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Rationalität und Freiheit im Erkennen

Zunächst wird das Ideal der Eigenständigkeit in der Erkenntnis thematisiert. Es wird gezeigt, wie gegebene Einsichten und das Urteilen als verantwortliche willentliche Stellungnahme in diesem Ideal zusammenspielen, aber auch, welche Schwierigkeiten sich mit der Entwicklung eines Rationalitätsideals willentlichen Erkenntnisverhaltens verbinden.

In den letzten Kapiteln wurden interne und externe Erkenntnismotivationen aufgezeigt und in die natürliche Motivationsstruktur des Menschen eingebettet. Ihre Diskussion erforderte auch schon, auf die verfügbaren Erkenntnisquellen und die Struktur ihrer kritischen Überprüfung einzugehen. Dabei blieb jedoch die grundlegende Frage nach den geistigen Zuständen und Aktivitäten weitgehend offen, in denen sich Erkenntnis verwirklicht. Das Zusammenspiel von Einsichten und willentlicher Aktivität wurde bereits in der Theorie der Willensakte allgemein angesprochen. Es gilt nun, beides zusammenzuführen und die Erkenntnisziele nach ihrer Einordnung in die allgemeinen Ziele und Motive des Menschen noch in die allgemeine Theorie menschlicher Aktivität einzufügen, in der Ziele und Motive ihre Rolle spielen. Im folgenden sollen Konsequenzen der entwickelten Erkenntnisethik für die Verwirklichung einer Erkenntnis in geistigen Ereignissen beleuchtet werden. Auch hier wird wieder der Wille als Fähigkeit geistiger Aktivität die zentrale Rolle spielen. Es wird das Idealbild eines Willens gezeichnet, der den Vorgaben an vernünftige Aktivität vollkommen entspricht. Dieses Ideal erstreckt sich auf Erkenntnis und Praxis, in denen der Beitrag des Willens jeweils analog verfaßt ist. Im letzten Hauptteil (4) der Untersuchung wird es dann darum gehen, dieses Ideal zu problematisieren.

Es soll nicht beansprucht werden, die Erkenntnistheorie partiell aus der Ethik herzuleiten, zumal so eindeutige Entwicklungslinien im cartesischen Denken nicht gezogen werden können. Aber die cartesische Ethik, wie sie rekonstruiert wurde, wäre widersprüchlich, wenn die Erkenntnis nicht so verfaßt wäre, wie es im folgenden dargestellt wird. Wir können daher mutmaßen, daß zumindest systematische Konsistenzüberlegungen zur Ethik bei epistemologischen Entscheidungen Descartes´

eine Rolle gespielt haben, oder bestimmte erkenntnistheoretische Überzeugungen ihn in Grundannahmen seiner normativen Anthropologie bestärkt haben könnten.205

Erkenntnis ist für Descartes etwas, was der Geist weitgehend eigenständig und autark erwerben kann.

Bieri nennt die Position des eigenständigen Erkennenden den „cartesianischen Standpunkt“: „Es kommt ganz und gar auf mich und meine epistemischen Möglichkeiten an.“(Bieri 1987, 49). Er sieht darin eine plausible Voraussetzung der Erkenntnistheorie, die keiner weiteren Erläuterung bedarf.

Schouls indes sieht hier eine anspruchsvolle und daher erläuterungsbedürftige

„[...]doctrine of radical epistemic individualism[...]: Descartes´ epistemology, therefore, dictates that, whether it is my physical or my cultural context which I attempt to understand, if I am to understand I must understand for myself, radically so.“(Schouls 1994, 22)

Auch M. Williams spürt das Bedürfnis einer Erläuterung. Er sieht eine Abhängigkeit von praktischen Prämissen. Ohne die Beziehung zum Ideal eines der Erkenntnis gewidmeten Lebens zu erklären, sieht er das Ideal der Eigenständigkeit als eine Konsequenz des antiken Ideals rationaler Selbstkontrolle, zu der eine Eigenständigkeit über den ganzen Erkenntnisprozeß hinweg gehöre. Dieses Ideal stellt er dem modernen Ziel praktischen Wissens gegenüber, das Macht vor allem über die Natur geben solle und daher epistemische Arbeitsteilung zulasse (Williams 2001, 8). Auch hier stünde Descartes wieder in einer antiken Traditionslinie, denn auch er hat das Ideal einer Kontrolle vor allem des eigenen

Denkens und Handelns, zu der ein angemessenes Bild beider gehört, das nur durch eine Erkenntnistätigkeit zu erreichen ist, die selbst dem Ideal rationaler Kontrolle genügt. Descartes sieht auch die modernen Erfordernisse des praktischen technischen Wissens, auf das er nach Williams vor allem zielt. Er erkennt die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Arbeitsteilung an, aber nur dort, wo die Menge erforderlicher Daten den einzelnen überfordert (AT VII, 74f.). Dort aber geht es weniger um die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge an sich als die Nutzung der Erkenntnis für das Leben. Was die Erkenntnis der Dinge an sich selbst betrifft, geht es eher um Vorteile der Zusammenarbeit, als daß der Denker darauf angewiesen wäre.

Dieses Ideal, daß ich alles selbst einsehen können muß, was ich für richtig halten soll, ist zu Descartes´

Zeit nicht selbstverständlich gewesen. Descartes findet im Begriff der Weisheit („sagesse“), den seine neostoischen Mitstreiter polemisch zuspitzen, eine Formulierung dieses Ideals. Er verbindet darin ein Theorieideal eines motivational eigenständigen Erkenntniserwerbs mit Annahmen über den Zusammenhang von Erkennen und Handeln und die Eigenständigkeit in der Erkenntnis im Gegensatz zum Autoritätenwissen. Mit ihrer Eigenständigkeitsforderung wenden sich Descartes und seine neostoischen Zeitgenossen vom scholastischen Bildungsideal ab.206 So erklärt Descartes, er habe den Discours auf Französisch verfaßt,

„[...] weil ich hoffe, daß diejenigen, welche sich nur ihrer natürlichen, ganz reinen Vernunft bedienen, besser über meine Ansichten urteilen werden, als die, welche bloß an die alten Bücher glauben.“(I.I, 64, AT VI, 77)207 Es ist vielleicht keine übertriebene Forderung, daß ich alles, was ich glauben soll, zumindest prinzipiell verstehen können muß. Descartes spitzt diese Forderung jedoch zu. Als Erkenntnis des Denkers im Sinne des Ziels der Wahrheit an sich darf nur die gelten, die er direkt aus natürlichen Ideen oder daraus abgeleitet hat. Dieser radikale Erkenntnisindividualismus schlägt sich in der Behauptungen nieder, daß der einzelne allein am ehesten Erkenntnis gewinnen könne (AT VI, 72f.).

Descartes mag dabei an Aristoteles´ Aussage denken, ein Vorzug der Erkenntnistätigkeit sei, daß der einzelne nicht auf andere angewiesen sei, auch wenn die Arbeitsteilung in der Erkenntnis manchmal nütze (Eth. Nik. 1177a-b).

Weil in jener Erkenntnis auch die größte Befriedigung liegt, hebt Descartes die Freude an eigenständig gewonnenem Wissen hervor.

„[...]es würde ihnen weit weniger Freude machen, es von mir, als von sich selbst zu lernen.“(I.I, 64, AT VI, 72)208

Auch das Glück der Erkenntnis und damit wohl die Vollkommenheit, mit der dieses Glück korreliert, hängen also mit von der Eigenständigkeit ab.

Nur vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird die Radikalität des Zieles deutlich, das Descartes mit dem Bescheidenheitsgestus des Discours artikuliert:

205 Gegen Davies´ Versuch, Aspekte der traditionellen Tugendethik wie die Wahl des Mittelwegs in die Erkenntnistheorie zu integrieren, ist streng auf der Unterscheidung von eventueller motivationaler Abhängigkeit und kriterieller Eigenständigkeit der Erkenntnis zu beharren (Davies 2001, 12).

206 Descartes übernimmt nicht die Konnotation einer Weisheit, die praktizierbar, aber keine „Lehre“ sein könnte, wie Davies glaubt (Davies 2001, 201). Es gibt Lehrbares, die Methode, und bestimmte Kompetenzen, die ein vernünftiges Wesen einfach hat, z.B. die Klarheit und Deutlichkeit oder den Inhalt von Ideen zu identifizieren.

Röd beschränkt die Weisheit unzulässig auf die „[...]Einheit des praktisch bedeutsamen Wissens[...]“(Röd 1982, 164) Damit meint er nämlich nur die Praktikabilität in der Lebensführung.

207 „[...]c´ est a cause que i´espere que ceux qui ne se seruent que de leur raison naturelle toute pure, iugeront mieux de mes opinions, que ceux qui ne croyent qu´aux liures anciens.“

208 „[...] ils auroient bien moins de plaisir a l´apprendre de moy que d´eux mesmes[...]“

„Meine Absicht hat sich niemals weiter erstreckt, als zu versuchen, meine eigenen Gedanken zu reformieren und auf einer Grundlage zu erbauen, die ganz mir gehört.“(I.I, 12, AT VI, 15)209

Wann gehört eine Grundlage ganz dem Denker? Wir können eine schwächere und eine stärkere Lesart dieses Zitats unterscheiden. Sie gehört dem Denker entweder a) dann, wenn er sie nicht einfach übernommen, sondern einer Erkenntniskritik wie der cartesischen unterzogen hat; oder b) dann, wenn er zusätzlich zur Erkenntnisreflexion immer alles mitbringt, um sich der Wahrheit dieser Überzeugungen zu versichern. Schon die Nähe dieser Metaphorik zu der Bildsprache der provisorischen Moral, wo es um den eigenen absoluten Machtbereich geht, legt nahe, daß es eine Beziehung zwischen dem Boden in der Erkenntnis, der einem ganz gehört, dem Bereich absoluter Macht, auf den sich der Weise besinnt, und der Möglichkeit gibt, sich etwas willentlich zu eigen zu machen. Auch die Auffassung, der Erkennende erkenne am besten allein, deutet in die Richtung der stärkeren Interpretation (b). Denn sie scheint auszuschließen, daß der Denker Ressourcen nützt, in denen er auf andere angewiesen ist. Dieser mögliche Ausschluß fremder Unterstützung folgt nicht zwangsläufig aus der ersten Interpretation (a) des obigen Zitats, wohl aber aus der zweiten (b). Wenn wir weiter den Weg der Meditationen betrachten, auf dem Descartes sich seiner Überzeugungen versichert, spricht auch dieser für die stärkere Hypothese (b). Alle Komponenten dieses Programms können in reiner „armchair philosophy“ realisiert werden. Die Zweifelsgründe beziehen zwar Beobachtungen wie diejenige ein, daß die Sinne bei gewissen Gelegenheiten getrogen haben, beruhen aber auf Denkmöglichkeiten, die ohne Verletzung der Autarkiebedingung entwickelt werden können.

Auch die Überwindung des Zweifels durch die vier Schritte des Cogito-Arguments, der Vergewisserung über die Gehalte des eigenen Denkens, des Übergangs zur allgemeinen Erkenntnis, daß klare und deutliche Einsichten nicht trügen, und des Gottesbeweises, wird ohne Überschreitung des eigenen Autarkiebereichs vollzogen.

Die Konsequenzen dieser Hypothese, daß hinter dem Ideal der Eigenständigkeit in der Erkenntnis das Autarkieideal stehe, sind umfassend. Der Geist ist in der Gewinnung vieler Erkenntnisse prinzipiell autark. Dann muß es zumindest möglich sein, jeden kontingenten Anlaß dieser Erkenntnisse zu ersetzen. Eben diese Bedeutung aber gibt Descartes dem Unternehmen eines Umsturzes unserer Meinungen einmal im Leben, wenn er davon spricht, das Gebäude unseres Wissens ganz von neuem aufzuführen. Hierin manifestiert sich eine Doppelbedeutung der Metaphorik vom Hausbau. Sie wird verwendet, um den Nutzen der Erkenntniskritik zu zeigen. Aus dem Blickwinkel des Autarkieideals aber zeigt die Möglichkeit des Einreißens und Neubaus des gesamten Erkenntnisgebäudes (AT VI, 23f.), daß der Mensch auf keinen der äußeren Umstände angewiesen ist, unter denen er sich seine Überzeugungen gebildet hat, was die Erkenntnis der Wahrheit betrifft. Der Hausbau kann zwar auch im Sinne der Interpretation (a) verstanden werden, daß die Bruchstücke des alten Überzeugungungsgebäudes nach Prüfung ihrer Tragfähigkeit wieder verwendet werden. Aber das Schema einer fundamentalistischen Rechtfertigung aus angeborenen Evidenzen beinhaltet zumindest die Möglichkeit, diese Bruchstücke neu und unabhängig von der Geschichte ihres Erwerbs zu gewinnen. Auch hier ist allerdings der Unterschied der beiden Erkenntnisziele zu berücksichtigen. Die einzelnen Sinnesdaten, deren normaler Zweck es ist, anzuzeigen, was dem Körper nützt, müssen von außen mit verursacht werden, auch wenn sie großenteils ebenfalls auf natürlichen Dispositionen beruhen. Der Geist ist daher auch in den praktischen Informationen, zu denen die Sinnesdaten

209 „Iamais mon dessein ne s´est estendu plus auant que de tascher a reformer mes propres pensées, & de bastir dans vn fons qui est tout a moy.“

verhelfen, nicht autark (oder nur prinzipiell, wenn eine sehr starke Deduzierbarkeitsbeziehung physikalischer Einzeltatsachen und angeborener Ideen unterstellt wird).

Die Meditationen bieten mithin das Fundament eines sehr weitgehenden Neubaus der Erkenntnis aus den Ressourcen heraus, in denen der Erkennende autark ist. Zur Autarkie in der Erkenntnis gehört die Verfügbarkeit wesentlicher Erkenntnisvorgaben und die Fähigkeit, sie so zu gebrauchen, daß wesentliche Erkenntnisziele absolut zuverlässig erreicht werden. Diese Anforderungen müssen in die Kurzdarstellung des Erkenntnisprozesses eingetragen werden, die in der Theorie der geistigen Akte gegeben wurde. Zur Erkenntnis gehören Ideen und Urteile. Wenn die Frage, wie Ideen im Geist aktualisiert werden, zunächst ausgeblendet wird, wie in Descartes´ Willensdefinition, scheint Erkenntnis dadurch zu entstehen, daß passiv gegebenen Ideen durch einen freien Akt entsprochen wird, eine verantwortliche Stellungnahme. Wenn eine klare und deutliche Einsicht dafür sorgt, daß einem etwas klar ist, scheint kein weiterer Schritt zur Erkenntnis zu gehören:

„Denn wenn ich sehen kann, daß sie wahr ist, dann gibt es nichts weiteres zu tun, um sie zu glauben: ich glaube sie bereits.“(Williams 1981, 150)

Wenn aber Erkenntnis einfach in einem entsteht oder nicht, scheint es unangemessen, einen für Fehler verantwortlich zu machen. Gerade eine solche Verantwortung unterstellt Descartes. Falsches oder rechtes Erkenntnisverhalten untersteht als willentliches Handeln moralischen Imperativen:

„Woraus also entstehen meine Irrtümer? Offenbar nur daraus, daß der Wille sich weiter erstreckt als mein Verstand, und daß ich ihn auf dessen Reichweite einschränke, sondern auch auf das Nichterkannte ausdehne. Da er sich gegen dieses indifferent verhält, weicht er leicht vom Wahren und Guten ab, und so irre ich, so sündige ich auch.“(VII, 58)210

Dieses Zitat beinhaltet freilich nur, daß die Sünde aus Unkenntnis entsteht. Aber auch im falschen Gebrauch des Erkenntnisvermögens liegt eine Sünde, wie das schon diskutierte Zitat über den Ungläubigen, zeigt, der „[...]darin sündigen würde, daß er seinen Verstand nicht richtig gebraucht.“(I.III, 134, AT VII, 148)211 Die Verwendung praktischer Ausdrücke in der Erkenntnistheorie zentriert sich um das Problem eines Fehlverhaltens, das zu einem epistemischen Mißerfolg führt. Nun besteht offenbar eine gewisse Spannung zwischen der Zurückführung der wichtigsten Erkenntnisse auf doxastische Erfahrung, die ganz unmittelbar zu Überzeugungen führt, und der Möglichkeit eines Fehlverhaltens. Wie kann man sich falsch verhalten, wenn man einen Sachverhalt nur erwägen muß, um zu wissen oder zumindest zu meinen, daß er besteht oder nicht? Es muß offenbar ein Verhalten zu den Gegebenheiten hinzutreten, die eine solche Erfahrung ermöglichen.

Dieses Verhalten kann nicht das Ergebnis eines Automatismus sein, denn sonst wäre Erkenntnis etwas, wofür man gemäß Descartes´ Darstellung des Zusammenhangs von Willen und Verantwortung nicht verantwortlich gemacht werden kann, etwas, das man einfach irgendwann hat oder nicht. Daher muß ein Willensakt zwischen das Evidenzerlebnis und die Erkenntnis treten. Das Element der Erkenntnis, das wahr oder falsch sein kann, das Urteil, ist eine Willensleistung.212 Die doxastische Natur einer Wahrnehmung muß sich auf die unmittelbare Neigung beschränken, von einer bestimmten

210 „Unde ergo nascuntur mei errores? Nempe ex hoc uno quòd, cùm latius pateat voluntas quàm intellectus, illam non intra eosdem limites contineo, sed etiam ad illa quae non intelligo extendo; ad quae cùm sit indifferens, facile a vero & bono deflectit, atque ita & fallor & pecco.“

211 „[...]in eo peccaturum, quòd ratione suâ non recte uteretur.“

212Diese Auffassung scheint auf den ersten Blick im Gegensatz zur traditionellen communis opinio zu stehen. In Wahrheit aber reiht sich Descartes damit in eine Reihe bedeutender Scholastiker wie Occam ein. Zu Occams Auffassung des Urteils als Willensleistung vgl. Perler (1992, 236f.)

Idee zu einer ganz bestimmten Überzeugung überzugehen, die den Willen bestimmt. Obgleich ich sehen mag, daß etwas der Fall ist, muß damit allein noch kein Urteil gegeben sein.

Für diese Unterscheidung von Wahrnehmung und Urteil gibt es noch einen weiteren Grund. Zwischen der Klarheit und Deutlichkeit, die eine Idee erreicht, und der Überzeugung, die sie bewirkt, besteht ein regelmäßiger Zusammenhang. Wenn dergestalt zumindest zwei verschiedene epistemische Stufen oder Grade angenommen werden, maximale und geringere Evidenz, so scheint es nur natürlich, daß diesen Graden auch auf der Seite der Überzeugung durch Grade der Überzeugung Rechnung getragen wird.

Aber diese Grade der Überzeugung sind nicht ohne weiteres mit der Zielstruktur der Erkenntnis in Einklang zu bringen. Erkenntnis zielt darauf, wahre Überzeugungen zu haben und falsche zu vermeiden. Durch eine Radikalisierung des letzteren Ziels ist ja auch das Ziel der reinen Untersuchung zu beschreiben, wie es Descartes sieht. Davon, ob eine Überzeugung wahr ist, scheint auch die Vollkommenheit abzuhängen, die man durch sie gewinnt. Die Graduierung von Überzeugungen gemäß den Evidenzen, die zu ihren Gunsten erwogen werden, läßt jedoch offen, wann man nun eine Überzeugung hat, die wahr oder falsch ist, und wann nicht. Von welchem Evidenzgrad an glaube ich, daß etwas wahr ist? Es scheint erforderlich, eine Graduierung der Neigung („propensio“, AT VII, 58f.), etwas zu glauben, mit einer zweiwertigen Unterscheidung zu verbinden, aus der hervorgeht, ob man nun eine Überzeugung hat oder nicht. Diese Unterscheidung macht nach Descartes das Urteil aus.

Die Tätigkeit des Urteilens läßt drei Möglichkeiten zu: zu urteilen, daß etwas der Fall ist, zu urteilen, daß etwas nicht der Fall ist, oder in einer Sache nicht zu urteilen.

Die größere Freude und vermutlich korrespondierende Vollkommenheit, die mit einem eigenständigen Erkenntniserwerb verbunden sind, könnten als Indiz dafür genommen werden, daß es neben der Wahrheit und der Vermeidung von Falschheit der eigenen Überzeugungen und dem natürlichen inner- oder außerepistemisch motivierten Interesse an bestimmten Fragen noch eine weitere Dimension epistemischer Ziele gibt, die Dimension des verantwortlichen Erkenntniserwerbs.

Sosa fragt, ob über den Erfolg und die geeignete Funktion eines Erkenntnisvermögens hinaus ein erkenntnistheoretischer Mehrwert in einem solchen verantwortlichen Erwerb liegt. Er unterscheidet

„[…] the value of bare true believing […] the praxical value of true believing, where the agent brings about the belief; the eudaimonist, intrinsic value of true believing where the agent hits the mark of truth as his own attributable deed, one that is hence creditable to the agent as his own doing; and the performance value of a deliverance-induced believing, present even when the belief induced is false, so long as the performance is high on the quality scale for such performances, as measured by how well the performance would provide its expected goods, if the system were properly installed.“(Sosa 2003, 177)

Entscheidend ist das folgende Element: Erkenntnis soll durch eigenes Handeln erworben werden, das dem Erkennenden zuschreibbar ist. Auch wenn es eine Ausrichtung auf Wahrheit enthält, unterscheidet es sich doch dadurch von den anderen, daß nicht von vornherein klar ist, inwiefern es z.B. im Verhältnis zur Funktion einer Maschine eher zur Wahrheit von Überzeugungen beiträgt.

Descartes scheint nun eben diese Vorstellung zu haben, daß auch dieses Element in der Erkenntnis wertvoll ist. Konkret legt er sich darauf fest, daß Erkenntniserwerb als eigene Tat auch Willensfreiheit erfordert. Er ist überzeugt, daß kein Automat diese Willensfreiheit haben kann (AT VIII / 1, 18f.). Die Gründe dafür müssen noch erörtert werden. Er könnte der Anforderung der Verantwortlichkeit nur Rechnung tragen, wenn er Erkenntnis als Ergebnis eines Prozesses auffaßt, in dem Willensfreiheit eine hinreichende Rolle spielt, so daß es mehr

„[...]unsere Tat [ist], daß wir das Wahre erfassen (amplecti), wenn wir es erfassen, weil wir es mit Willen tun, als wenn wir es erfassen müßten.“(II.I, 13, AT VIII / 1, 19)213

Daß es mehr unsere Tat ist, das Wahre zu erfassen, als daß es uns geschähe, scheint diese Erkenntnis für uns wertvoller zu machen. Unmittelbar vorher hat Descartes betont, daß es die größte Vollkommenheit des Menschen ist, daß er willentlich und damit frei handelt. Der Rang einer Erkenntnis als Vollkommenheit scheint sich nicht nur daran zu bemessen, daß sie eine geistige Vollkommenheit ist, sondern auch an ihrem bewußten willentlichen Erwerb.

Nun stellt sich die Eutyphron-Frage, was eigentlich das Erklärende und was das Erklärte ist. Ist verantwortlicher Erkenntniserwerb der Weg zu größtmöglicher Vollkommenheit durch Erkenntnis, weil es rein erkenntnistheoretisch besser ist, Erkenntnis in verantwortlicher Weise zu erwerben, so daß der Zuwachs an Vollkommenheit, der mit dem verantwortlichen Erkenntniserwerb einhergeht, nur den erkenntnistheoretischen Vorzug nachbildet, oder ist verantwortlicher Erkenntniserwerb die bestmögliche Weise, Vollkommenheit durch Erkenntnis zu erwerben, weil es zu gewissen geistigen Vollkommenheiten wesentlich gehört, daß sie in verantwortlicher Weise erworben werden? Es ist nicht unmittelbar verständlich, warum willentlicher Erkenntniserwerb mehr zum Erkenntniserfolg beitragen soll als unwillkürlicher, sofern letzterer rationale Kontrolle erlaubt. Sosa weist die These des Mehrwerts der Erkenntnis als verantwortliches Handeln als eine rein erkenntnistheoretische ausdrücklich zurück. Insofern könnte Descartes verschiedene Dinge zusammenführen, erkenntnisinterne Kriterien auf der einen Seite und die besondere menschliche Weise, Erkenntnis zu erwerben, die aus Gründen, die nicht erkenntnistheoretischer Art sind, eine willentliche sein sollte, es sei denn, er wäre aus irgendwelchen Gründen der Meinung, daß rationale Kontrolle nur eine willentliche sein kann. Solche eventuellen Gründe werden unten weiter erörtert.

Die einfachste Sicht des Willens als Fähigkeit einer zweiwertigen Entscheidung für oder gegen Urteile und auch für oder gegen die Willensdisposition, eine Handlung auszuführen oder nicht, wurde oben schon diskutiert(AT VII, 57). Wir können gegebenen Evidenzen durch Urteile entsprechen oder nicht.

Dieses einfache Modell unterliegt zwei zusätzlichen Bedingungen.

1. Rationalitätsbedingung: Die Rolle des Willens muß rationales Erkenntnisverhalten zulassen, wenn Erkenntnis möglich sein soll.

2. Die Freiheit des Willens muß gewahrt werden.

Wie die willentliche Entscheidung für oder gegen ein Urteil ausfällt, darf nicht epistemisch kontingent sein. Gründe müssen nach ihrem Gewicht berücksichtigt werden. Für dieses Gewicht setzt Descartes ein einheitliches Maß an. Dieses einheitliche Maß der Evidenz ist maßgeblich für den Willen. So erklärt Descartes, daß die maximale Klarheit und Deutlichkeit, wie sie angeborenen Ideen eignet, den Willen unweigerlich zur Beistimmung zu einem bestimmten Urteil bringe:

„Da ich von einer solchen Natur bin, daß ich, solange ich etwas ganz klar und deutlich erfasse, an dessen Wahrheit glauben muß[...](AT VII, 69)214

Für Williams trägt Descartes damit der Tatsache Rechnung,

„[...] daß es eine logische Verbindung zwischen `A hält p für einen überwältigenden Beweis für q´, `A glaubt p´und `A glaubt q´ gibt.“(Williams 1981, 146)

213„[...]magis profectò nobis tribuendum est, quòd verum amplectamur, cùm amplectimur, quia voluntariè id agimus, quàm si non possemus non amplecti.“

214 „Etsi enim ejus sim naturae ut, quamdiu aliquid valde clare & distincte percipio, non possim non credere verum esse[...]“

Ob ein überwältigendes Evidenzerlebnis damit gleichzusetzen ist, etwas für einen überwältigenden Beweis p zu halten, bleibe dahingestellt. Aber ein solches Erlebnis scheint so etwas wie einen Grund zu bieten, etwas zu glauben. Williams beschränkt sich ausdrücklich auf „überwältigende Beweise“.

Die Situation, in der wir uns befinden, wenn wir Ideen maximaler Klarheit und Deutlichkeit erwägen, wird durch jene Bedingung beschrieben, insofern klare und deutliche Ideen eine Überzeugung evident erscheinen lassen, wenn wir sie erwägen.

Wenn in jener Bedingung, daß überwältigende Evidenz Urteile bestimmte, der einzige Zusammenhang zwischen Evidenzen und Rationalität läge, fällten wir unweigerlich ein Urteil, während etwas zwingend erschiene, nicht aber, wenn es nicht absolut zwingend erschiene. Überwältigende Evidenz liegt genau dann vor, wenn eine Einsicht klar und deutlich ist. Es scheint aber, als implizierte Rationalität stärkere Beziehungen zwischen Gründen und Überzeugungen. So gewinnen wir Überzeugungen nicht nur aus Evidenz, die absolut zwingend erscheint. Selbst wenn wir uns weniger klare und deutliche Ideen vergegenwärtigen, steht es uns nicht einfach frei, die Überzeugungen zu akzeptieren oder abzulehnen, für die etwas spricht. Auch schwächeren Evidenzerlebnissen eignet eine Überzeugungskraft, der wir nicht nach Belieben Rechnung tragen können oder nicht, wie Petrik mit bezug auf Gründe dafür feststellt, etwas für gut zu halten:

„[...] an individual must pursue whatever is presented as good by the preponderance of reasons, clear or not. But all this is to say that it is the contents of the understanding which determine what the individual will or will not decide to pursue.“(Petrik 1992, 101)

So erscheint eine Überzeugung wie die folgende seltsam:

Es ist wahrscheinlich, daß p, und ich glaube nicht, daß p.

Wahrscheinlich wird hier im Sinn von „vraisemblablement“(z.B. AT VI, 2, 6) genommen. Diesen Begriff benutzt Descartes im Discours, um zu bezeichnen, was wahr scheint, teilweise zur Kritik von Philosophen, die sich darauf beschränken. Ebenso seltsam erscheint:

Es gibt überwiegende Gründe für die Überzeugung, daß p, und ich glaube nicht, daß p.

Selbst wenn ein Unterschied zwischen klaren und deutlichen Ideen und Ideen mangelnder Klarheit und Deutlichkeit besteht, bedeutet das nicht, daß es in mein Belieben gestellt ist, die Überzeugung zu haben, daß p. Die Rationalitätsbedingung erstreckt sich auch auf schwächere, etwa weniger evidente Gründe. Auch sie müssen ein gewisses Maß an Überzeugungskraft entfalten, dem man sich nicht einfach willentlich entziehen kann. Umgekehrt wäre es seltsam, wenn Gründe das Urteil bestimmten, wenn sie vorliegen, aber einfach geurteilt werden könnte, wenn keine Gründe vorliegen. Daher scheint allgemein zu gelten:

„[...] we can´t just decide to belief or to assent to something, and forthwith belief or assent to it.“(Wilson 1975, 145)215

J. Bennett vermutet, dieser Unmöglichkeit liege eine „[...]conceptual necessity[...]“, zugrunde (Bennett 1984, 160). Er vermutet einen begrifflichen Zusammenhang zwischen Gründen und der Nichtwillkürlichkeit der Urteile, für die jene Gründe sprechen, beklagt aber, daß er ihn bisher nicht habe formulieren können. Williams teilt Bennetts Überzeugung:

„jemandes Unfähigkeit, ganz nach seinem Willen etwas zu glauben oder nicht zu glauben, ist keine zufällige Begrenzung, wie sie etwa die Unfähigkeit darstellt, auf Wunsch zu erröten.“(Williams 1981, 145)

215 Die gleiche Position nimmt Williams ein: „Gibt es nicht eine große Anzahl von Dingen, die man einfach nicht glauben kann, und andere, bei denen man nicht anders kann, als sie zu glauben?“(Williams 1981, 144)