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4.1 Freiheit zu wählen

4.1.1 Wahlfreiheit und Verantwortung

Zur Willensfreiheit gehört für Descartes, daß wir uns willentlich auch gegen Gründe stellen können, während wir sie hinreichend finden, ihnen zu entsprechen. Es wird gezeigt, wie er die im Ideal des rationalen Willens dargestellte Freiheit der Spontaneität durch eine Freiheit der Indifferenz ergänzt. Dann wird die damit verbundene Auffassung des Zusammenhangs von Freiheit und Verantwortung kurz problematisiert anhand Humes historischer Gegenthese, Verantwortung erfordere die Erklärung aus dem Charakter. Schließlich wird das interne Problem erörtert, wie beide Freiheitssinne vereinbart werden können.

Die Rationalität des Willens liegt anscheinend darin, daß er sich auf eine Fähigkeit beschränkt, im Erkennen und Handeln eindeutigen Vorgaben zu folgen. Die Freiheit, die mit dieser Fähigkeit verbunden sein soll, kann Freiheit der Spontaneität genannt werden. Nur wenn es keine solchen Vorgaben gibt, aber eine Entscheidung zu treffen ist, muß eine willentliche Wahl getroffen werden.

Descartes stellt in den Mittelpunkt seiner Willenskonzeption die Unterscheidung, was einem eignet oder man sich zueignet und was nicht, und beschränkt die Möglichkeit von Lob und Tadel auf das erste. Beides bringt er mit dem freien Willen zusammen (§ 153). Die Freiheit ist offenbar eine Bedingung dafür, sich ein Resultat in dem Sinn zu eigen zu machen, der es für Lob und Tadel empfänglich macht. Es gibt nun zwei Möglichkeiten, diese Freiheit zu verstehen. Die erste

Möglichkeit beschränkt sich auf die oben genannte Freiheit der Spontaneität. Dazu führt Descartes die Abgrenzung dessen, was zum Handelnden gehört, und dessen weiter, was ihm nicht zugehört. Zur Freiheit, sich etwas zu eigen zu machen, gehört, daß der Mensch gemäß dieser Abgrenzung nicht von etwas bestimmt wird, was außerhalb seiner liegt, sondern durch seine eigene Aktivität.

Sähe ich immer klar, was wahr und gut ist, ich würde niemals schwanken, wie ich zu urteilen oder zu wählen habe. So könnte ich völlig frei, aber niemals indifferent sein[...]Ich wurde zu diesem Urteil nicht durch eine äußere Macht gezwungen, sondern die starke Neigung meines Willens war eine Folge der großen Erleuchtung meines Verstandes[...]“(AT VII, 58f.)250

Der Mensch ist frei in einer Reaktion auf bestimmte Vorgaben, insofern der Wille so verfaßt ist, daß er darauf in dieser Weise reagiert. Diese Freiheit der Spontaneität erfordert nicht, daß unentschieden ist, welche Bestimmung der Wille annimmt, denn Descartes beschreibt die Weise, in der diese Einsicht den Willen nötigt, als Bestimmtheit nur „von innen“ bzw. durch Eigenes.

Es gibt allerdings Situationen, in denen es nicht reicht, sich Einsichten hinzugeben, nämlich dann, wenn diese Einsichten nicht mehr ganz gegenwärtig sind:

„Und man handelt weiter verdienstlich[...] Denn da der Mensch nicht immer eine vollkommene Aufmerksamkeit den Dingen schenken kann, die er tun muß, ist es eine gute Handlung, sie zu haben, und mit ihrer Hilfe zu erreichen, daß unser Wille so fest dem Licht unseres Verstandes folgt, daß er überhaupt nicht indifferent ist.(an Mesland, 2.5.1644, IV, 117)251

Diese Festigkeit des Willens kann weder auf Zufalls- noch systematische äußere Einflußfaktoren wie Einsichten allein zurückgehen. Descartes spricht von Gewohnheiten. Aber diese Gewohnheiten müssen ja hergestellt werden, ohne daß jene Einflußfaktoren dafür hinreichend sind. Der Wille ist gleichsam auf sich gestellt. Da die Fähigkeit, daß gleichsam das Licht des Verstandes durch den Willen hindurch wirkt, nicht hinreicht, bleibt anscheinend nur eine Fähigkeit, etwas willentlich herbeizuführen, wozu Vorgaben nicht hinreichen.

Descartes behauptet vielleicht an dieser Stelle sogar, die Verdienstlichkeit selbst hänge davon ab, daß man sich nicht nur von klaren und deutlichen Ideen spontan bestimmen läßt, sondern etwas hinzufügt, wozu die spontane Bestimmung durch solche Einsichten nicht hinreicht. Demnach läge, wenn das reine Spontaneitätsmodell zuträfe, kein Verdienst darin, im Licht einer maximal klaren und deutlichen Einsicht richtig zu handeln. Wenn Verdienst das ist, was Lob verdient, könnte diese Handlung auch nicht gelobt werden. Zumindest die letzte, wohl auch die erste Folgerung kann Descartes nicht vertreten. Wenn man mehr beitragen muß, als durch Einsichten bestimmt zu werden, mithin auch die spontane willentliche Beistimmung nicht reicht, muß wohl eine Offenheit bestehen, gegen eine solche Einsicht zu handeln.

Wie bereits die allgemeine Diskussion des Zusammenhangs des Willens und der Möglichkeit von Lob und Tadel gezeigt hat, beschränkt Descartes sich nicht auf das Spontaneitätsmodell. M. Beyssade betont, daß Descartes sich im Anschluß an die Meditationen der jesuitischen Freiheitslehre angenähert habe, die einen stärkeren Sinn von Wahlfreiheit beinhaltet als den der bloßen Spontaneität einer Bestimmtheit durch Gründe (Beyssade 1994). Beyssade geht sogar von einem Konzeptionswandel aus. Sie stützt ihre scharfsinnige Argumentation auf die französische Aufgabe der Meditationen. Die

250 „[...] si semper quid verum & bonum sit clare viderem, nunquam de eo quod esset judicandum vel eligendum deliberarem; atque ita, quamvis plane liber, nunquam tamen indifferens esse possem. [...]non quòd ab aliquâ vi externâ fuerim ad id [judicare illud] coactus, sed quia ex magnâ luce in intellectu magna consequuta est propensio in voluntate [...]”

251 „Et on ne laisse pas de meriter[...]. Car l'homme pouuant n'auoir pas tousiours vne parfaite attention aux choses qu'il doit faire, c'est vne bonne action que de l'auoir, & de faire, par son moyen, que nostre volonté suiue si fort la lumiere de nostre entendement, qu'elle ne soit point du tout indifferente.“

Veränderungen, auf die sie hinweist, enthüllen sich freilich nur einer sehr spitzfindigen Lektüre.

Beyssade weist jedoch auf zeitgleiche Aussagen hin, in denen Descartes einen sehr starken Sinn von Willkürfreiheit akzeptiert, insbesondere auf einen Brief an Mesland vom 6.2.1645:

„Immer nämlich steht es uns frei, uns davon abzuhalten, ein klar erkanntes Gut zu verfolgen oder eine offensichtliche Wahrheit zuzugeben, wenn wir es nur für gut halten, daß die Freiheit unserer Willkür dadurch bezeugt werde.“(AT IV, 173)252

Dieser Sinn von Wahlfreiheit ist deshalb sehr stark, weil sie sich auch auf klare und deutliche Einsichten erstreckt - entgegen vielen anderen Äußerungen.253 Wir müssen nicht gemäß unserer Einsicht handeln, was gut wäre, und nicht zugeben, was wir als wahr einsehen. Diese Stelle ist allerdings nicht ganz eindeutig. Denn „zuzugeben“ („admittenda“) steht in keiner geklärten Beziehung zu den eingespielten epistemischen Begriffen wie Urteilen. Es könnte etwas ganz Äußerliches meinen wie das, was ich im Gespräch sage. Dann muß ich selbstverständlich auch das, wovon ich ganz fest überzeugt bin, nicht zugeben. Die praktische Parallele „verfolgen“ („prosequendo“) hilft nur weiter, wenn ein starker Zusammenhang von Einsicht und Wollen vertreten wird. Dieser Zusammenhang sollte eher selbst begründet als zur Begründung anderer umstrittener Thesen herangezogen werden.

Aber daß wir unsere Freiheit dadurch bezeugen, spricht dafür, daß Descartes hier eine Freiheit vertritt, zu urteilen oder zu wollen. Denn wenn der interessante Freiheitsgebrauch der im Urteilen oder Wollen ist, wäre es unangemessen, unsere Freiheit durch den Willensgebrauch in irgendeiner nachgeordneten Tätigkeit wie dem Zugeständnis im Gespräch zu bezeugen.254

Renault setzt einen Wandel der cartesischen Konzeption um 1644 an. Während der Wille in der früheren Konzeption gegebene Einsichten im Erkennen und Handeln gleichsam automatisch umsetze, betone Descartes später, daß bestmögliche Erkenntnistätigkeit einen unabhängigen Willen zu dieser Tätigkeit und ihre konsequente Umsetzung ebenfalls ein konsequentes unabhängiges Handelnwollen gemäß diesen Einsichten erfordern:

„[...]il ne suffit plus de bien juger pour bien faire, c´est au contraire à la volonté de nous donner la ferme résolution de connaître le mieux possible et de conformer l´action à ce que dicte la raison.“(Renault 2000, 131) Tatsächlich widmet Descartes in seinen späteren Werken der Frage, wie das Erkenntnisverhalten über das Urteilen hinaus vom Willen abhängt, größere Aufmerksamkeit.255

Hinter diesem Bekenntnis zur Entscheidungsfreiheit könnte, wenn wir an die zitierte Bedingung der Verdienstlichkeit denken, eine Positionsnahme für eine zweite Verständigungsmöglichkeit stehen, was

252 „Semper enim nobis licet nos reuocare a bono clarè cognito prosequendo, vel a perspicuâ veritate admittendâ, modò tantum cogitemus bonum libertatem arbitrij nostri per hoc testari.“

253 Z.B. im früheren Brief an Mesland (AT IV, 117), wo allerdings das Beharren in dem, was man einmal eingesehen hat, nicht bloße Spontaneität sein kann.

254 Der normale Gebrauch des Begriffs „admittere“ entspricht dieser These. Denn Descartes spricht von

„admittere“ z.B. im Kontext des Beweises der Zuverlässigkeit evidenter Ideen aus Gottes Wahrhaftigkeit (AT VII, 144). Dieser Beweis soll zwingend sein, wir müssen ihn ebenso zugeben wie die evidentesten Wahrheiten.

Also scheint Descartes „zugeben“ genauso zu verwenden wie „urteilen“.

255 Renault diskutiert drei Gründe für die Konzeptionsänderung: Erstens könne das Handeln nicht immer von sicheren Einsichten geleitet sein (Renault 2000, 134). Diese Auffassung hat Descartes freilich schon im Discours. Außerdem folgt daraus nichts für die Abhängigkeit der Erkenntnis von einer Willenseinstellung, noch für die Frage der Umsetzung evidenter Erkenntnisse im Handeln. Zweitens verblaßten evidente Erkenntnisse mit der Zeit, so daß es einer Willenseinstellung bedarf, ihnen konsequent zu folgen (Renault 2000, 134) Wie seine Reaktion auf den Zirkelvorwurf Arnaulds zeigt, sieht Descartes allerdings schon vor 1644, daß es einer Willensanstrengung bedarf, Einsichten konsequent zu entsprechen. Die zweite Maxime der provisorischen Moral zeigt, daß Descartes auch schon vorher die Wichtigkeit einer konsequenten Willenseinstellung betont. Drittens bestehe die Gefahr, daß entgegengesetzte Impulse im Zeitverlauf die Wirkung evidenter Erkenntnisse aufheben (Renault 2000, 136). Diese Gefahr verbindet sich vor allem mit den Leidenschaften, weil die klaren und deutlichen Einsichten selbst immer richtig sind.

es bedeutet, sich als Bedingung für Verantwortung bzw. Lob und Tadel etwas durch einen Willensakt zu eigen zu machen. Die Verantwortlichkeit und die Möglichkeit von Lob und Tadel im starken Sinn setzen in dieser Auffassung eine Fähigkeit der Entscheidung voraus, deren Ausgang nicht durch unabhängige Einflüsse erzwungen werden darf, für die der einzelne nichts kann:

„Liberty of spontaneity is not [...] a necessary condition for a decision to be free in the sense that responsibility requires. Except in a vague and unhelpful way, it does not seem to be bound up with freedom of decision at all.“(Thorp 1980, 7)

Descartes grenzt die Urheber verantwortlichen Handelns und Adressaten von Lob und Tadel gegen Automaten ab. Der entscheidende Unterschied ist der, daß der Automat den Vorgaben, die ihm gemacht wurden, folgen muß, jener Adressat aber nicht, weil er einen freien Willen hat:

„Daß aber der Wille so außerordentlich weit sich erstreckt, entspricht seiner Natur, und es bildet die höchste Vollkommenheit im Menschen, daß er durch seinen Willen, d.h. frei handelt. Daher ist er gewissermaßen der Urheber seiner Handlungen und kann ihretwegen gelobt werden. Denn die Automaten lobt man nicht wegen der genauen Ausführung aller Bewegungen, auf die sie eingerichtet sind, aber man lobt ihren Werkmeister wegen der genauen Verfertigung derselben, weil er sie nicht notwendig, sondern aus freien Stücken verfertigt hat. Aus diesem Grunde ist es mehr unsere Tat, daß wir das Wahre erfassen (amplecti), wenn wir es erfassen, weil wir es mit Willen tun, als wenn wir es erfassen müßten.“(II.I, 12f., AT VIII / 1, 18f.)256

Im Gegensatz zum Automaten ist der Mensch in eigentümlicher Weise („peculiari quodam modo“, nicht nur „gewissermaßen“) Urheber seiner Handlungen. Dem Menschen können seine Handlungen in einer Weise zugeschrieben werden, die sich von der Zurückführung anderer Wirkungen auf Ursachen unterscheidet. Obgleich er für Handlungen und Wirkungen dasselbe Wort gebraucht, zeichnet Descartes menschliche Handlungen doch nicht nur durch ihre Willentlichkeit und Vernünftigkeit, sondern vor allem durch ihre Freiwilligkeit aus. Sie macht die Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Handlungen einzigartig. Dieser Beziehung tragen wir durch die Zuweisung von Verantwortung Rechnung. Gerade der Erkenntniserwerb wird als Muster einer solchen Handlung beschrieben, deren Verantwortlichkeit von der Freiwilligkeit abhängt.

Descartes vertritt hier wohl zunächst eine Konzeption der Akteurskausalität: Damit Handlungen einer Person zugeschrieben werden können, muß diese Person der Ausgangspunkt einer Kausalwirkung sein, nicht nur die Funktion ihrer Vermögen, z.B. die natürliche Neigung des Willens, wie im Ideal des rationalen Willens beschrieben, oder die Gegenwart von Gründen oder Handlungsimpulsen:

„Es ist müßig zu versuchen, das Benehmen durch die Kausalwirkung des Begehrens zu erklären – dadurch lassen sich bloß weitere Geschehnisse erklären, keine von handelnden Personen ausgeführten Handlungen. Der Handelnde, der dem Kausalzusammenhang gegenübersteht, in dem sich solche Geschehnisse abspielen, ist ein wehrloses Opfer alles dessen, was ihm von innen und außen widerfährt.“(Melden 1961, 128, Übersetzung in Davidson 1985, 41)

Descartes vertritt jedoch eine stärkere These. Damit nicht die Funktion von Vermögen, Gründe bzw.

deren Erlebnis oder Handlungsimpulse der Ausgangspunkt der Kausalwirkung sind, sondern die Person, muß die Person es dadurch sein, daß sie eine Handlung so oder anders ausfallen lassen kann.

Ein Automat ist von einer äußeren Instanz geplant und eingerichtet. Der Mensch dagegen ist zwar von Gott geplant und eingerichtet, aber er ist dadurch nicht festgelegt. Die Unterscheidung innerhalb des Automatenbeispiels ist nicht die von äußerer und innerer Bestimmung, sondern die von Bestimmtheit

256 „Quòd verò latissimè pateat voluntas, hoc etiam ipsius naturae convenit; ac summa quaedam in homine perfectio est, quòd agat per voluntatem, hoc est liberè, atque ita peculiari quodam modo sit author suarum actionum, & ob ipsas laudem mereatur. Non enim laudantur automata, quòd motus omnes ad quos instituta sunt, accuratè exhibeant, quia necessariò illos sic exhibent; laudatur autem eorum artifex, quòd tam accurata fabricârit,

und Unbestimmtheit. Denn auch wenn geleugnet werden könnte, daß der Werkmeister dem Automaten eine innere Bestimmung mit gibt, die z.B. in dessen Natur liegt, so betont Descartes doch nicht den Gegensatz von Innen und Außen, sondern den von Müssen und nicht Müssen. Der Automat ist von vonherein bestimmt, alles auszuführen, wozu er gebaut ist, beim Menschen tritt ein Moment der Kontingenz dazu, das eine Tat wie das Erfassen der Wahrheit in anderer Weise zu der seinen macht, als es die Funktion des Automaten täte. Damit einem eine Tat zugerechnet werden kann, muß er frei sein, sie nicht auszuführen, nicht nur „von innen“ bestimmt wie ein Automat oder ein Tier durch das in ihm liegende Bewegungsprinzip. In diesem Zusammenhang ist auch Descartes´

Erörterung zu sehen, ob wir bei Kenntnis dessen, was ein Mensch weiß und glaubt, dessen Verhalten voraussehen könnten. Selbst die vollständige Kenntnis des Charakters zu einem Zeitpunkt reiche nicht aus, um das künftige Verhalten sicher zu antizipieren (AT VIII/ 1, 18f.). Auch bei Kenntnis aller künftigen äußeren oder inneren Einflußfaktoren wird eine Vorhersage ausgeschlossen, weil jemandes Willen als Fähigkeit zu kennen nicht einschließt, zu wissen, wie er sich entscheidet. Nun könnte man solche Vorhersagen treffen, wüßte man, daß ein Mensch vollkommen weise ist (AT IV, 334). Aber Menschen sind offenbar nie vollkommen weise, oder man kann nicht wissen, ob sie es sind.

Daß Descartes nicht an einen Unterschied von Spontaneität und äußerer Determination denkt, wird klar, wenn er kurz nach dem Automatenbeispiel weiterfährt:

„Daß aber unser Wille frei ist und wir nach Willkür vielem zustimmen oder nicht zustimmen können, ist so offenbar, daß es zu den ersten und allgemeinsten der uns eingeborenen Begriffe zu zählen ist.“(II.I, 13, AT VIII / 1, 19)257

Hier geht es eindeutig um die Freiheit der Wahl. Die Übersetzung hat recht, „arbitrium“ mit „Willkür“

wiederzugeben. Die Zustimmung scheint sich ebenso auf theoretische Urteile wie auf praktisches Urteilen und Wollen zu beziehen. „Zustimmen“ („assentiri“) könnte zwar auch wie „zugeben“

(„admittenda“) auf Äußerungen bezogen werden. Aber diese Lesart hat wenig für sich, zumal sich wohl kaum einer der ersten und allgemeinsten angeborenen Begriffe auf eine so triviale Fähigkeit beziehen würde, die nicht zum Kern einer rein geistigen Substanz zu gehören scheint (es ist gar nicht ausgemacht, daß ein Geist kommunizieren kann).

Auch die konsequente Parallelisierung von praktischem Wollen und theoretischem Urteilen spricht bei aller gebotenen Vorsicht für eine Entscheidungsfreiheit selbst in der Erkenntnis. Wenn die Einheitlichkeit des Freiheitsbegriffs erhalten werden soll und praktische Entscheidungen in Korrespondenz zu theoretischen Urteilen modelliert werden, kann nicht eine Freiheit der Indifferenz im praktischen Bereich anerkannt werden, ohne sie im theoretischen anzuerkennen. Descartes verletzt auf doppelte Weise Erwartungen, wenn er auch im Handeln die Freiheit leugnet, sich gegen das Gute zu entscheiden, und auch im Erkennen eine Freiheit unterstellt, gegen gute Gründe zu entscheiden.258 Diese Argumentation bedroht jedoch anscheinend unseren Schluß von einer Freiheit des spontanen Nachvollzugs von Gründen auf eine Freiheit ebenfalls nur zum Nachvollzug von Gründen in der Praxis, denn da nun eine Freiheit der Indifferenz eingestanden wurde, scheint es doch durchaus denkbar, daß in der Erkenntnis die eine Form von Freiheit, in der Praxis die andere besteht. Nun sind die Gründe, die Descartes zur Anerkennung einer Freiheit des spontanen Nachvollzugs zwingen, zwar in der Erkenntnis entwickelt und primär mit dem Argument einer einheitlichen Willensfunktion auf quia non necessariò, sed liberè ipsa fabricavit. Eâdemque ratione, magis profectò nobis tribuendum est, quòd verum amplectamur, cùm amplectimur, quia voluntariè id agimus, quàm si non possemus non amplecti.“

257 „Quòd autem sit in nostrâ voluntate libertas, & multis ad arbitrium vel assentiri vel non assentiri possimus, adeò manifestum est, ut inter primas & maximè communes notiones, quae nobis sunt innatae, sit recensendum.“

258 Beide Erwartungen werden formuliert von Williams (1981, 145).

die praktische Philosophie übertragen worden. Die Gründe, die Descartes bewegen, doch eine Freiheit der Indifferenz einzuführen, etwa die Möglichkeit von Lob und Tadel, sollen sich jedoch auf den gesamten Bereich des Willensgebrauchs beziehen. Außerdem zerfiele der Freiheitsbegriff in zwei verschiedene Formen der Freiheit für die jeweiligen Bereiche der Willensgehalte. Er und der dadurch bestimmte Willensbegriff wären somit nicht mehr einheitlich, wie es Descartes suggeriert. Im Gegensatz dazu bedroht das Eingeständnis der Freiheit der Indifferenz zwar die Konsistenz des Freiheitsbegriffs, kann dies aber nur, weil zugleich an der Einheit dieses Begriffs festgehalten wird gegenüber einer Äquivozität zweier Begriffe.

Das Automatenbeispiel ist vor allem dazu gedacht, die Abhängigkeit von Lob und Tadel im starken Sinn von der Wahlfreiheit zu demonstrieren. Dazu ist es freilich nicht hinreichend. Die Alternative, die dem freien Wesen gegenübersteht, muß nicht der Automat sein, der von einem Werkmeister mit einer ganz bestimmten Funktion ausgestattet wurde, denn der Mensch könnte ja ein Naturwesen sein, dessen Tätigkeit sich selbst dann nicht einfach auf die Funktion gemäß einem bestimmten Plan festlegen läßt, wenn er nicht frei ist. Insofern ist die Alternative, die Descartes hier zeichnet, unvollständig. Sie liegt freilich nahe, wenn es nur gilt, gegen das naive Weltbild im Ausgang von der Fehlorientierung nur an Sinnesideen anzugehen, wonach der Mensch eigentlich ein im Sinne bloßer Selbsterhaltung funktionierender Körper ist und der Körper eine -von Gott eingerichtete- Maschine.259

Die Begrenztheit des Automatenbeispiels mag ein generelles Unbehagen gegenüber der radikalen These der Willensfreiheit nähren. Einer der Philosophen, der dem –nach Levi und Gaukroger- damals neuen Paradigma der Verantwortung durch radikale Willensfreiheit eine radikale Gegenthese gegenüberstellt, ist Hume. Verantwortung beinhalte, Handlungen über ihre Motive ganz auf einen Charakter zurückzuführen, die langfristigen Dispositionen und Überzeugungen eines Menschen, während eine Entscheidung aus Wahlfreiheit, die keine solche vollständige Erklärung erlaube, Verantwortung eliminiere und Handlungen zu zufälligen Ereignissen degradiere, die nichts mit dem Handelnden zu tun hätten. Ein Geschehen, das durch den freien Willen erklärt werde, könne nicht auf die verantwortliche Person zurückgeführt werden:

„According to the hypothesis of liberty, therefore, a man is as pure and untainted, after having committed the most horrid crimes, as at the first moment of his birth, nor is his character any way concern´d in his actions;

since they are not deriv´d from it, and the wickedness of the one can never be us´d as a proof of the depravity of the other. ´Tis only upon the principles of necessity, that a person acquires any merit or demerit, from his actions, however the common opinion may incline to the contrary.“(Hume 1964, 192)

Hume gebraucht hier das Argument, das Melden gegen eine Erklärung aus der Kausalwirkung des Begehrens anführt, die Zufälligkeit des Handlungsgeschehens relativ zum Handelnden, zugunsten einer solchen Erklärung: Die Zuschreibung von Verdienst oder Schuld für eine Handlung setzt voraus, daß diese Handlung in einer Situation gemäß notwendigen psychologischen Gesetzen aus einem Charakter folgt, habitualisierten Tendenzen, Einstellungen und Überzeugungen, die ebenso notwendig durch vergangene Erlebnisse und psychische Dispositionen geprägt werden. Die Zurückführung auf den Charakter verknüpft Handlung und Handelnden. Es fragt sich indes, wie Hume sagen kann, daß man durch eine Handlung Verdienst erwirbt statt durch den Charakterzug, den sie manifestiert.

Im Gegensatz zu Hume sieht Williams das Suggestive der Verbindung von Wahlfreiheit und Verantwortung innerhalb einer moralphilosophischen Orientierung, die er „Moralität“ („morality“)

259 Ryle kritisiert die allgemeine Tendenz im Zusammenhang von Descartes´ „Mythos“, solche Maschinenanalogien zu zeichnen (Ryle 1969, 105f.).

nennt, und stellt ihr einen angemessenen Umgang mit Lob und Tadel gegenüber, der schwächere Kriterien an die Stelle einer libertas indifferentiae setzt:

„To the extent that the institution of blame works coherently, it does so because it attempts less than morality would like it to do. When we ask whether someone acted voluntarily, we are asking, roughly, whether he really acted, whether he knew what he was doing, and whether he intended this or that aspect of what happened. This practice takes the agent together with his character, and does not raise questions about his freedom to have chosen some other character. The blame system, most of the time, closely concentrates on the conditions of the particular act; and it is able to do this because it does not operate on its own. It is surrounded by other practices of encouragement and discouragement, acceptance and rejection, which work on desire and character to shape them into the requirements and possibilities of ethical life. Morality neglects this surrounding and sees only that focused, particularized judgement. There is a pressure within it to require a voluntariness that will be total and will cut through character and psychological or social determination, and allocate blame and responsibility on the ultimately fair basis of the agent´s own contribution, no more and no less[...] the system leaves us, as the only contrast to rational blame, forms of persuasion it refuses to distinguish in spirit from force and constraint.“(Williams 1985, 194)260

Da Descartes zwischen einer solchen Moralität und seiner Vollkommenheitsethik schwankt, bietet freilich nur seine Theorie der Wahlfreiheit die von Williams kritisierte Reinform der ersten. Für Williams beruht „Moralität“ auf einer Radikalisierung von Alternativen, zwischen denen die richtige Lösung liegen muß, der Alternative, Lob und Tadel auf soziale oder psychische Verhaltenslenkung zu reduzieren, und der, ihnen eine unabhängige ethische Bedeutung zu geben, die erfordert, daß der Handelnde alle nicht rein ethischen Determinanten durchbricht und „seinen Beitrag“ als Akteur bringt, indem er aus Freiheit handelt. Williams erkennt aber das Motiv der Moralität an, das im Eindruck liegt, daß sich Verantwortung oder Lob und Tadel in der Bildung des Charakters durch soziale und psychische Determinanten zu verflüchtigen drohen, denen der Bereich des Ethischen abgerungen werden muß, ohne in die Extremforderungen der Moralität zu verfallen. Er erkennt auch die Fokussierung auf einzelne Entscheidungen an, die sich aber gerade nicht daraus ergeben soll, daß die Willensentscheidung isoliert wird, sondern daraus, daß im Aussprechen von Lob und Tadel der Charakter als Rahmen hingenommen werden muß, innerhalb dessen die Handlung bewertet wird.

Descartes könnte nun diesem Vorwurf, daß er keine hinreichende Rücksicht auf die Verbindung von Handlung und Charakter nimmt, durch eine Überlegung in drei Schritten begegnen, die aus seiner Sicht des moralischen Subjekts schöpft. Sie kann auch zeigen, warum er eine besondere Neigung zum

„Durchschneiden“ haben mag, von der Williams spricht. Die drei Schritte sind: die Reduktion des Charakters auf die Disposition, dem Ideal des rationalen Willens zu entsprechen, und eine entsprechende Auffassung des Lobenswerten; die Anerkennung eines korrespondierenden Vollsinns der tadelnswerten Handlung; die Forderung der Fähigkeit, sich vom eigenen Charakter zu distanzieren.

Zunächst könnte Descartes die Frage nach dem Verhältnis von Einsicht und Charakter stellen. Er könnte daran erinnern, daß die Wahlfreiheit nur eine notwendige Bedingung der Verantwortung, nicht unbedingt eine hinreichende sei. Ohne Zweifel ist das Argument ernst zu nehmen, was eine Wahl, die nicht von irgendetwas bestimmt ist, mit der wählenden Person zu tun hat. In Williams´ Darstellung der willentlichen Handlung bleibt seltsam unklar, welche Rolle der Charakter spielt, denn es geht dabei eher um Bewußtsein, Absicht, Wissen. Gleiches gilt für Descartes: Nach seiner Überzeugung sollte eine Wahl durch Gründe bestimmt sein. Grob gesprochen verdient Lob, was gemäß guten Gründen, Tadel, was nicht so getan wird. Dazu müssen Gründe freilich zugänglich sein. Wenn einem Gründe nicht zugänglich sind, kann man nicht dafür verantwortlich sein, ihnen gemäß zu handeln. Diese

260Eine ähnliche Auffassung vertritt Feinberg: „If the determining influences are filtered through our own network of predispositions, expectations, purposes and values, then it seems to me to do no violence to common sense for us to claim the act as our own, even though its causal initiation be located in the external world[...]“(Feinberg 1970, 172) Es läßt sich aber zumindest fragen, was ein Netzwerk zu unserem macht.