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Der Bereich der Wahrheit an sich und die Rolle der Sinneswahrnehmung

In diesem Kapitel werden Erkenntnisquellen Erkenntniszielen zugeordnet. Insbesondere wird diskutiert, inwieweit die Sinneswahrnehmungen nur eine pragmatische Rolle im Handeln und inwieweit auch eine Rolle beim Erkenntniserwerb ohne Rücksicht auf das Handeln spielen. Es wird erörtert, wie Descartes einerseits behaupten kann, sie zeigten keine wesentlichen Strukturen körperlicher Dinge, und ihnen andererseits eine Orientierungsfunktion im Erkennen und Handeln zusprechen kann.

Ein notorisch schwieriger Teil der cartesischen Erkenntnistheorie ist der Umgang mit der Sinneswahrnehmung. Während es in den Meditationen lange so aussieht, als dürfte sie in der Erkenntnis gar keine Rolle spielen, wird ihr am Ende eine Funktion als Indikator des Nützlichen zugewiesen, die sich mit dem prekären Begriff der moralischen Gewißheit verbindet. Die Unterscheidung zweier Erkenntnisziele erlaubt, diese Bewertung der Sinneswahrnehmung mit Hilfe der Frage zu verstehen: Wie weit erstreckt der Bereich der Gewißheiten sich, der auf der Suche nach der Wahrheit an sich erschlossen werden kann, wo ist die geforderte Gewißheit einzuschränken?

Eine Schlüsselrolle muß dabei das klar und deutlich Erkannte spielen, auf das man seine Zustimmung beschränken soll. Da Descartes nicht nur von genügender Klarheit und Deutlichkeit, sondern von Klarheit und Deutlichkeit tout court spricht, zieht er offenbar eine eindeutige Trennlinie zwischen klaren und deutlichen Ideen, die hinreichend für einen absoluten Gewißheitstandard sind, und solchen, die nicht genügend klar und deutlich sind und nicht zum Bereich der Wahrheiten an sich gehören. Im Eingangszitat aus den Prinzipien wie in der dritten und vierten Meditation begrenzt Descartes die Erkenntnis auf klare und deutliche Einsichten. So betont er, daß er von seiner Anlage her vollkommener wäre, wenn Gott ihn so geschaffen hätte, daß er nur aufgrund klarer und deutlicher Einsichten urteilte (AT VII, 61). Selbstbeschränkung auf solche Einsichten macht den Menschen vollkommener und ist daher ein Ziel. Diese Aussage scheint schwer damit vereinbar, daß der Mensch nicht immer nur aufgrund klarer und deutlicher Einsicht, sondern auch aus pragmatischen Rücksichten urteilen muß. Mit der Notwendigkeit, „ad usum vitae“ auch über andere Dinge Annahmen zu treffen, ist diese Auffassung vereinbar, wenn Descartes sagen will, daß er vollkommener wäre, wenn er da, wo es nur um Erkenntnis geht, nur klaren und deutlichen Einsichten folgte.

Es könnte eingewendet werden, daß sich diese Beschränkungen aus der Perspektive des Denkers in der dritten und vierten Meditation erklären, in der noch nicht gesondert ist, inwieweit die Sinnesideen („ideas rerum sensibilium“, AT VII, 79) eventuell mangelnder Klarheit und Deutlichkeit zum Trotz als zuverlässig gelten dürfen und inwieweit nicht. Die Imperative aus der dritten und vierten Meditation könnten daher standpunktrelativ, bezogen auf den Stand der Untersuchung sein. Dagegen sprechen aber neben der auf absolute Klarheit und Deutlichkeit abstellenden Definition der Erkenntnis aus den Regulae45 Stellen wie die oben zitierte aus den Erwiderungen (AT VII, 149), deren Stellung nach Abschluß der Meditation wie deren genauer Wortlaut („quis negavit unquam“) mit einer beschränkten Geltung für einen bestimmten Stand der Argumentation unvereinbar ist. Den klaren und deutlichen angeborenen Ideen stellt Descartes Sinneswahrnehmungen und Leidenschaften gegenüber. Beide scheinen etwas von der gleichen Art wie klare und deutliche Ideen zu sein, aber eben nicht klar und deutlich und nicht vollständig angeboren. Wir werden im folgenden einfach von Sinnesideen sprechen.

In der sechsten Meditation zeigt Descartes, daß wir ihnen bisweilen vertrauen dürfen. So wäre es ein

45 „Regel III: Bezüglich der vorgelegten Objekte ist nicht zu suchen, was andere meinen, oder was wir selbst mutmaßen, sondern was wir klar und evident betrachten oder mit Sicherheit ableiten können; nicht anders nämlich wird Wissenschaft erworben.“ („Regula III: Circa objecta proposita, non quid alii senserint, vel quid ipsi suspicemur, sed quid clare et evidenter possimus intueri, vel certo deducere, quaerendum est; non aliter enim scientia acquiritur.” I.III, 10, AT X, 366)

Fehler, in der dritten und vierten Meditation schon der mit Sinnesideen einhergehenden natürlichen Suggestion zu erliegen, daß es Dinge außer mir gebe (VII, 40), während die sechste Meditation diese Tatsache als unbezweifelbar ausweist. Erfüllt Wissen aufgrund von Sinnesideen nun das Kriterium der zuverlässigen Wahrheit und ist es als Erkenntnis im Sinne des Ziels der Wahrheit an sich qualifiziert?

Eine Erkenntnis mit der wir nur die Wahrheit verfolgen („veritatem assequar“, AT VII, 62), läßt keinen unaufgeklärten Irrtum zu. Ein Bereich, in dem wir zwar weitgehend zuverlässiges Wissen erwerben, aber manchmal irren, ohne daß wir eine Korrekturmöglichkeit haben, die jeden Irrtum ausmerzt, erlaubt keine solche Erkenntnis. Jene Infallibilität eignet nur klaren und deutlichen Ideen.

Am Ende der sechsten Meditation wertet Descartes indes die Sinnesideen auf:

„Da brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß das, was die Sinne mir täglich entgegenhalten, falsch sei. Die übertriebenen Zweifel der letzten Tage sind als lächerlich zu verwerfen.“(AT VII, 89)46

Wie ist diese Aufwertung in Begriffen wie Gewißheit zu beschreiben? Zur Eigentümlichkeit des Wissensbereichs, der in der sechsten Meditation gewonnen wird, gehört, daß dieses Wissen das Ziel einer metaphysischen Gewißheit nicht immer erreicht, die Wahrheit einschließt. Bestimmte Erkenntnisse der sechsten Meditation, wie der Schluß vom Vorhandensein der Sinnesideen auf eine psychophysische Einheit und Dinge außer uns, gelten als gesichertes Wissen. Aber viele Urteile, die wir aufgrund von Sinnesideen fällen und um unserer Selbsterhaltung willen fällen sollen, sind keines.

Die Urteile, die wir bei normalem Gebrauch der Sinnesdaten fällen, sind prinzipiell bezweifelbar, da

„[...]die aus Geist und Körper zusammengesetzte Natur des Menschen doch zuweilen trügen kann“.(AT VII, 88)47

Obgleich wir z.B. infolge eines bestimmten Gehirnzustands glauben, einen Schmerz im Fuß zu empfinden, d.h., daß eine Verletzung des Fußes vorliege, muß nicht immer eine vorliegen:

„Denn ein und dieselbe Gehirnerregung kann dem Geist stets nur die gleiche Empfindung mitteilen; jene Erregung pflegt aber viel öfter durch eine Verletzung des Fußes zu entstehen als durch eine Einwirkung an anderer Stelle, und darum ist es vernunftgemäß, daß jene Erregung dem Geist immer einen Schmerz im Fuß anzeigt statt an einer anderen Stelle.“(AT VII, 88f.)48

Sinnesideen können auf eine Weise verursacht werden, die von der Weise abweicht, in der sie verursacht werden müssen, damit die Überzeugungen, zu denen sie geneigt machen, wahr sind. Wir wissen lediglich, daß es statistisch in mehr Fällen zu unserer Selbsterhaltung als leibseelische Einheiten beiträgt, wenn wir diese Urteile fällen, als wenn wir uns zurückhalten, sie zu fällen, weil wir nur nach der Wahrheit strebten. Diese Urteile bieten also keine gesicherte Erkenntnis, weil sie falsch sein können, ohne daß wir Gelegenheit hätten, sie zu korrigieren. Darin liegt ein Zweifelsgrund, weil wir uns eine Hypothese ausdenken können, welche die gegenwärtige Situation als eine beschreibt, in der eine Sinnesidee trügt.

Diese Beschränkung der Sinnesdaten hängt mit der Frage zusammen, inwiefern die Sinnesideen zur Klarheit und Deutlichkeit gebracht werden können. Eine Antwort lautet, Klarheit und Deutlichkeit seien zu erreichen, wenn die irrige Meinung vermieden wird, zwischen bestimmten Sinnesideen und ihrer Ursache bestehe ein Verhältnis der Ähnlichkeit. Descartes erklärt in den Prinzipien am Beispiel

46 „[...]non amplius vereri debeo ne illa, quae mihi cotidie a sensibus exhibentur, sint falsae, sed hyperbolicae superiorum dierum dubitationes, ut risu dignae, sunt explodendae.“

47 „[...]naturam hominis ut ex mente & corpore compositi non posse non aliquando esse fallacem.“

48 „[...] cùm ille idem motus in cerebro non possit nisi eundem semper sensum menti inferre, multoque frequentius oriri soleat a causâ quae laedit pedem, quàm ab aliâ alibi existente, rationi consentaneum est ut pedis potius quàm alterius partis dolorem menti semper exhibeat.“

des Schmerzes, worin der Mangel an Deutlichkeit einer Sinnesidee besteht, und erweckt den Eindruck, er sei durch Vermeidung bestimmter Fehler zu überwinden:

„Wenn z.B. jemand einen heftigen Schmerz fühlt, so ist die Wahrnehmung dieses Schmerzes ganz klar, aber nicht immer deutlich; denn gemeiniglich vermengen die Menschen sie mit ihrem dunklen Urteil über die Natur des Schmerzes, indem sie meinen, daß in dem schmerzenden Gliede etwas dem Gefühl des Schmerzes, den sie allein [zu ergänzen: klar] wahrnehmen, Ähnliches enthalten sei.“(II.I, 15, AT VIII / 1, 22)49

Nun muß es einen Grund geben, warum die Menschen gemeiniglich zu diesen Fehlurteilen neigen.

Descartes denkt hier wohl an die materiale Falschheit, die einer Sinnesidee von Natur aus unweigerlich eignet, weil sie zu einem Urteil über eine Ähnlichkeit zwischen dem Vorstellungsgehalt und der äußeren Ursache geneigt macht, wie dazu, zu glauben, es gebe eine reale Eigenschaft des Schmerzes, die der Schmerzidee entspreche, oder reale Eigenschaften der Wärme und Kälte:

[...] so gibt es doch eine materiale Falschheit in den Vorstellungen, wenn sie nämlich ein Nichtding als Ding vorstellen. So sind beispielsweise die Vorstellungen von Wärme und Kälte so wenig klar und deutlich, daß ich aus ihnen nicht entnehmen kann, ob die Kälte nur ein Mangel an Wärme ist oder die Wärme ein Mangel an Kälte, oder ob beide wirkliche Eigenschaften sind oder keine von beiden. Da nun alle Vorstellungen nur als Vorstellungen von Dingen auftreten können, so müßte die Vorstellung, die mir die Kälte als etwas Wirkliches und Positives hinstellt, zu Recht falsch genannt werden, falls nämlich Kälte nichts als Wärmemangel wäre.“(AT VII, 43f.)50

Materiale Falschheit soll darin bestehen, daß Ideen Nicht-Dinge als Dinge vorstellen. Als Beispiel nennt Descartes die Kälteempfindung. Sie berechtigt zu keinem Schluß, ob ihr ein reales Ding entspreche, suggeriert aber, daß ihr eines entspreche. Nun ist sie deshalb noch nicht material falsch, sondern nur dann, wenn ihr wirklich nichts entspricht. Wenn nun einer der Ideen der Wärme und Kälte ein reales Ding entspricht, scheint diese nicht falsch. In den vierten Erwiderungen sagt Descartes freilich, weder Wärme- noch Kälteempfindungen stellten Reales dar (AT VII, 232-235). Wenn aber beide nichts Reales darstellen, läßt sich die Asymmetrie nicht mehr aufrechterhalten, daß nur die material falsch ist, die ein Nicht-Ding als ein Ding darstellt. Worin liegt dann aber die materiale Falschheit? Sie kann wohl nur darin liegen, daß Ideen zu falschen Urteilen verführen, ihnen entspreche etwas Reales. Hinter diesen Unsicherheiten steht wohl das Problem, daß Descartes sich nicht von der Vorstellung freimacht, der Kälte korrespondiere irgendwie ein Fehlen von etwas Realem, anstatt wie über die Wärmeempfindung an der zitierten Stelle (AT VII, 83) zu sagen, daß ihr eine äußere Konfiguration räumlicher und kinematischer Eigenschaften entspreche. Er sollte sagen, daß die materiale Falschheit solcher Ideen, das Darstellen von Nicht-Dingen als Dingen, darin besteht, daß sie reale Eigenschaften suggerieren, die nicht auf räumliche und kinematische reduzierbar sind. Insofern sie solche Eigenschaften enthalten, sind sie nichts Äußerem ähnlich. Nur insofern stellen sie auch nichts Äußeres dar, als sie solche Eigenschaften darstellen, die nicht wirklich bestehen.

Sinnesideen sind unklar und undeutlich, ohne daß sich dieser Mangel an Klarheit und Deutlichkeit anders aufklären ließe, als daß wir uns bestimmter Schlüsse auf eine Ähnlichkeit mit einem Korrespondens enthalten:

49 „Ita, dum quis magnum aliquem sentit dolorem, clarissima quidem in eo est ista perceptio doloris, sed non semper est distincta; vulgò enim homines illam confundunt cum obscuro suo judicio de naturâ ejus, quid putant esse in parte dolente simile sensui doloris, quem solum clarè percipiunt.“

50 „[...]est tamen profecto quaedam alia falsitas materialis in ideis, cùm non rem tanquam rem repraesentat; ita, exempli causâ, ideae quas habeo caloris & frigoris, tam parum clarae & distinctae sunt, ut ab iis discere non possim, an frigus sit tantùm privatio caloris, vel calor privatio frigoris, vel utrumque sit realis qualitas, vel neutrum. Et quia nullae ideae nisi tanquam rerum esse possunt, siquidem verum sit frigus nihil aliud esse quàm privationem caloris, idea quae mihi illud tanquam reale quid & positivum repraesentat, non immerito falsum dicetur, & sic de caeteris.“

„[...] es [das Wärme- oder Schmerzgefühl] beweist lediglich, daß im Feuer ein gewisses irgendwie beschaffenes Etwas ist, das in uns die Wärme- oder Schmerzempfindung erregt.“(AT VII, 83)51

Ein Wärmegefühl allein zeigt offenbar nicht, daß seine Ursache ihm ähnlich ist. Was es über seine Ursache zeigt, bleibt hier unbestimmt. Sinnesideen sind material falsch, weil sie einen unmittelbaren natürlichen Impuls geben, falsche Überzeugungen über die Außenwelt anzunehmen.52 Die materiale Falschheit ist unabhängig von der genannten Unsicherheit des Verursachungswegs von Sinnesideen.

Die Klarheit und Deutlichkeit scheinen nun gewonnen zu werden, indem wir uns eines Urteils des Typs wie desjenigen enthalten, daß dem Schmerz ein Objekt oder eine reale Eigenschaft „Schmerz“

im Fuß oder der Wärmeempfindung eine reale Eigenschaft „warm“ entspreche. Wie aber steht es mit dem Gedanken, daß eine Störung der Gesundheit im Fuß die Ursache der Schmerzwahrnehmung und eine andere räumlich-kinematische Konfiguration die Ursache der Wärmeempfindung sei? Solche Gedanken sind zwar nicht immer gewiß, aber notwendig, damit diese Wahrnehmungen eine praktische Funktion in der Erhaltung des Körpers haben können. Die Gedanken einer Ursache im Fuß des Fußschmerzes oder einer Ursache der Wärmeempfindung sind zu unterscheiden von den Gedanken eines dem Schmerz ähnlichen Objekts im Fuß, etwa einer Eigenschaft „schmerzend“, oder einer der Wärmeempfindung ähnlichen Eigenschaft „warm“ als Eigenschaft des Gegenstands. Die ersten Gedanken sind berechtigt, weil sie der praktischen Funktion, die Wahrnehmungen haben, gerecht werden, die zweiten nicht, weil sie nichts zu dieser praktischen Funktion beitragen. Doch sind jene deshalb klar und deutlich? Nach Descartes Auffassung offenbar nicht, denn die Klarheit und Deutlichkeit beschränkt sich auf die Auffassung der Sinnesideen als bloßer Modifikationen des Geistes:

„Um aber hier das Klare vom Dunkeln zu sondern, ist sorgsam zu beachten, daß der Schmerz, die Farbe und ähnliches nur dann klar und deutlich aufgefaßt werden, wenn man sie bloß als Gedanken ansieht.“(II.I, 25, AT VIII / 1, 33)53

Diese Stelle kann auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden. Entweder Descartes betont, daß Schmerzen und Farbwahrnehmungen keine Dinge korrespondieren, die Farb- oder Schmerzeigenschaften hätten, oder er meint, daß alles, was wir in einem Schmerzereignis oder einer Wahrnehmung von Farbe klar und deutlich einsehen, ist, daß sie Gedanken sind. Klar und deutlich wäre demnach nicht einmal die Einsicht in eine Ursache des Fußschmerzes im Fuß. Für die zweite Lesart spricht nicht nur die im obigen Zitat (AT VII, 88f.) manifestierte Unsicherheit, an welcher Stelle des Körpers eine Nervenbewegung verursacht wird, die ja mit Klarheit und Deutlichkeit unvereinbar ist, die hinreichend für metaphysische Gewißheit sein sollen, sondern auch, daß Descartes in den Passions zweierlei unterscheidet: den „[...]Haß des Übels, der nur durch den Schmerz sich ankündigt[...]“ und den „[...]Haß, der aus einer deutlicheren Erkenntnis entsteht[...]“(§ 140).54 Da wir

51 „[...]ratio est quae suadeat, [...] tantummodo in eo [ignis] aliquid esse, quodcunque demum sit, quod istos in nobis sensus caloris vel doloris efficiat.“

52 Röd stellt daher mit Bezug auf materiale Wahrheit oder Falschheit fest: „Empfindungen sind grundsätzlich verworren und daher niemals in dem Sinn wahr, in dem nach Descartes von der Wahrheit distinkter Begriffe gesprochen werden kann.“(Röd 1982, 136) Röds Bemerkung ist irreführend. Abgesehen von ihrer materialen Falschheit können Empfindungen zu wahren Urteilen führen wie distinkte Ideen auch. Sie sind nur weniger sicher.

53 „Ut autem hic quod clarum est ab eo quod obscurum distinguamus, dilligentissimè est advertendum, dolorem quidem & colorem, & reliqua ejusmodi, clarè ac distinctè percipi, cùm tantummodo ut sensus, sive cogitationes, spectantur.“

54 „Haine du mal qui n´est manifesté que par la douleur[...]“ und „[...] de celle qui vient d´une connoissance plus claire[...]“

aus dem Schmerz schließen dürfen, daß ein Übel vorliegt, und Descartes trotzdem diesem Schluß die klare und deutliche Erkenntnis gegenüberstellt, ist zu folgern, daß der Schmerz selbst dann keine deutliche Erkenntnis vermittelt, wenn er seiner eigentlichen Funktion gemäß informiert, was dem Körper zuträglich ist, und zum Haß dessen anregt, was ihm schädlich ist. Annahmen bezüglich der Ursache des Fußschmerzes im Fuß beruhen nicht auf klarer und deutlicher Einsicht.

Nun ist kaum zu verstehen, wie die Ursache der Sinnesidee, die wir unterstellen dürfen, von der realen Eigenschaft des Gegenstands abgegrenzt werden kann, die wir nicht unterstellen dürfen, ohne daß die Informationswirkung der ersten verlorengeht. Wenn wir nicht aus dem Schmerz oder der Kälte- bzw.

Wärmewahrnehmung als solchen auf gewisse Weltzustände schließen, sind diese Sinnesideen überflüssig. Die wahrgenommenen Differenzierungen müssen auf räumliche und kinematische Eigenschaften bezogen werden, die Gegenstände haben und die zu ihrer Natur gehören. Diese Eigenschaften sind real. Auch einzelne Ideen wie das Wärmegefühl sagen etwas darüber:

„Da ich nun ganz verschiedenartige Empfindungen von Farbe, Schall, Geruch, Geschmack, Wärme, Kälte habe, schließe ich mit Recht, es gebe in den Körpern, von denen jene Sinneswahrnehmungen herrühren, Mannigfaltigkeiten, die ihnen entsprechen, wenn sie auch mit unseren Empfindungen vielleicht keine Ähnlichkeit haben.“(AT VII, 81)55

Descartes scheint nun nicht allen Sinneswahrnehmungen materiale Falschheit zuzusprechen. Er stellt Ideen, die direkt räumliche und kinematische Eigenschaften suggerieren, solche gegenüber, die Eigenschaften suggerieren, die nicht auf räumliche und kinematische reduzierbar sind. Wie steht es nun mit Sinnesideen, die direkt räumliche und kinematische Eigenschaften suggerieren? Da Sinnesdaten ja Dinge nicht nur z.B. als kalt darstellen, die nach Descartes´ Überzeugung in Wahrheit keine reale Eigenschaft der Kälte haben, sondern auch mit bestimmter räumlicher Gestalt, die sie als Modifikationen der res extensa wirklich haben, so könnte vermutet werden, die letzteren Informationen eigneten sich eher für metaphysisch gewisse Aussagen ohne Relativierung auf den Wahrnehmenden. So stellt Descartes Größe, Ausdehnung, Lage, Substanz, Dauer und Zahl der Gegenstände Licht, Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmacksempfindungen, Wärme und Kälte gegenüber. Die ersteren würden klar und deutlich aufgefaßt (AT VII, 43). Auch die Sinnesideen von räumlichen und kinematischen Strukturen unterliegen jedoch Beschränkungen. So stellt Descartes die Sinnesidee der Sonne, die sie sehr klein darstellt, der klaren und deutlichen Einsicht gegenüber, daß die Sonne sehr groß ist (AT VII, 284). An anderer Stelle verweist er auf die mangelnde Klarheit und Deutlichkeit der Wahrnehmung entfernter räumlicher Strukturen (AT VII, 82). Er gibt kein Kriterium an, wann Wahrnehmungen räumlicher Strukturen absolut zuverlässig sind. Im Gegensatz zum ersten beinhaltet der zweite Gesichtspunkt, daß Sinnesideen über räumliche und kinematische Eigenschaften im normalen Gebrauch manchmal irreführen, denn auch wenn die isolierte Erscheinung der Sonne keinen normalen Menschen täuscht, kann er sich manchmal über die Größe und Bewegung von Dingen seiner Umgebung täuschen. Auch isolierte Sinnesideen über räumliche und kinematische Eigenschaften sind nicht klar und deutlich und führen nicht immer zu richtigen Überzeugungen über äußere Dinge, aber sie sind nicht material falsch.

Die These der materialen Falschheit muß (im Verein mit den Fehltendenzen der Leidenschaften) Irrtümer des natürlichen Weltbildes erklären, gegen das die richtige Methode etabliert wird. Diese Irrtümer können offenbar nicht durch die statistisch seltenen Fälle erklärt werden, in denen die

55 Et certe, ex eo quòd valde diversos sentiam colores, sonos, odores, saporem, duritiem, & similia, recte concludo, aliquae esse in corporibus, a quibus variae istae sensuum perceptiones adveniunt, varietates iis respondentes, etiamsi forte iis non similes.“

Sinnesideen bei angemessenem Gebrauch zu Irrtümern führen. Denn diese bleiben ja auch nach dem Vollzug der Erkenntniskritik bestehen. Sie können daher höchstens in Kombination mit einer schon bestehenden Fehlleitung als Explikans fungieren. Die Fehlleitung des natürlichen Weltbildes kann sich a) auf das Ziel der Wahrheit an sich beschränken, das derjenige verfehlt, der in jenem verharrt, oder b) sogar auf den Erfolg in der Lebensführung erstrecken. Für das letztere spricht erstens, daß sich Descartes von seiner Methode große Erfolge in der Lebensführung auch relativ zur bisherigen Praxis verspricht. Zweitens stellt er im Discours die Ausgangssituation des Menschen auch als eine Fehlorientierung im täglichen Handeln dar. Eine weitergehende Fehlleitung (b) stellt scheinbar die Funktion, die Descartes den Sinnesideen zuspricht, in Frage. Aber diese Funktion könnte ja von der Befolgung der Normen abhängen, die erst die Untersuchung etabliert. Sinnesideen sind nicht von sich aus hinreichend für den richtigen Gebrauch, wie es die klaren und deutlichen Ideen sind, sondern sie tendieren dazu, falsch benutzt zu werden, wenn keine anderen Quellen zur Korrektur dieses Gebrauchs herangezogen werden, wie sie die cartesischen Erkenntnisvorschriften liefern, insbesondere, wenn sie innerhalb eines Selbstbildes gebraucht werden, in dem man sich nur als Körper sieht. Dieses Selbstbild läßt sich leicht aus einer Orientierung nur an den Sinneswahrnehmungen erklären, denn die Sinneswahrnehmungen veranlassen nur, bewußt zu tun, was dem Körper nützt (s.u.). Ein Wesen, das sich nur an ihnen orientiert, könnte dem entnehmen, daß es selbst nur ein solcher Körper sei, wenn es die Funktion der Sinneswahrnehmungen als nützlich für es selbst begreift. Die anderen Erkenntnisquellen sind geradezu darauf angelegt, jene Fehltendenz der Sinnesideen zu korigieren, so daß Descartes tatsächlich die menschliche Erkenntniskraft als eine sinnvolle Gesamtanlage beschreiben kann, innerhalb deren kein Teil nur stört, sondern jeder eine sinnvolle Aufgabe wahrnimmt. Die systematische Fehltendenz, die mit einer guten Rolle in der wohlgeleiteten Praxis vereinbar ist, verlangt freilich eine Ergänzung zu einer vollständigen Erklärung der desolaten Erkenntnissituation von Descartes´ Zeitgenossen, die zeigt, warum die Sinnesideen nicht angemessen korrigiert werden, obgleich doch alle Anlagen ihrer richtigen Einbettung vorhanden sind.

Der normale Gebrauch von Sinnesideen führt manchmal zu Täuschungen. Er scheint daher metaphysische Gewißheit auszuschließen. Descartes behauptet jedoch auch, daß zwar jedes einzelne Sinnesdatum täuschen kann; aber wenn wir alle Korrekturmöglichkeiten von Sinneswahrnehmungen durch Sinnesdaten aus anderen Quellen ausgeschöpft haben, dürfen wir an der Zuverlässigkeit der korrigierten Sinnesdaten nicht mehr zweifeln. Zunächst stellt er nur die bescheidenere Behauptung auf, daß eine Korrektur durch andere Sinne „fere semper“, fast immer möglich sei, aber nicht immer (AT VII, 89). Doch dann gebraucht er ein sehr starkes Argument: Wir können uns in den Sinnesdaten nach angemessener Korrektur nicht täuschen, weil Gott ein Täuscher wäre, wenn eine Erkenntnisfähigkeit, die er uns gegeben hat, je zu einem Irrtum führte, der nicht korrigierbar wäre:

„[...]Habe ich dann noch alle Sinne, das Gedächtnis und den Verstand angerufen, um jene Wahrnehmungen zu prüfen, und hat keiner von ihnen mir etwas vermeldet, was mit den anderen im Widerstreit steht, so darf ich nicht mehr den geringsten Zweifel an ihrer Wahrheit hegen. Denn da Gott kein Betrüger ist, folgt, daß ich in solchen Fällen überhaupt nicht getäuscht werde[ ..]“(AT VII, 90)56

Descartes schließt hier aus der Wahrhaftigkeit Gottes nicht nur, daß Sinnesideen in der Regel nicht täuschen, sondern auch, daß es eine Korrekturmöglichkeit gibt, die erlaubt, bezüglich jeder einzelnen Überzeugung aufgrund von Sinnesideen die Wahrheit zu finden. Die Methode der Korrektur, auf die

56 „earumque perceptionem absque ullâ interruptione cum totâ reliquâ vitâ connecto [...]Nec de ipsarum veritate debeo vel minimum dubitare, si, postquam omnes sensus, memoriam & intellectum ad illas examinandas convocavi, nihil mihi, quod cum ceteris pugnet, ab ullo ex his nuntietur. Ex eo enim quòd Deus non sit fallax, sequitur omnino in talibus me non falli.“

Descartes verweist, besteht vor allem in einem wechselseitigen Abgleich von Sinnesideen mit anderen Sinnesideen und klarer und deutlicher Einsicht. Ein solcher Abgleich scheint jedoch nicht ohne weiteres geeignet, das Ziel einer Gewißheit zu erreichen, die jeden Irrtum ausschließt. Denn ein Prozeß wechselseitigen Abgleichs ist eher etwas Graduelles. Er ermöglicht eine Annäherung an metaphysische Gewißheit. Aber um sie zu erreichen, müßte er ein Kriterium beinhalten, wann die letzte epistemische Stufe erreicht wird. Ein solches Kriterium liegt jedoch in diesem Prozeß nicht. Es könnte von einem Ideal des größtmöglichen Abgleichs ausgegangen werden, das mit metaphysischer Gewißheit verbunden wird. Aber die realen Abgleichsmöglichkeiten können hinter diesem größtmöglichen Abgleich zurückbleiben; dann hätte Gott keine hinreichenden Korrekturmöglichkeiten gegeben. Denn es bleibt offen, wie Descartes Fälle ausschließen kann, in denen alle anderen Erkenntnisse, die zugänglich sind, keinen hinreichenden Abgleich erlauben. Gerade einzelne Überzeugungen aufgrund von Sinnesideen, die an der Peripherie unseres Überzeugungssystems liegen, sind oft nur durch geringe Kohärenz mit diesem Überzeugungssystem verbunden, so daß der Abgleich wenig erbringt. Oft stehen wohl auch keine Möglichkeiten der Überprüfung durch andere Sinne zur Verfügung, wie wenn ich etwa in der Nacht einen Vogelruf höre, der sich nicht wiederholt, und mich frage, ob es ein Uhu war. Descartes müßte behaupten, daß Gott solche Situationen verhindert.

Diese Aufwertung der Sinnesdaten wird bestätigt durch die Stellung, die Descartes ihnen an vielen Punkten seiner Naturwissenschaft einräumt, für die er metaphysische Gewißheit reklamiert. So reagiert er im Discours, in dem er die Beschränkung des Urteils auf klare und deutliche Einsicht ohne jeden Zusatz vertritt, auf denkbare Skepsis gegenüber seiner Erklärung des Herzmechanismus so, als seien Beobachtungen der Anatomen von geradezu demonstrativer Evidenz (und das im Zusammenhang einer Erklärung des Herzmechanismus, die den elementarsten Alltagsvorstellungen von physikalischen Zusammenhängen hohnspricht).57 Diese Evidenz mancher Sinnesdaten veranlaßt Descartes an einer Stelle der Meditationen wohl auch, in einem gewissen Widerspruch zu allen sonstigen Aussagen Sinnesideen in ihrer Art deutlicher als angeborene zu nennen (AT VII, 75).58 So nimmt der Naturwissenschaftler des Discours nicht nur Ableitungen aus evidenten Gesetzesbegriffen, sondern auch Experimente vor, die er ohne Einschränkung als Basis der Prüfung naturwissenschaftlicher Hypothesen akzeptiert (AT VI, 72f.).59

57 Der Kreislauf wird durch Klappen organisiert, die nur eine Fließrichtung des Blutes zulassen, und eine kontinuierliche Erwärmung an einer Stelle (AT VI, 47ff.). Das Resultat ist ein Druckausgleich, kein Kreislauf.

Es ist unwahrscheinlich, daß Descartes an dieser Stelle nur die Gewißheit der Folgerungen aus Annahmen meint, nicht die der Beobachtung, die diese Annahmen bestätigen.

58 Diese Stelle läßt sich vielleicht so verstehen, daß einzelne Sinnesideen wirklich klar und deutlich sind, aber keine ausgezeichnete Art davon.

59 Wie können Sinnesdaten auch dann zu sicheren Erkenntnissen führen, wenn dasjenige an ihnen benutzt wird, was nicht klar und deutlich ist? Es gibt mehrere Möglichkeiten, auf diese Frage zu antworten, ohne daß sich aus Descartes´ Begriffsgebrauch eine Entscheidung zwischen ihnen ableiten ließe. Erstens muß vielleicht nicht jede gewisse Erkenntnis auf klarer und deutlicher Einsicht beruhen. Dann könnten die Sinnesdaten eine sichere Erkenntnis liefern, ohne daß sie klar und deutlich sind. Zwischen den einzelnen Sinnesdaten, die aufgrund ihrer mangelnden Klarheit und Deutlichkeit keine absolute Gewißheit zuließen, und der Erkenntnis stünde ein Korrekturprozeß, der Gewißheit der Erkenntnis herstellte, aber nicht Klarheit und Deutlichkeit der Ideen, auf denen sie beruhte. Zweitens mögen Sinnesdaten trotz ihrer mangelnden Klarheit und Deutlichkeit eine klare und deutliche Erkenntnis lieferten. Der Prozeß der Korrektur der Sinnesdaten wäre dann als Herstellung von Klarheit und Deutlichkeit zu begreifen. Descartes spricht auch mit bezug auf Erkenntnisse von Klarheit und Deutlichkeit (§ 140). Daher scheint die zweite Möglichkeit zu bestehen. Diese Möglichkeiten zeigen, daß Spielraum bleibt, den Mangel an Klarheit und Deutlichkeit der Sinnesideen mit der Gewißheit von Erkenntnisansprüchen zu vereinbaren.