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Anschluß an das Projekt der „reinen Untersuchung“ (pure enquiry)?

Es wird erörtert, inwieweit an B. Williams´ Konzept des reinen, von allen nichtepistemischen Rücksichten freien Erkenntnisstrebens angeschlossen werden kann, und wie dann das Gewißheitsstreben zu den anderen rein epistemischen Zielen und den knappen Ressourcen der Erkenntnis steht.

Die Idee einer metaphysischen Gewißheit als Konsequenz einer Suche nach der Wahrheit der Dinge an sich selbst, d.h. eines Ziels, das gerade durch Abgrenzung gegen erkenntnistheoretisch kontingente Ziele wie die Lebensfristung gewonnen wird, hat vor allem B. Williams Descartes unterstellt. Er assoziiert das Ziel der Wahrheit an sich mit seinem Ideal der reinen Untersuchung („pure enquiry“).

Das Ziel einer Wahrheit an sich steht einer Vereinnahmung wahrer Überzeugungen für andere Ziele gegenüber. Wir mögen aus den verschiedensten Gründen nach bestimmten wahren Überzeugungen trachten, bei denen Umstände denkbar sind, unter denen eine Illusion denselben Zweck erfüllte wie die Wahrheit. Dann instrumentalisieren wir die Gewinnung von Erkenntnis. Nach Williams´ Meinung hat Erkenntnis aber die Eigentümlichkeit, sich von solchen Instrumentalisierungen zu emanzipieren. Sie schließt sich gleichsam ab gegen die verschiedenen Zwecke außerhalb ihrer, die der Mensch mit ihrer Hilfe auch verfolgen mag, und bietet ein eigenes Ziel, auf das der Erkennende als solcher orientiert ist.

Dieses interne Ziel bezeichnete Descartes als Wahrheit der Dinge an sich selbst. Williams will zeigen, daß ein solches Ziel aus der natürlichen Auffassung der Erkenntnis folgt (Williams 1981, 176). Er sieht im Denker Descartes´ das Musterbeispiel des vorurteilslosen Forschers, der ein solches Ziel hat:

„Descartes stellt sich sorgfältig als jemanden dar, der sich völlig der Forschung hingibt und während der Ausübung dieser Tätigkeit keine anderen Interessen hat. Er betont wiederholt, daß der `methodische Zweifel´, sein Mittel der reflektierenden Untersuchung, nicht in Zusammenhang mit praktischen Angelegenheiten gebracht werden darf: genausowenig dürfen Werte, die für diese Angelegenheiten gültig sind, die Untersuchung beeinflussen. [...] Unseren ursprünglich einfachen Wahrheitssucher A lassen wir zu einem `reinen´

Untersuchenden werden, sobald er jegliches Interesse außer dem nach [sic!] Erkenntnis verliert. Nun ist es von schlechten zu unterscheiden, stehen aber nicht die Gegenstände selbst zum Vergleich, sondern nur die internen Kriterien der Klarheit und Deutlichkeit zur Verfügung, die aber entweder unzureichend, oder, in der Transparenzinterpretation, mit der Bilderanalogie unvereinbar scheinen. Um dieses Problem zu vermeiden, könnte der privilegierte Zugang, den klare und deutliche Einsichten zu den Dingen bieten sollen, damit erklärt werden, daß der Erkennende ohne irgendeine vermittelnde Instanz direkten Kontakt zur unabhängigen Realität hat. In diese Richtung könnte Descartes´ Rede davon weisen, daß bei der Vergegenwärtigung von Ideen der Gegenstand, der erkannt werden soll, selbst im Geist sei, und zwar in objektiver, von der formalen, äußeren unterschiedener Seinsweise (AT VII, 102f., vgl. Perler 1996, 1998, 116). Die angeborenen Ideen sind keine Dinge:

„Denn ich habe niemals mündlich oder schriftlich etwas davon gesagt, daß der Geist solcher eingeborenen Ideen bedürfe, die etwas von seiner Fähigkeit zu denken Verschiedenes wären.“(„Non enim unquam scripsi vel judicavi, mentem indigere ideis innatis, quae sint aliquid diversum ab ejus facultate cogitandi.“ Notae in Programma, II.I, 292, AT VIII / 2, 357)

Ideen müssen nicht als geistige Objekte, denen sich der Geist zuwendet, sondern adverbiell aufgefaßt werden als Tätigkeitsweisen des Geistes. Insofern gibt es keine repräsentierenden Dinge, die sich wie Bilder zwischen den Gegenstand und den Erkennenden schieben, sondern nur seine Tätigkeit. Trotzdem wird immer noch zwischen den Gegenständen selbst und dieser Tätigkeit unterschieden, die den Gegenstand in seiner objektiven Seinsweise enthalten muß. Würden die Ansprüche, die sich mit den klaren und deutlichen Einsichten verbinden, tatsächlich einen direkten Kontakt zur Realität erfordern, so müssten sie offenbar von den Sinneswahrnehmungen streng unterschieden werden. Denn da diese auch irreführen können, wäre andernfalls der direkte Kontakt nicht hinreichend, eine privilegierte Erkenntnissituation zu erklären. Keine der oben beschriebenen Anforderungen an klare und deutliche Einsichten impliziert indes unmittelbar, daß ein direkter Kontakt zur Realität erforderlich ist.

Das erkenntnistheoretische Problem, zuverlässige von unzuverlässigen Ideen abzugrenzen, wird auch dadurch nicht gelöst, weil wir dazu ein Kriterium bräuchten, den direkten Kontakt auszuzeichnen.

Selbst wenn wir die extremen Anforderungen an klare und deutliche Ideen akzeptieren, bleibt eine weitere Unsicherheit. Urteile aufgrund solcher Ideen sollen dauerhaft sein. Also müssen wir uns auf das Gedächtnis verlassen können. Descartes muß entweder die klare und deutliche Einsicht unterstellen, daß die Erinnerung, etwar klar und deutlich eingesehen zu haben, niemals trügt, oder er muß eingestehen, daß metaphysische Gewißheit sich auf gegenwärtige Einsichten beschränkt.

dem Standpunkt des vorurteilsfreien Forschers gesehen trivialerweise wahr, daß die Aufgabe der Suche nach einer Methode lohnenswert ist, die zu einer Erweiterung der Wahrheiten beiträgt; denn gemäß diesem Standpunkt gibt es keinen anderen Wert, als den, die Wahrheit zu suchen.“(Williams 1981, 28f.)

Der reine Untersuchende ist eine Kunstfigur, die keine realen Menschen beschreibt, die immer auch andere Interessen verfolgen. Welchen Sinn hat es, diese Figur in die Erkenntnistheorie einzuführen?

Ein Sinn ergibt sich aus der kontrafaktischen Überlegung, was wäre, wenn alle anderen Interessen außer einem allfälligen Erkenntnisinteresse wegfielen. Williams´ These beinhaltet zumindest, daß dazu, ein Erkennender zu sein, gehört, in dieser Situation ein Erkenntnisinteresse zu haben.

Um diese Anforderung zumindest ansatzweise zu verstehen, kann an A. Fairweather angeschlossen werden. Er versucht, Williams´ Forderung einer genuinen Erkenntnismotivation mit dem Bild eines Konformisten zu illustrieren, dessen einziges Ziel ist, seine Überzeugungen in Übereinstimmung mit denen einer bewunderten Person zu bringen, die zufällig sehr verläßlich darin ist, Überzeugungen zu erwerben (Fairweather 2001, 74, vgl Dohrn 2008). Er meint, daß das Zögern, dem Konformisten Wissen zuzusprechen, sich dadurch erklärt, daß er die falschen Ziele verfolgt. Dieses Beispiel ist nicht unproblematisch. So könnte das Zögern auch mit einem Mangel an reflexivem Wissen des Konformisten darüber erklärt werden, wie verläßlich seine Methode der Überzeugungsgewinnung ist.

Denn wenn angenommen würde, daß er aus unabhängiger Quelle wüßte, wie verläßlich die bewunderte Person ist, würden wir vielleicht nicht mehr zögern, seine konformistischen Überzeugungen Wissen zu nennen, auch wenn er die falsche Motivation hat. Fairweathers Beispiel zeigt nicht, daß ein Erkennender unbedingt auf Wahrheit zielen muß. Auch Williams tut wenig, eine solche anspruchsvolle Anforderung zu erläutern.

Es scheint möglich, daß einer Erkenntnis ohne ein eigenständiges Interesse an ihr als Erkenntnis erwirbt. Er könnte zumindest in weiten Bereichen ebenso verläßlich auf Wahrheit orientiert sein wie der reine Untersuchende. Ein Unterschied könnte sich erst in einer möglichen Situation zeigen, in der die extraepistemischen Motive wegfielen, die ihn genau wie den reinen Untersuchenden auf Wahrheit zielen lassen. Doch warum sollte dazu, ein Erkennender zu sein, gehören, in einer solchen möglichen Situation weiter nach Erkenntnis zu suchen? Eine Antwort liegt vielleicht in der Verläßlichkeit, die wir vom Erkennenden erwarten. Zur Erkennntnis gehört, nicht zufällig, sondern mit einer gewissen Verläßlichkeit das Richtige zu treffen. Diese Verläßlichkeit muß wohl nicht nur im Hinblick auf aktuelle, sondern auch bestimmte mögliche Situationen bestehen (vgl. Nozick 1987). Sie erfordert dann eine angemessene Funktion kognitiver Fähigkeiten in hinreichend vielen, der gegenwärtigen ähnlichen möglichen Situationen. Sie könnte auch beinhalten, daß in hinreichend vielen solchen Situationen, wenn überhaupt Überzeugungen erworben werden, in den Zielen, die damit verbunden werden, die Wahrheit eine angemessene Rolle spielt. Denn wenn sie keine solche Rolle spielte, könnte es in Situationen, in denen wahre Überzeugungen wenig instrumentellen Wert haben, angemessen scheinen, viele falsche in Kauf zu nehmen. Zumindest müßten Ziele, die hinreichend tief im Erkennenden verwurzelt sind, notwendig solche sein, zu deren Erreichung das Zielen auf Wahrheit in geeigneter Weise gehört. Wenn gezeigt werden könnte, daß die Anforderungen an Verläßlichkeit hinreichend stark sind, könnte folgen, daß Erkenntnis ein eigenständiges, von dem, der Erkenntnis verfolgt, untrennbares und zu den anderen Zielen, die er mit Überzeugungen verfolgt, in geeignetem Verhältnis stehendes Ziel sein muß, damit er überhaupt Erkenntnis haben kann. Nun bezieht sich Williams´ Idee, wie erhellen wird, auf einen Gesamtbereich von Überzeugungen. Doch warum sollte die erforderliche Verläßlichkeit nicht punktuell gefaßt werden, als verläßliches Streben nach Wahrheit in einem sehr beschränkten Bereich? Diese Beschränkung könnte erstens mit einer holistischen

Auffassung der Erkenntnis unvereinbar scheinen. Descartes faßt den Erkenntnisbereich, in dem er metaphysische Gewißheit sucht, jedoch nicht holistisch auf. Mit den Einschränkungen des Bereichs, in dem auf Wahrheit gezielt wird, könnte es sich zweitens auch so verhalten wie mit den Zielen, denen das Ziel der Wahrheit als Instrument untergeordnet werden könnte: Sie müssen ja durch irgendwelche extraepistemischen Rücksichten begründet werden. Die starken Ansprüche an Verläßlichkeit könnten wieder gefährdet sein, wenn es von diesen Rücksichten abhängt, ob sie ein Feld genuiner Erkenntnisziele frei lassen. Nun wirft die Situation der zwei Erkenntnisziele, die Descartes zeichnet, eben diese Schwierigkeit auf, daß außerepistemische Rücksichten das Feld genuiner Erkenntnisziele einschränken. Es darf nicht zur Erkenntnis gehören, solche Rücksichten auszuschließen, wenn keine skeptischen Konsequenzen gezogen werden sollen. Werden die Einschränkungen jedoch zu stark, steht vielleicht der Status als Erkennender in Frage.

Aus diesem genuinen Erkenntnisziel soll sich ein absoluter Gewißheitsstandard ergeben. Williams´

Argumentation gliedert sich in zwei Abschnitte. Im ersten etabliert er einen Begriff von Wissen:

„A glaubt wahrhaftig an p, und seine Überzeugung hat die Eigenschaft E[.., wobei wir] E wie folgt lesen ...angemessen hervorgebracht auf eine Weise, die es im allgemeinen wahrscheinlich macht, daß solche Überzeugungen auch wahr sind.“(Williams 1981, 27)

As Wissen, daß p, erfordert also dreierlei: p muß der Fall sein, A muß glauben, daß p, und er muß zu dieser Überzeugung auf eine Weise gekommen sein, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu wahren Überzeugungen führt. Die absolute Gewißheit, die jeden Irrtum ausschließt, ergibt sich nun, wenn dieses „wahrscheinlich“ durch „sicher“ ersetzt wird. Diese Ersetzung sieht Williams als natürliche Konsequenz des Standpunkts des reinen Forschers:

„Von diesem Standpunkt aus gesehen ist es vernünftig, um zu wahren Überzeugungen zu gelangen, nach einer Methode zu suchen, die völlig frei von Irrtum ist.“(Williams 1981, 30)

Eine Erkenntnis, mit der das Ziel einer Wahrheit an sich erreicht wird, hat mithin folgende Eigentümlichkeit, wenn wir Williams´ Schema modifizieren:

A glaubt wahrhaftig an p, und seine Überzeugung hat die Eigenschaft E, wobei wir E wie folgt lesen ...angemessen hervorgebracht auf eine Weise, die es sicherstellt, daß solche Überzeugungen auch wahr sind.

Das Ziel, das „wahrscheinlich“ in ein „sicher“ zu verwandeln, d.h. Erkenntnis in einer Weise hervorzubringen, die Irrtümer ausschließt, ergibt sich, wenn wir die Einstellung des vorurteilslosen Forschers einnehmen. Wie kommt der vorurteilsfreie Forscher zum Ziel der Sicherheit? Williams erklärt hier nur, daß dieses Ziel aus dem Programm der reinen Untersuchung folge, wenn es eine Methode bildet, die zur Erweiterung der Wahrheiten beiträgt, die man glaubt. Doch inwiefern trägt das Ziel der metaphysischen Gewißheit dazu bei? Williams will es allein aus dem Gedanken der reinen Untersuchung gewinnen. Dies gelingt ihm, indem er diesen Gedanken durch eine „absolute Vorstellung der Realität“(Williams 1982, 45) erläutert. Wenn die vorgetragenen Ansätze einer Motivationsüberlegung Williams´ Konzept der reinen Untersuchung erfassen sollen, dann müssen sie sich wohl vom Zielen auf Wahrheit auf das Zielen auf diese absolute Vorstellung der Realität ausdehnen lassen. In der Auseinandersetzung mit Williams wird diese absolute Vorstellung gewöhnlich als Begriff einer umfassenden realen Welt kritisiert, die dem Erkennen korrespondiert.

Aber sie enthält auch das Ideal eines endgültigen Weltbildes, das dieser absoluten Realität vollständig gerecht wird. Es enthält alle relevanten Informationen und keinerlei Irrtümer. Die obige Überlegung, daß Einschränkungen der Verlässlichkeit, die zum Wissen gehört, vielleicht nur aufgrund eines reflexiven Abgleichs anderer Ziele mit einer umfassend gedachten Verlässlichkeit zulässig sind, mag

helfen, dieses Ideal zu motivieren. Dieses endgültige Weltbild ist das erkenntnisimmanente und zugleich vom Erkennenden unabhängige Ziel, das die Abstraktion von allen äußeren Rücksichten fordert. Es bildet eine Vorgabe für den Betrachter, von ihm selbst in seinen eventuellen Beschränkungen und mit seinen eventuellen Rücksichten zu abstrahieren. Zugleich muß sich er sich in bestimmter Weise zu diesem Weltbild verhalten, wenn er es –vielleicht in einem unendlichen Fortschritt- erreichen soll. Er muß idealerweise feststellen können, wann es ein zutreffendes und erschöpfendes Weltbild ist. Diese Feststellung muß ihrerseits den Anforderungen genügen, die an ein ideales Weltbild gerichtet werden. Dieses darf kein bloßes Vermuten sein, für das man mehr oder weniger gute Gründe hat. Es gibt keine Rücksichten, die sagen, wann es hinreichend zuverlässig ist, wie es solche Rücksichten für Überzeugungen gibt, die wir brauchen, um bestimmte extraepistemische Ziele zu erreichen. Zu den Dimensionen, in denen die reine Untersuchung ein Ideal darstellt, gehört auch die Gewißheit, die mit einem endgültigen Weltbild erreicht wird, daß dieses Weltbild richtig ist.

Diese Gewißheit ist losgelöst von allen Rücksichten, die sie limitieren. Eine andere Dimension ist die Vollständigkeit des Weltbildes, das einer absoluten Realität gerecht wird. So vereinigt das Ideal der reinen Untersuchung die Idealvorstellungen absoluter Gewißheit von seiten des Betrachters und einer vollständigen Erfassung der Welt.

Offenbar ist Williams´ Konzept der reinen Untersuchung sehr anspruchsvoll. Es kann nicht ohne weiteres aus Descartes´ Rede vom Ziel der Wahrheit oder seiner Vorgehensweise abgeleitet werden.

Williams, der eher systematische als historische Interessen hat, kümmert sich wenig um eine solche Ableitung, auch wenn er Descartes´ Projekt als das der reinen Untersuchung ankündigt. Wenn wir trotzdem im folgenden so verfahren, als habe Descartes einen prämaturen Begriff der reinen Untersuchung, so hat das vor allem zwei Motive. Erstens wird das Wahrheitsziel als Pendant zu einem praktischen Ziel in der Literatur zu Descartes´ Erkenntnistheorie weitgehend vernachlässigt, so daß wir mit seinem philologischen Aufweis, wenn wir nach Hilfe in der Forschung suchen, unweigerlich in den Sog Williams´ geraten, der es ernst nimmt. Zweitens könnte diese Vernachlässigung in der Forschung mit einem Mißtrauen gegen anspruchsvolle innerepistemische Ziele zusammenhängen, so daß Williams´ systematische Perspektive auch eine Verteidigungslinie gegen die Kritik bildet, hier würden bevorzugt abwegige Aspekte der cartesischen Lehre hervorgehoben. Zugleich sollten jedoch die weiteren Ausführungen sensibel für eventuelle Überinterpretationen oder gar Konflikte mit der cartesischen Theorie sein, zu denen Williams´ starke These führt.

Das Ideal der reinen Untersuchung läßt viele erkenntnispragmatische Entscheidungen offen. Zwischen dem Ziel sicherer Überzeugungen und dem Ziel eines umfassenden Überzeugungssystems besteht nämlich eine Spannung. Jenes Ideal enthält keinerlei außerepistemische Rücksichten. Wenn ein Erkennender dieses Ideal verfolgt, ist jedoch zu bedenken, daß der Mensch Knappheiten unterliegt.

Werden solche Knappheiten berücksichtigt, sind die bisherigen Überlegungen unzureichend. Denn die Vorgehensweise, sich auf absolute Gewißheiten zu beschränken, könnte dazu führen, daß wir das Ziel der Erweiterung der bekannten Wahrheiten verfehlen. Wenn sich im schlimmsten Fall herausstellte, daß absolute Gewißheit nicht erreicht werden kann, dann würde diese Vorgehensweise dazu führen, daß wir gar keine Überzeugungen gewinnen könnten, die das Ziel der Erweiterung der bekannten Wahrheiten umsetzen würden. Ein realistisches Unternehmen, dem Ideal der reinen Untersuchung sich anzunähern, muß daher mindestens zwei Dimensionen berücksichtigen: die Gewißheit, die zu einer Optimierung der Zahl der wahren Überzeugungen im Verhältnis zu eventuellen falschen führt, und das Sammeln von Wahrheiten, das zu einer Optimierung der Zahl der wahren Überzeugungen führt.

Bisher scheint die Absolutheit des Gewißheitsstandards aus dem Ausschluß erkenntnisexterner

Rücksichten zu folgen. Doch dieser Ausschluß betrifft nur Abschwächungen des Gewißheitsstandards, die aus erkenntnisexternen Rücksichten erfolgen. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung jedoch, die gar keine solchen Rücksichten nimmt, aber der beschränkten Erkenntnisfähigkeit des Menschen Rechnung trägt, mag zeigen, daß bestimmte Überzeugungen nur einen bestimmten Stand der Gewißheit erlauben, weil sie nur auf eine Weise gewonnen werden können, die niemals absolute Gewißheit liefert.42

42 In der neueren erkenntnistheoretischen Literatur werden verschiedene allgemeine Zielsetzungen der Erkenntnis als solcher diskutiert, also interne Zielsetzungen im Sinne Descartes´ und Williams´. An ihnen läßt sich die Mehrdimensionalität epistemischer Ziele aufzeigen. Einfachheitshalber seien einige Positionen aus dem Sammelband „Virtue Epistemology“ herangezogen. So entwirft A. Goldman eine einheitliche epistemische Zielhierarchie für jedes Erkenntnisunternehmen:

„Whatever the exact threshold for belief may be [...], believing a truth carries more veritistic value than suspension of judgment; suspension of judgment carries more veritistic value than disbelief. Now, disbelieving proposition p is equivalent to believing proposition not-p. And when p is true, not-p is false. So suspending judgment vis-a-vis a true proposition p has more veritistic value than believing the false proposition not-p. Thus the intuitive rank-ordering of veritistic value is confirmed: True belief is preferable to suspension of judgment, which is preferable to false belief (error).”(Goldman 2001, 36)

Goldman schlägt vor, daß eine wahre Überzeugung mehr wert ist als die Zurückhaltung der Zustimmung zu einem wahren Urteil, daß aber die Zurückhaltung der Zustimmung gegenüber einem falschen Urteil mehr wert ist als eine falsche Überzeugung. Diese Zielbestimmung ist jedoch ergänzungsbedürftig, wenn wir nicht völlig sicher sind, ob eine Aussage wahr oder falsch ist: Je nachdem, wie groß der Unterschied im Wert zwischen dem Glauben der wahren Aussage, der Suspendierung des Urteils, und einer falschen Überzeugung ist, ergibt sich ein verschiedenes Erkenntnisverhalten. Wenn der Abstand zwischen der falschen Überzeugung und der Suspendierung im Vergleich zum Abstand zwischen der wahren Überzeugung und der Suspendierung sehr groß gemacht wird, ergibt sich eine Tendenz dazu, nur sehr zuverlässigen Evidenzen zu glauben, weil es gilt, einen großen relativen Verlust durch falsche Überzeugungen im Verhältnis zur Suspendierung zu vermeiden. Wenn der ersten Abstand im Vergleich zum zweiten kleiner gemacht wird, resultiert eine größere Gutgläubigkeit.

Diese Klassifikation muß darum ergänzt werden, wie erstrebenswert wahre und wie abschreckend falsche Überzeugungen sind. Das Ziel der metaphysischen Gewißheit ergibt sich, wenn der Verlust durch falsche Überzeugungen unendlich und der Gewinn durch wahre nur endlich hoch anzusetzen ist. Wenn jener entsprechend niedriger ist, bedarf es bestimmter Hilfshypothesen.

G. Axtell nennt als allgemeine Überzeugung, die der Erkennende hat:

„It is good that, if p, I believe that p; and it is good that if I believe that p, then p.”(Axtell 2001, 23)

Bei Knappheit bleibt die Unbestimmtheit, daß zwischen dem ersten Ziel, p zu glauben, wenn p der Fall ist, und dem zweiten Ziel abgewogen werden muß, daß p der Fall ist, wenn ich es glaube. Ersteres führt zu einer Maximierung der wahren Überzeugungen, letzteres zu einer Minimierung der falschen.

E. Sosa scheint ein Argument zu bieten, das erlauben würde, die vorgestellte Zieldivergenz zu vermeiden. Er hebt hervor, daß Erkenntnisziele nicht in wahren Überzeugungen tout court liegen können, denn wir interessieren uns nicht für triviale, aber leicht feststellbare Wahrheiten wie den Gesamtinhalt eines Telephonbuchs, sondern in der Sicherheit unserer Überzeugungen liegen müssen. Es geht Sosa nicht darum, die Zahl sicherer Überzeugungen zu maximieren, sondern darum, daß die Überzeugungen, die wir haben, sicher sind:

„What we desire is only that our beliefs be safe; for any given proposition, other things equal we would generally desire this; that we would believe it only if it were true.“(Sosa 2001, 50)

Doch wir haben Überzeugungen nicht einfach, sondern der Bestand unserer Überzeugungen ist auch abhängig von epistemischen Zielen. Diese Ziele müßten darüber Auskunft geben, warum wir das Telephonbuch uninteressant oder nur in ganz bestimmten meist nicht rein epistemischen Kontexten interessant finden. Denn wenn es nur um Sicherheit ginge, so liefern Telephonbücher ja oft recht zuverlässige Informationen (wir versichern uns zumindest normalerweise nicht noch einmal aus anderen Quellen, ob diese Informationen richtig sind). Wir könnten weiter, Sosas Zielsetzung folgend, das Geschäft der Erkenntnissuche aufgeben und uns auf eine kleine Zahl sehr gewisser Überzeugungen, z.B. logischer Trivialitäten beschränken.

Die gleichen Schwierigkeiten zeigt A. Fairweathers Konzept der epistemischen Motivation innerhalb des desire-belief-Modells, zu glauben, daß p:

„(1) S desires that the propositions he believes are true.

(2) S believes that P is a true proposition.

(3) Therefore, desires to believe P.

(4) S believes P.“(Fairweather 2001, 72)

Fairweather sieht nur das Problem, daß man gemäß (2) P schon glauben muß, um P infolge dieses praktischen Raisonnements zu glauben. Auch abgesehen davon ist der Schluß unrichtig. Er führt nicht zwingend dazu, daß S

Solche Überlegungen zeigen, daß der Gedanke eines absoluten Gewißheitsstandards zwar in der Konzeption der reinen Untersuchung liegt, sofern diese keine Rücksicht auf die begrenzten Ressourcen des Erkennenden nimmt. Das bedeutet aber nicht, daß die Ausführung der reine Untersuchung identisch ist mit dem cartesischen Versuch, unter den Knappheitsbedingungen, denen der Erkennende unterliegt, die Wahrheit der Dinge an sich mit Hilfe der Zweifelsmethode zu finden.

Die Anwendung dieser Methode, die es erlaubt, falsche Überzeugungen auszuschließen, aber nicht selbstverständlich, die Zahl wahrer Überzeugungen zu maximieren, in einer Untersuchung wie den cartesischen Meditationen kann nicht ohne weiteres als direkte Folge des Gedankens einer reinen Untersuchung gelten. Die cartesische Zweifelsmethode kann aber ohne weiteres als ein Weg gelten unter andern, vielleicht effektiveren, das Programm der reinen Untersuchung unter Knappheitsbedingungen zu realisieren. Auch aus rein erkenntnistheoretischer Sicht sind vielleicht nicht alle Wahrheiten gleichwertig. Wenn es eine Koordination zwischen denjenigen Wahrheiten gäbe, die hinreichend viel wert sind, und der Gewißheit, die in ihnen zu erreichen ist, dann könnte die Konkurrenz von Wahrheitssuche und Gewißheitssuche beseitigt werden. Dazu muß eine theorieökonomische Überlegung eingeschaltet werden, wie sie derjenige anstellen muß, der mit begrenzten Fähigkeiten versucht, dem Ideal der reinen Untersuchung nachzustreben.

Ob die Suche nach absoluter Gewißheit lohne, kann fraglich hinsichtlich der Zahl und des Beitrags der verbleibenden Überzeugungen zur Erkenntnis der Wahrheit an sich und des Aufwands sein, den die Vergewisserung erfordert. Der Beitrag einer Überzeugung zu dieser Erkenntnis kann, wenn es um die Umsetzung der reinen Untersuchung geht, nicht an äußeren Rücksichten bemessen werden. Aber er kann vielleicht an bestimmten innerepistemischen Rücksichten gemessen werden: Es kann gefragt werden, was eine Überzeugung zu einem geordneten Ganzen von Überzeugungen beiträgt. In einer fundamentalistischen Erkenntnistheorie, in der alle Überzeugungen basal sind oder aus basalen Überzeugungen erschlossen werden müssen, ergibt sich etwa eine besondere Aufmerksamkeit auf die Zuverlässigkeit der relativ grundlegenderen Überzeugungen. Daraus resultiert freilich noch nicht unbedingt die Forderung, daß wir in den basalen Überzeugungen infallibel sein müssen. Der Gedanke eines Erkenntnissystems beinhaltet weiter das Ideal der Vollständigkeit. Wenn eine Überzeugung an ausgezeichneter Stelle in diesem System fehlt, sie mag ansonsten auch noch so unwichtig sein, dann ist die Erkenntnis unvollständig. Man könnte daraus die Anforderung ableiten, daß eine Beschränkung auf absolute Gewißheit nur dann akzeptabel ist, wenn dadurch die Anforderungen an ein eventuelles System der Erkenntnis nicht unerfüllbar werden. Nun scheint Descartes überzeugt, daß die Überzeugungen, bezüglich deren wir absolute Gewißheit gewinnen können, ein wohlgeordnetes System bilden, das keinen solchen Mangel hat. Dieses System, das nur aus klaren und deutlichen angeborenen Ideen entwickelt werden kann, wäre Adressat eines Ziels der Wahrheit an sich:

P glauben will, weil es ihm nicht darum geht, P zu glauben, wenn P wahr ist, sondern darum, nur Wahres zu glauben (1). S will daher nur, daß P wahr ist, wenn er P glaubt, nicht, daß er P glaubt, wenn P wahr ist. Wie bei Sosa ergäbe sich wieder ein absoluter Gewißheitsstandard, aber was durch seine Akzeptanz an wahren Überzeugungen verlorengehen könnte, bleibt unberücksichtigt. Gleichwohl spielt Sosas Argument, daß nicht jede Wahrheit zählt, vielleicht in der Suche nach der Erkenntnismotivation eine Rolle.

Ein Grund dafür, die Sicherheit der eigenen Überzeugungen gegenüber der Maximierung der Wahrheiten überzugewichten, könnte der sein: Im Begriff der reinen Untersuchung steht der Maxime, Gewißheit zu maximieren, die Alternative gegenüber, die Zahl wahrer Überzeugungen zu maximieren. Die letztere Maxime zu isolieren, führt nun zu absurden Ergebnissen wie dem, inkonsistente Überzeugungen oder ebensoviele falsche wie wahre Überzeugungen zu haben. Dagegen ist das Resultat einer Isolierung der Gewißheitsmaxime, im Extremfall alle Überzeugungen aufzugeben, nicht von vornherein absurd. Dieser Vorzug der ersten Maxime sagt aber nicht, wie ein Abgleich beider aussehen sollte.