Generation fest-stellen, eine mögliche Richtung wird jedoch in dieser CD-ROM vertreten, die bereits in der kinderliterarischen Vorlage angelegt ist und durch die CD-ROM-Version noch verstärkt wird.

12 Cornelia Rosebrock, Kinder- und Jugendliteratur. In: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Band 4, Tübingen 1998, S. 938

2.2 Integration von Text und Spiel: Robinson Crusoe nach Daniel