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Konkurrierende Konzeptionen des höchsten Guts

In Descartes´ kursorischer Diskussion der antiken Moralphilosophie werden die inneren Spannungen, vor allem aber der äußere Gegensatz zweier Auffassungen vom höchsten Gut und der korrespondierenden Glückseligkeit aufgewiesen, die durch das Wesen des Subjekts der Moralphilosophie festgelegt sein sollen, des weiteren

„aristotelischen“ und des engeren „stoischen“ Ideals.

Im folgenden soll der Zusammenhang zwischen Erkennen und Handeln weiter verfolgt werden. Dazu sind einige ethische Grundprinzipien Descartes´ zu erarbeiten, die das Erkennen und Handeln leiten.

Der Ausgang der Untersuchung von den Motiven der Erkenntnis hatte drei Gründe. Erstens erschien es angemessen, die Untersuchung dort in die Forschungslage einzufügen, wo die stärksten Forschungsinteressen liegen: in der Erkenntnistheorie Descartes´; zweitens, dort anzusetzen, wo, zumindest wenn man von seinen publizierten Schriften ausgeht, Descartes´ Hauptinteresse lag.

Drittens ist seine Erkenntnistheorie sicher sein wichtigster Beitrag zur Philosophiegeschichte. Die Diskussion der Erkenntnistheorie hat nun zu einem Punkt geführt, an dem sich mit der Frage nach den letzten Motiven und Zielen der Erkenntnis auch die nach ihrer Einbettung in eine Theorie stellt, die Motive und Ziele des Menschen überhaupt thematisiert: die cartesische Ethik. Hier wird weitgehend Neuland betreten, aber eines, dessen Erschließung nicht unbedingt lohnend erscheint. Denn wenn es eine Ethik Descartes´ gibt, ist sie sehr unauffällig. Entsprechend fällt Leibniz´ Bewertung aus, Descartes habe keine großen Fortschritte in der Moralphilosophie erzielt (Leibniz 1989, 241). Auch ein Blick in die heutige Forschung ergibt ein ähnliches Bild: Die cartesische Ethik hat längst nicht die gleiche Aufmerksamkeit gefunden wie andere Theorieteile. Der Grund dafür liegt wohl auch in ihrer mangelnden Ausdifferenzierung. Eine Erklärung dieses Mangels liefert Descartes, wenn er gegenüber Burman erklärt, er spreche nicht gerne über ethische Dinge (16.1.1648, AT V, 178). Ein Denker, der sich so gewissenhaft gibt wie Descartes, kann diesen Unwillen nur damit rechtfertigen, daß die ethischen nicht so wichtig sind wie andere Fragen. In dem bekannten Bild vom Baum der Philosophie aus dem Brief an Picot, der die Vorrede der Prinzipien bildet, weist Descartes der Ethik jedoch eine Stellung zu, die nicht ganz zu dieser These passen will:

„Die gesamte Wissenschaft ist also einem Baume vergleichbar, dessen Wurzel die Metaphysik, dessen Stamm die Physik und dessen Zweige alle übrigen Wissenschaften sind, die sich auf drei hauptsächliche zurückführen lassen, nämlich auf die Medizin, die Mechanik und die Ethik.“(II.I, XLII, AT IX / 2, 14)105

Das Baumbild läßt es unmittelbar so erscheinen, als stehe die Ethik neben Medizin und Mechanik als ein gleichrangiger Zweig der Wissenschaft. Die Beschreibung der Ethik an der gleichen Stelle suggeriert sogar, daß sie eine besondere Stellung als Abschluß der Wissenschaft einnimmt, welche die anderen Teilwissenschaften Medizin und Mechanik nicht einnehmen:

„Unter Ethik verstehe ich dabei die höchste und vollkommenste Sittenlehre, die, indem sie die gesamte Kenntnis der anderen Wissenschaften voraussetzt, die letzte und höchste Stufe der Weisheit bildet.“(II.I, XLII, AT IX / 2, 14)106

Die Ethik wird hier nicht nur als ein Resultat aller anderen Wissenschaften gesehen, sondern als die Einstellung dessen, der diese Wissenschaften durchlaufen und sein Handeln konsequent daran

105 „Ainsi toute la Philosophie est comme vn arbre, dont les racines sont la Metaphysique, le tronc est la Physique, & les branches qui sortent de ce tronc sont toutes les autres sciences, qui se reduisent à trois principales, à sçauoir la Medecine, la Mechanique & la Morale[...]“

106 „[...]j´entens la plus haute & la plus parfaite morale, qui, presupposant vne entiere connoissance des autres sciences, est le dernier degré de la Sagesse.“

ausgerichtet hat, wie sich zeigen wird. Wie erklärt sich diese Diskrepanz? Eine Erklärung wäre die, daß zwischen der Aussage gegenüber Burman und der Aussage aus dem Brief an Picot eine gewisse Akzentverschiebung liegt, nicht unbedingt eine Spannung im Begriff der Ethik.

J. Marshall betont, daß Descartes unter einer Ethik in dem umfassenden Sinn des Baumbildes etwas anderes versteht als eine Lehre vom moralischen Handeln, wie wir es heute umgangssprachlich verstehen würden. Eine solche Lehre ist vor allem davon bestimmt, was man anderen tun darf und soll. Descartes´ Ethik steht dagegen in der Tradition antiker Lehren vom guten Leben, die das gesamte Verhalten des Menschen auf ein ihm eigentümliches Ziel hin organisieren (Marshall 1999, 6). Von dieser Feststellung ausgehend kann die Akzentverschiebung zwischen Descartes´ Bekenntnis seiner Unlust, über Ethik zu schreiben, und der Stellung der Ethik im avisierten System der Wissenschaft beschrieben werden. Für Marshall steht Descartes´ Ethik am Ende der Tradition antiker Lehren vom höchsten Gut und am Anfang von etwas Neuem, das er folgendermaßen beschreibt:

„Yet, like Hobbes he is a modern moral philosopher in the sense that he works out a morality in the light of the evolving modern conception of science and nature (which conceptions he helped to initiate).“(Marshall 1999, 7) Bei der Lektüre von Marshalls Interpretation fällt es jedoch schwer, den Einfluß neuer Konzeptionen von Wissenschaft und Natur als so epochal zu bewerten. Trotzdem weist Marshall auf eine Eigentümlichkeit der cartesischen Ethik hin, welche die Akzentverschiebung erklären könnte. Wenn es richtig ist, daß Systemteile, die nicht auf den ersten Blick in enger Verbindung mit ethischen Überlegungen stehen, wie Ergebnisse der Naturwissenschaft, einen großen Einfluß auf Descartes´

Ethik haben, dann könnte diese Ethik vielleicht teilweise in der Abhandlung solcher Systemteile ohne ausdrückliche Rücksicht auf ethische Fragestellungen aufgehen. Dadurch könnte sich erklären, warum die Ethik den Abschluß eines allgemeinen Systems des Wissens bildet. Diese Stellung eines Abschlusses könnte umgekehrt auch dadurch zustandekommen, daß ethische Überlegungen in die verschiedenen Teile dieses Systems selbst einfließen, so daß mit diesem System zugleich eine Ethik entwickelt wird. Hieraus ließe sich eine Hypothese ableiten, welche Akzentverschiebung zwischen den beiden Aussagen über die Ethik stünde. Descartes´ Unwille, ethische Fragen zu behandeln, könnte sich auf die Idee einer eigenständigen Abhandlung ethischer Fragen beziehen, die von den übrigen Gebieten der Philosophie gelöst ist. Seine Aussage zur Stellung der Ethik im System dagegen mag sich auf die Gesamtheit wissenschaftlicher Aussagen beziehen, die für ein gutes Leben relevant sind.

Descartes nimmt erstens den antiken Eudämonismus auf: „Es gibt keinen, der nicht begehrt, sich glücklich zu machen.“(an Elisabeth, 1. 9. 1645, AT IV, 282)107 Zweitens stellt er seine praktische Philosophie in die antike Tradition der Suche nach einem höchsten Gut. Er diskutiert das Verhältnis beider, der Glückseligkeit und des höchsten Guts:

„Ich bemerke zuerst, daß es einen Unterschied zwischen der Glückseligkeit, dem höchsten Gut und dem letzten Ende oder dem Ziel gibt, auf das hin all unsere Handlungen ausgerichtet sein müssen: denn die Glückseligkeit ist nicht das höchste Gut; aber sie setzt es voraus, und sie ist die Freude oder Befriedigung des Geistes, die daher rührt, daß man es besitzt. Aber unter dem Endziel unserer Handlungen kann man das eine oder das andere verstehen; denn das höchste Gut ist ohne Zweifel die Sache, die wir uns als Ziel in all unseren Handlungen setzen müssen, und die Zufriedenheit des Geistes, die davon kommt, wird auch mit gutem Recht unser Ziel genannt, denn sie ist der Anziehungspunkt, der macht, daß wir es suchen.“ (an Elisabeth, 18.8.1645, AT IV, 275)108

107 „[...] il n´y a personne qui ne desire se rendre hureux.“

108 „Ie remarque, premierement, qu´il y a de la difference entre la beatitude, le souuerain bien & la derniere fin ou le but auquel doiuent tendre nos actions: car la beatitude n´est pas le souuerain bien; mais elle le presuppose,

& elle est le contentement ou la satisfaction d´esprit qui vient de ce qu´ on le possede. Mais, par la fin de nos actions, on peut entendre l´vn & l´autre; car le souuerain bien est sans doute la chose que nous nous deuons

Gegen klassische Autoren wie Aristoteles unterscheidet Descartes Glück und das höchste Gut. J.

Marshall irrt daher, wenn er Descartes die Meinung unterstellt: „The highest good is, of course, happiness[...]“(Marshall 1999, 6). Trotzdem scheinen Glückseligkeit und die Erreichung des höchsten Guts sehr eng zusammenzuhängen. Glück ist diejenige Zufriedenheit des Geistes, die daraus resultiert, daß das höchste Gut erreicht wird. Glückseligkeit ist sonach ein geistiger Zustand.

Descartes sieht insbesondere drei Kandidaten um die richtige Morallehre konkurrieren: die Lehren Aristoteles´, der Stoa und Epikurs. Seine eigene Auffassung ist vor allem durch seine Beschreibungen der ersten beiden geprägt, weil sie in einer Spannung stehen. Stoische und aristotelische Lehre erscheinen ihm miteinander unvereinbar und doch beide berechtigt. In einer Interpretation von Senecas De vita beata zeichnet er von der Rechtfertigungsleistung der beiden ein freundlicheres Bild als früher im Discours. Zuerst erwägt er die aristotelische Position:

„Denn Aristoteles, der das höchste Gut der ganzen menschlichen Natur im allgemeinen betrachtet hatte, das heißt dasjenige, das derjenige besitzen kann, der von allen am meisten erreicht hat, hatte recht, es aus allen Vollkommenheiten zusammenzusetzen, deren die menschliche Natur fähig ist.“(an Elisabeth, 18. 8. 1645, AT IV, 276)109

Aristoteles hat die menschliche Natur „im allgemeinen“ betrachtet und daraus einen sehr umfassenden Begriff des höchsten Gutes gewonnen. Der Inbegriff dessen, was das Ziel des Menschen sein sollte, wird mit Hilfe einer Konzeption von Vollkommenheiten beschrieben, die in der Natur des Menschen angelegt sind. Der einzelne strebt danach, möglichst viele Vollkommenheiten für sich zu erwerben.

Descartes bestimmt das Verhältnis von Vollkommenheit und Glückseligkeit genauer:

„All unsere Zufriedenheit besteht in nichts als dem inneren Zeugnis, das wir davon haben, irgendeine Vollkommenheit zu haben.[...] Gemäß der Vernunftregel muß sich jedes Vergnügen an der Größe der Vollkommenheit bemessen, die es hervorbringt.“ (an Elisabeth, 1.9.1645 AT IV, 283f.)110

Glückseligkeit bemißt sich genau an der Vollkommenheit, die erreicht wurde. Descartes sagt hier nicht präzise, ob es um jeweils einzelne Vollkommenheiten geht oder um die Gesamtbilanz an Vollkommenheit. Aber es läßt sich folgern, daß Gueroults „calcul des plaisirs“ (Gueroult 1953, 227) in ein „calcul des perfections“ überführt werden kann, der das erstere bestimmt. Glückseligkeit, nämlich Zufriedenheit, folgt nicht nur aus der Erreichung einer Vollkommenheit, sie ist das innere Zeugnis, daß wir diese erreicht haben, und zugleich ja das, was uns die Vollkommenheit suchen läßt.

An einer anderen Stelle formuliert Descartes das aristotelische Ideal ein wenig anders:

„ich sehe nichts, was wir für gut halten müßten, als das, was uns in irgendeiner Weise angehört, und was so ist, daß es für uns eine Vollkommenheit ist, es zu haben.[...] Aber, damit ich es bestimmen kann, bedenke ich, daß wir nichts als Güter einschätzen dürfen im Hinblick auf uns, als das, was wir besitzen oder zu erwerben die Fähigkeit haben. Und dies vorausgesetzt, scheint es mir, daß das höchste Gut aller Menschen zusammen [tous les hommes ensemble] eine Anhäufung oder Versammlung aller Güter ist, ebenso der Seele wie des Körpers und des Geschicks, die in irgendwelchen [quelques] Menschen sein können.“ (an Christina, 20.11.1647, AT V, 82f.)111

proposer pour but en toutes nos actions, & le contentement d´esprit qui en reuient, estant l´attrait qui fait que nous le recherchons, est aussy a bon droit nommé nostre fin.“

109„Car Aristote ayant consideré le souuerain bien de toute la nature humaine en general, c´est a dire celuy que peut auoir le plus accompli de tous les hommes, il a eu raison de le composer de toutes les perfections dont la nature humaine est capable[...]“

110 „[...]tout nostre contentement ne consiste qu´au tesmoignage interieur que nous auons d´auoir quelque perfection. [...] selon la regle de la raison, chasque plaisir se deuroit mesurer par la grandeur de la perfection qui le produit.“

111 „ie ne voy rien que nous deuions estimer bien, sinon ce qui nous appartient en quelque façon, & qui est tel, que c´est perfection pour nous de l´auoir.[...] Mais, afin que ie le puisse déterminer, ie considere que nous ne deuons estimer biens, à nostre égard, que ceux que nous possedons, ou bien que nous auons pouuoir d´acquerir.

Diese Stelle scheint in einer bedeutsamen Hinsicht von der vorigen abzuweichen: In der ersten ging es um den einzelnen, der am meisten erreicht hat. In der zweiten geht es um alle Menschen zusammen.

Dennoch beschreiben beide Stellen dasselbe Ideal. Denn Descartes geht nicht auf einen eventuellen Unterschied beider ein. Außerdem stellt er an der ersten Stelle der Betrachtung im allgemeinen eine Betrachtung des einzelnen Menschen im besonderen („en son particulier“) gegenüber, die wir noch analysieren werden. An der zweiten Stelle stellt er der Betrachtung aller Menschen zusammen dieselbe Betrachtung des einzelnen im besonderen gegenüber. Daher ist anzunehmen, daß die Betrachtung im allgemeinen und die Betrachtung aller Menschen zusammen aus demselben Blickwinkel erfolgen. Der Blickwinkel auf alle Menschen zusammen kann auf zwei Weisen begriffen werden.

1. Er kann sich darauf beziehen, daß es Güter gibt, die der einzelne nicht ohne Bedingungen erreichen kann, die von anderen Menschen bereitgestellt werden. Daher muß der Blickwinkel auf diese Bedingungen erweitert werden, um alle Güter zu bestimmen, die der einzelne Mensch unter bestmöglichen Bedingungen erreichen kann. Nur dieser Blickwinkel ist mit der Betrachtung aller Menschen zusammen gemeint.

Diese Deutung hat den Vorteil, daß sie mit der ersten Formulierung des aristotelischen Ideals übereinkommt. Denn der, der von allen am meisten erreicht, kann dies nicht, ohne daß Bedingungen erfüllt sind, in denen er von anderen abhängt. Die Formulierung „das höchste Gut aller Menschen zusammen“ legt aber eine zweite Interpretation näher:

2. Descartes spricht von dem, was die Gesamtheit aller Menschen als gemeinsames höchstes Gut erreichen kann: nicht nur einen Inbegriff aller Vollkommenheiten, die ein einzelner erreicht, sondern aller Vollkommenheiten, die alle als ein Kollektiv erreichen.

Es bleibt unklar, in welchem Sinn diese Vollkommenheiten „uns angehören“ („qui nous appartient en quelque façon“). Diese Bestimmung ist entweder relativ inhaltsleer, weil uns eine Vollkommenheit schon dann angehört, wenn wir zu einem Ganzen gehören, das sie hat, oder weil wir von vornherein nur darauf achten, ob irgendeiner von uns sie hat, oder sie macht es dem einzelnen, der das aristotelische Gut entsprechend dem vorher erörterten Zitat (AT IV, 276) sucht, schwer, die Vollkommenheit dieses Ganzen für ein Gut zu halten.

Die zweite Lesart rückt das aristotelische Ideal in die Nähe von Überlegungen, die dem einzelnen ein Ganzes vorordnen, für dessen Wohl er sich einsetzen soll:

„[...]Obgleich jeder von uns eine Person ist, die von den anderen getrennt ist, und deren Interessen infolgedessen in gewisser Weise von denen des Rests der Welt verschieden sind, muß man immer denken, daß man sich nicht allein erhalten könnte, und daß man letztendlich ein Teil des Universums ist, und mehr im besonderen ein Teil dieser Erde, ein Teil dieses Staates, dieser Gesellschaft [...] Und man muß immer die Interessen des Ganzen, dessen Teil man ist, denen seiner eigenen Person vorziehen; freilich mit Maß und Unterscheidung, denn man hätte Unrecht, sich einem großen Übel auszusetzen, um nur ein kleines Gut für seine Eltern oder sein Land zu erwerben.“(an Elisabeth 15.9.1645, AT IV, 293)112

Das Eigeninteresse mag etwa durch das höchste Gut im Sinne der ursprünglichen Lesart des aristotelischen Ideals bestimmt sein, durch alle Vollkommenheiten, die der einzelne für sich erwerben Et cela posé, il me semble que le souuerain bien de tous les hommes ensemble est vn amas ou vn assemblage de tous les biens, tant de l´ame que du corps & de la fortune, qui peuuent estre en quelques hommes[...]“

112 „[...]bien que chascun de nous soit vne personne separée des autres, & dont, par consequent, les interets sont en quelque façon distincts de ceux du reste du monde, on doit toutefois penser qu´on ne sçauroit subsister seul, &

qu´on est, en effect, l´vne des parties de l´vniuers, & plus particulierement encore l´vne des parties de cete terre, l´vne des parties de cet Estat, de cete societé, [...] Et il faut tousiours preferer les interets du tout, dont on est partie, a ceux de sa personne en particulier; toutefois auec mesure & discretion, car on auroit tort de s´exposer a vn grand mal, pour procurer seulement vn petit bien a ses parens ou a son pais[...]“

kann, und die resultierende Glückseligkeit. Danach strebt der einzelne ja von Natur aus. Dieses Einzelinteresse soll nun hintangestellt werden.113

Je nachdem, ob die Vorordnung eines Ganzen tatsächlich die zweite Lesart des aristotelischen Ideals spezifiziert oder nicht, ergibt sich eine interne Spannung des aristotelischen Ideals oder eine Spannung zwischen diesem Ideal und der Vorordnung der Interessen des Ganzen. Diese Spannung besteht jeweils zwischen der individuellen Vervollkommnung als Inbegriff der Ziele, die der Mensch haben muß, und der Vorordnung der Interessen des Ganzen. Gemäß der zweiten Lesart des aristotelischen Ideals wären diese Interessen des Ganzen durch dessen Vervollkommnung bestimmt. Diese Spannung besteht auch nicht nur theoretisch, denn Descartes diskutiert ja den Fall, in dem ein Verlust des einzelnen gegen einen Gewinn des Ganzen abgewogen werden muß, und begrenzt den ersteren.

Diese Spannung wird noch deutlicher, wenn die Perspektive Gottes einbezogen wird. Was Gott für die Welt will, ist ja ebenfalls dem Willen des einzelnen irgendwie vorgeordnet. Gottes Wille ist stets auf das Beste gerichtet. Er sieht den Menschen offenbar als einen Teil der Schöpfung (AT VII, 55f.). Eine Welt von Dingen mag vollkommener als eine andere sein, wenngleich ein individuelles Wesen in ihr weniger vollkommen ist als ein anderes. Descartes betont immer wieder, daß das Wissen des Menschen um die Schöpfung und ihre normative Ordnung begrenzt ist (z.B. AT VIII / 1, 81). Diese Begrenzung betrifft auch seine Einsicht in Ansprüche, die er an eine Weltordnung stellen könnte, die die bestmögliche sein soll. Gott scheint diese an einem Minimaxkriterium auszurichten (AT VII, 61).

Die Mannigfaltigkeit der Welt als eine Bedingung ihrer Vollkommenheit fordert Unterschiede an individueller Vollkommenheit ihrer Teile. Die Welt ist besser, wenn Wesen Irrtümer begehen, als wenn sie alle gleichermaßen irrtumsfrei wären, weil die Gleichheit einen Verlust an Vollkommenheit des Ganzen beinhalten würde. Der Mensch trägt durch seine Unvollkommenheit zur Vollkommenheit des Ganzen bei. Auch aus Gottes Perspektive ist das Ganze dem einzelnen vorgeordnet, weil dem einzelnen Menschen Vollkommenheiten vorenthalten bleiben, damit das Ganze vollkommener wird.

Gott scheint vom Menschen zu wollen, daß er die Interessen des Ganzen vor seine eigenen stellt.

Es ergeben sich also folgende unvereinbare Fassungen von Zielen des Menschen:

1. Das höchste Gut, der Inbegriff der Ziele, die der Mensch haben muß, umfaßt alle Vollkommenheiten des einzelnen, die er unter idealen Bedingungen erwerben kann. Aus der Erreichung dieser Ziele folgt größtmögliche Glückseligkeit.

2. Das höchste Gut, der Inbegriff der Ziele, die der Mensch haben muß, umfaßt alle Vollkommenheiten des Ganzen, dem der einzelne angehört. Dabei hat die Vollkommenheit des Ganzen in Maßen Vorrang vor seiner individuellen Vollkommenheit, an der er einbüßen kann. Aus der Erreichung dieses Ziels mag größtmögliche Glückseligkeit folgen, sie mag aber auch eine Einbuße an Glückseligkeit entsprechend der Einbuße an individueller Vollkommenheit beinhalten.114

113 Einige Schwierigkeiten sind freilich zu berücksichtigen: Descartes ordnet das eigene Interesse dem Interesse des Ganzen unter, nimmt dann eine Art Trade-off zwischen dem Einzelinteresse und dem bonum commune vor, um extreme Opfer zu vermeiden, überläßt dessen konkrete Ausgestaltung aber offenbar dem bon sens. Er bezieht die Sorge für die eigenen Eltern ein, die ja kein Ganzes bilden, zu dem man gehört, sondern allenfalls mit einem zusammen ein Ganzes formen. Er unterscheidet sogar mehrere Ganze, das Universum als umfassendes Ganzes, die Erde, eine Gesellschaft. Er stellt aber keine Regel auf, die Interessen welches Ganzen man nun dem eigenen vorordnen sollte, und wie etwa zu verfahren sei, wenn die Interessen eines Ganzen den Interessen eines anderen Ganzen widersprächen. Wir verfahren weitgehend, als bestünden obige Unsicherheiten nicht, und als gebe es tatsächlich nur ein Ganzes, dessen Interessen denen des einzelnen vorgeordnet werden müssen.

114 Nun ist das aristotelische Ideal für ideale Bedingungen formuliert. Zu ihnen könnte vielleicht die Bedingung gehören, daß es keinen Konflikt zwischen individuellem höchsten Gut und dem höchsten Gut aller gibt. Denn mit demjenigen, der von allen am meisten erreicht, meint Descartes wohl nicht einen, der irgendwann zufällig

Unabhängig von diesen Problemen, die Descartes nicht auflöst, soll das aristotelische Ideal weiter analysiert werden. Sein Kerngedanke in allen Formulierungen ist der eines Inbegriffs dessen, was der Mensch unter bestmöglichen Umständen erreichen kann. Dieses in jeder Hinsicht umfassende Ideal begreift alle Güter der Seele, des Körpers und des Glücks ein.115 Descartes konnte diese Einteilung in der aristotelischen Ethik finden (Eth. Nik. 1098 b 13). Das höchste Gut ist nicht nur ein Gut in einer Reihe anderer Güter, die ebenfalls, aber nicht im selben Maße erstrebenswert sind, sondern ein Inbegriff dessen, wonach der Mensch streben sollte, aller miteinander vereinbaren Güter.

Descartes betont, daß die aristotelische Konzeption Güter enthält, die von äußeren Umständen abhängen, welche ihre Erreichbarkeit unsicher machen:

„Denn was die Güter des Leibes und des Geschicks betrifft, sie hängen keineswegs schlechthin von uns ab.“(an Elisabeth, 20.11.1647, AT V, 83)116

Descartes entwickelt seine Methode ausdrücklich, um einen Inbegriff aller Vollkommenheiten der menschlichen Natur erreichbar zu machen. Er plante 1633 als Untertitel des Discours:

„der Entwurf einer allgemeinen Wissenschaft, die unsere Natur zu ihrem höchsten Grad der Vollkommenheit erheben kann“(an Mersenne, 2. 1636, AT I, 339)117

Der Inbegriff einer Wissenschaft richtet sich auf den Inbegriff an Vollkommenheiten, die in der menschlichen Natur angelegt und Ziel des Menschen sind. Descartes verspricht im Dicours,

„[...] zu Erkenntnissen zu gelangen, die für das Leben recht nützlich sind, und an Stelle jener spekulativen Philosophie, wie man sie in den Schulen lehrt, eine praktische zu finden, die uns die Kraft und Wirkungen [...]

aller übrigen Körper, die uns umgeben, so genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Tätigkeiten unserer Handwerker kennen, sodaß wir sie in derselben Weise zu allen Zwecken, wozu sie geeignet sind, verwenden und uns auf diese Weise gleichsam zu Meistern und Besitzern der Natur machen können. Dies ist nicht nur zum Zwecke der Erfindung einer unendlich großen Zahl von Kunstgriffen zu wünschen, die bewirken würden, daß man ohne irgend welche Mühe der Früchte der Erde und aller Annehmlichkeiten, die sich hier bieten, genösse, sondern hauptsächlich auch um der Erhaltung der Gesundheit willen, die zweifellos das erste Gut und die Grundlage aller anderen Güter dieses Lebens ist.“(I.I, 51, AT VI, 61f.)118

Descartes will eine praktische Philosophie („philosophie pratique“) an die Stelle der überkommenen scholastischen setzen. Wenn das aristotelische Ideal Gegenstand der cartesischen Ethik ist, dann könnte diese praktische Philosophie deren Ergänzung zu einer angewandten Ethik sein. Diese könnte besser dasteht als alle anderen. Vielmehr meint er damit das Ideal eines Menschen, der unter bestmöglichen Umständen alles Menschenmögliche erreicht hat. Dazu könnte nun nicht nur gehören, daß der einzelne Vollkommenheiten erreicht hat, die anderen aber nicht, sondern, daß alle Menschen alle Vollkommenheiten der menschlichen Natur erreicht haben. Derjenige, der von allen am meisten erreicht hat, wäre somit einer, der mit allen zusammen alles für alle erreicht hat. Aber dadurch wäre die Geltung des Ideals des höchsten Guts auf Welten eingeschränkt, in denen es keiner Opfer des einzelnen bedarf, um für das Weltganze das Beste zu erreichen. Es scheint daher gerade für unsere Welt, wie sie Descartes darstellt, nicht zu gelten.

115 „Geist“ und „Seele“ werden von Descartes weitgehend bedeutungsgleich gebraucht. „Seele“ scheint eher verwendet zu werden, um den Geist zu bezeichnen, wenn er mit einem Körper verbunden ist.

116 „Car, pour les biens du corps & de la fortune, ils ne dependent point absolument de nous;[...]“

117 „Le projet d´vne Science vniuerselle qui puisse éleuer nostre nature à son plus haut degré de perfection.“

118 „[...]de paruenir a des connoissances qui soient fort vtiles a la vie, & qu´au lieu de cete Philosophie speculatiue, qu´on enseigne dans les escholes, on en peut trouuer vne pratique, par laquelle connoissant la force

& les actions [...] de tous les [...] cors qui nous enuironnent, aussy distinctement que nous connoissons les diuers mestiers de nos artisans, nous les pourrions employer en mesme façon a tous les vsages ausquels ils sont propres,

& ainsi nous rendre comme maistres & possesseurs de la Nature. Ce qui n´est pas seulement a desirer pour l´inuention d´vne infinité d´artifices, qui feroient qu´on iouiroit, sans aucune peine, des fruits de la terre & de toutes les commoditez qui s´y trouuent, mais principalement aussy pour la conseruation de la santé, laquelle est sans doute le premier bien, & le fondement de tous les autres biens de cete vie.“

Diese Ausrichtung auf Vollkommenheit ergänzt die Ausrichtung der Philosophie auf Glückseligkeit, auf die Renault sie beschränkt: „La félicité peut ainsi apparaître comme le but ultime de la philosophie.“(Renault 2000, 128)