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Sinneswahrnehmungen und Leidenschaften als praktische Einsichten

3.3 Rationalität und Freiheit im Handeln

3.3.2 Sinneswahrnehmungen und Leidenschaften als praktische Einsichten

Der gleiche Zusammenhang wie zwischen klarer und deutlicher Einsicht und Wollen wird auch in der Theorie der Leidenschaften aufgezeigt. Leidenschaften werden zumindest teilweise als praktische Einsichten aufgefaßt.

Nach dieser allgemeinen Exposition der internalistischen These ist parallel zur Erkenntnistheorie auch in der Theorie praktischen Überlegens zu diskutieren, wie mit den Handlungsimpulsen mangelnder Klarheit und Deutlichkeit umzugehen sei. Die vorgebrachten Zitate rechtfertigen die Idee einer Verbindung von Einsicht und Willensdisposition für den Fall von Urteilen bzw. Ausrichtungen des Wollens, die auf klarer und deutlicher Einsicht beruhen. Offenbar gibt es jedoch auch praktische Urteile bzw. Ausrichtungen des Wollens, die auf Einsichten beruhen, die nicht klar und deutlich sind.

Dabei spielen die Leidenschaften eine zentrale Rolle. Im folgenden werden die Leidenschaften in das Ideal des rationalen Willens integriert. Mit dieser Integration verbindet sich eine sehr enge Sicht der Leidenschaften. Erst später, in einer eingehenderen Betrachtung der Passions werden Ressourcen exploriert, eine reichere Theorie der Leidenschaften zu gewinnen. Zunächst muß daher kurz versucht werden, Leidenschaften gegen anderes abzugrenzen, dem sie irgendwie ähneln. Wie wir in der Diskussion der grundlegenden Unterscheidung von Aktivität und Erleiden gesehen haben, unterscheidet Descartes Willensäußerungen, die alles sind, hinsichtlich dessen wir aktiv sind, und das, was wir erleiden. Diese Unterscheidung bildet auch den Ausgangspunkt der Passions. Was wir erleiden, können angeborene Ideen sein, Wahrnehmungen, die etwas über äußere Dinge sagen, z.B.

visuelle, Wahrnehmungen, die etwas über den Zustand des Körpers sagen, wie der nicht-motivierende Aspekt eines Fußschmerzes, und Leidenschaften der Seele, die nicht direkt etwas über nicht-normative oder nicht-motivationale Tatsachen sagen, wie eine Traurigkeit.229 Es ist nicht klar, ob auch der motivierende Aspekt des Fußschmerzes eine solche Leidenschaft der Seele ist, wie auch nicht klar ist, wie Descartes die Leidenschaften der Seele innerhalb der Leidenschaften überhaupt abgrenzt. Eine Möglichkeit wäre, daß alles, was die Seele erleidet, eine Leidenschaft ist, alles darunter, was die Seele zu etwas motiviert und vom Körper mit verursacht wird, eine Leidenschaft der Seele (im Unterschied zu einer geistigen Emotion). Im folgenden werden motivierende Vorstellungen wie die Traurigkeit, die zum Schmerz gehört, aus den Meditationen und andere Leidenschaften der Seele, die in den Passions

229 Daneben steht natürlich die Charakterisierung durch die Ursache. De Sousa erstellt eine allgemeine Tafel der Perzeptionen bei Descartes (de Sousa 1997, 65). Er unterscheidet Sinneswahrnehmungen, propriozeptive Wahrnehmungen wie Schmerz und Wärme, aktive Emotionen und Leidenschaften. Die nächsten Ursachen sind je zweimal der Körper, die Seele und etwas außerhalb des Körpers. Es gibt jedoch keinen Grund, Descartes zu unterstellen, daß die nächste Ursache der Leidenschaften etwas außerhalb, die der Sinneswahrnehmungen aber etwas innerhalb des Körpers sein sollten. Es ist nicht notwendig, Wärmeempfindungen ebenso wie Schmerzen propriozeptiv zu nennen, nur weil wir nicht annehmen dürfen, es gebe eine äußere Eigenschaft „Wärme“. De

thematisiert werden, gleich behandelt. Außerdem sprechen wir gewöhnlich von ihnen einfach als

„Leidenschaften“ ohne Zusatz „der Seele“. Leidenschaften der Seele sind nicht klar und deutlich.

Dadurch grenzen sie sich gegen klare und deutliche Ideen ab. Bei ihrer Entstehung spielt der Körper immer eine Rolle. Dadurch grenzen sie sich gegen geistige Emotionen ab. Sie haben immer motivationale Kraft, motivieren zu handeln oder sich zu verhalten, auch wenn dieser Kraft widerstanden werden kann. Dadurch werden sie innerhalb von oder gegen Wahrnehmungen abgegrenzt. Probleme verschiedener Abgrenzungsversuche werden unten diskutiert. Im folgenden werden Belege für die Auffassung auch der Leidenschaften als praktischer Einsichten diskutiert. Dabei wird bewußt eine auch philologische Einseitigkeit in Kauf genommen. Sie wird im Kapitel über die Grenzen des rationalen Willens problematisiert. Als Zweck der Leidenschaften nennt Descartes:

„Ihr natürlicher Zweck ist also, die Seele zur Beistimmung und Unterstützung aller Tätigkeiten zu veranlassen, welche der Erhaltung und Vervollkommnung des Körpers dienen.“(§ 137)230

Leidenschaften dienen der Erhaltung und Vervollkommnung des Körpers, indem sie die Seele zu einem geeigneten Willensakt veranlassen. Diese Zweckbestimmung ist nicht weit genug, auch wenn sie die wichtigste Rolle der Leidenschaften erfaßt. Vollständiger ist eine andere:

„Der Nutzen der Leidenschaften besteht darin, daß sie die Seele zu dem Verlangen nach den uns von Natur nützlichen Dingen und zum Ausharren darin bestimmen.“(§ 52)231

Die Leidenschaften motivieren die Seele, nach dem Nützlichen zu streben.

Wie die theoretische Erkenntnis muß das praktische Wissen einer Prüfung standhalten. Deren Ergebnis ist für die erstere wie das letztere, daß als Erkenntnis gelten kann, was wir klar und deutlich einsehen. Was wir klar und deutlich als gut einsehen, sind wir berechtigt, für gut zu halten und auch zu wollen. Nun stehen wie in der theoretischen Erkenntnis dem durch klare und deutliche Einsicht gesicherten Wissen Ansprüche und Gründe gegenüber, die nicht gesichert sind und zu falschen praktischen Überzeugungen und im selben Zug zu einem fehlgeleiteten Wollen führen können. Auch an manchen Evidenzerlebnissen mangelnder Klarheit und Deutlichkeit dürfen wir nicht zweifeln.

Allgemein besteht für Descartes zumindet in den Meditationen die epistemische Rolle von Leidenschaften und Sinneswahrnehmungen darin, daß sie einen Impuls beinhalten, etwas zu glauben.

Anhand der Beispiele, die Descartes in der sechsten Meditation gibt, läßt sich eine Parallele zwischen der Bestimmtheit des Wollens durch eine klare und deutliche praktische Vorgabe je nach deren Überzeugungskraft und der Bestimmtheit des Wollens durch eine Vorgabe mangelnder Klarheit und Deutlichkeit aufzeigen:

„[...]warum jenes undefinierbare Unbehagen im Magen, das ich Hunger nenne, für mich eine Aufforderung ist zu essen, die Trockenheit der Kehle eine Mahnung zu trinken usw., dafür hatte ich nur eine Erklärung: die Natur hat es mich so gelehrt. Es besteht nämlich gar kein verwandtschaftlicher Zusammenhang (wenigstens kenne ich keinen) zwischen jenem Unbehagen und dem Willen zu essen[...] Aber auch alle anderen, die Sinnesobjekte betreffenden Urteile schien die Natur mich gelehrt zu haben.“(AT VII, 76)232

Sousa versteht offenbar die Unterscheidung geistiger Emotionen und von den Lebensgeistern vermittelter Leidenschaften als Unterscheidung aktiver Emotionen und Leidenschaften.

230„[...]en sorte que leur usage naturel est d´inciter l´ame à consentir & contribuer aux actions qui peuvent servir à conserver le corps, ou à le rendre en quelque façon plus parfait.“

231„[...]l´usage de toutes les passions consiste en cela seul, qu´elles disposent l´ame à vouloir les choses que la nature dicte nous estre utiles, & à persister en cette volonté[...]“

232 „[...]curve illa nescio quae vellicatio ventriculi, quam famem voco, me de cibo sumendo admoneat, gutturis verò ariditas de potu, & ita de caeteris, non aliam sane habebam rationem, nisi quia ita doctus sum a naturâ;

neque enim ulla plane est affinitas (saltem quam ego intelligam) inter istam vellicationem & cibi sumendi voluntatem [...] Sed & reliqua omnia, quae de sensuum objectis judicabam, videbar a naturâ didicisse[...]“

Empfindungen von Hunger oder Durst sind zunächst Empfindungen eines Unbehagens, dessen Ursache in den Magen verlegt wird, und das verknüpft ist mit einer Mahnung („admoneat“) und einem Wollen („cibi sumendi voluntatem“). Dazu gesellt sich ein Urteil, das anderen Fällen gleicht, in denen auch geurteilt wurde („quae...judicabam“). Diese Verknüpfung beruht auf einer Lehre der Natur („doctus sum a naturâ“). Die Lehre der Natur scheint nun darin zu bestehen, eine ganz bestimmte Handlung mit diesem Unbehagen zu verknüpfen. Dies ist die Mahnung, der wir durch ein Wollen entsprechen. Unsere Reaktion wird im nächsten Satz gleichgesetzt mit einem Urteil. Welchen Inhalt hat dieses Urteil? Dieser Inhalt ist sicher präskriptiv, etwa: „In der gegenwärtigen Situation ist es gut, Speise zu sich zu nehmen“.

Diese Stelle für sich genommen, scheint Descartes hier keinen Unterschied zwischen der Mahnung und dem Willen zu essen und dem Urteil zu machen, daß es gut sei zu essen. Da Descartes jedoch an anderer Stelle zwischen dem Urteil und dem Willensakt unterscheidet, kann die Identität nur im konativen Impuls liegen, der auf das Urteil und durch es auf das Wollen wirkt. Es spricht nichts dagegen, diesen Zusammenhang parallel zu dem oben diskutierten zu sehen. Das Urteil bedingt das Wollen. Das Urteil geht aufgrund desselben konativen Impulses einher mit der Willensbestimmung, etwa dem Willen zu essen als Reaktion auf eine Hungerempfindung. Bestätigt wird diese Gleichsetzung von Motivation und konativer Überzeugungskraft durch den Gedanken, daß die Natur die Verbindung zwischen einem qualifizierten Unbehagen und einer Willensbestimmung gelehrt habe („doctus sum a naturâ“), wenn Descartes kurz danach davon spricht, daß die Natur zu Willensbestimmungen treibe („viderer ad multa impelli a naturâ“).233 Daß die Lehre der Natur, die zu einem richtigen Urteil führt, unter die Antriebe derselben gehört, die zu einem Handelnwollen führen, wenn auch nicht umgekehrt, zeigt Descartes´ Erklärung des Verlangens nach einer vergifteten Speise:

„Allein ihn treibt dann die Natur nur an, nach etwas Wohlschmeckendem, nicht nach einem Gift, von dem er ja gar nichts weiß, zu verlangen.“(AT VII, 84)234

Hier liegt zwar ein Irrtum vor, weil die Sinnesempfindung zu einem Wunsch treibt, dessen Erfüllung uns schadet, weshalb Descartes das neutrale „impellitur“ anstelle von „docetur“ verwendet; aber er liegt nicht in dem, worauf der Antrieb der Natur zielt, der Nahrung als solcher. Derselbe Antrieb ist einmal eine Lehre, wenn wir zu richtigen Urteilen kommen, und einmal keine, wenn die Speise zufällig vergiftet ist. Also ist „impellitur“ ein neutraler Ausdruck, der für das verwendet werden kann, was die Natur lehrt, oder für die Disposition zu einer falschen Überzeugung. Auch dieser blinde Impuls ist eine Disposition, etwas zu glauben, nicht nur, etwas zu wollen. So wird der Impuls, der uns treibt, zu glauben, es gebe Dinge außer uns, in der dritten Meditation als blind bezeichnet („[...]caeco impulso[...]“, AT VII, 40). In der sechsten Meditation ist er nicht mehr blind, nicht, weil er sich als Impuls verändert hätte, sondern weil sich unsere Einstellung zu ihm verändert hat, indem wir

233 Descartes verwendet beide Bestimmungen nicht völlig austauschbar. Vielmehr spricht er davon, daß die Natur einen treibe, auch dann, wenn irgendeine Art von Korrekturbedürftigkeit besteht, weil etwa dasjenige schädlich ist, wozu die Natur einen treibt, von einer Lehre der Natur immer dann, wenn er den berechtigten Kern der Assoziationen betont, die von der Natur gestiftet werden (AT VII, 81- 84). So wird die Lehre der Natur von der bloßen Angewohnheit unterschieden, „unüberlegt zu urteilen“ („consuetudine quâdam inconsiderate judicandi“, AT VII, 82). Die Natur sind im vorliegenden Kontext die psychophysische Einheit und deren Folgeerscheinungen, alles, was Gott mir verliehen hat, insofern ich aus Körper und Geist bestehe („[...]quae mihi, ut composito ex mente et corpore, a Deo tributa sunt“, AT VII, 82).

234 „Sed nempe tunc tantùm a naturâ impellitur ad illud appetendum in quo gratus sapor consistit, non autem ad venenum, quod plane ignorat.“

zuverlässige von irreleitenden Impulsen unterscheiden gelernt haben.235 Descartes sagt daher auch, die Sinnesdaten hätten die Funktion, „dem Geist anzuzeigen“(„[...]menti significandum[...]“, AT VII, 83), was ihm zuträglich ist. Es geht dabei nicht nur darum, eine theoretische Erkenntnis zu gewinnen, sondern auch darum, eine Tätigkeit zu leiten. Aus diesen Überlegungen erhellt auch die Bedeutung der Rede, daß ein Kranker irre, wenn er nach Schädlichem verlangt:

„Allein nicht selten irren wir uns auch in dem, wozu uns die Natur antreibt. So verlangt z.B. ein Kranker nach einem Getränk oder einer Speise, die ihm bald darauf schaden. Nun könnte man wohl sagen, ein solcher Kranker irre, weil seine Natur verfäscht sei.“(AT VII, 84)236

Descartes weist dann die Wendung im letzten Halbsatz zurück, weil die Sinneswahrnehmungen in der Regel zuverlässig sind, und daher nicht die Natur verfälscht ist, sondern eine anders zu beschreibende Störung vorliegt, aber nicht die Rede, der Kranke irre. Das Verlangen geht mit einem Irrtum einher, weil der Impuls, der das Verlangen bestimmt, auch zu einem Urteilen bestimmt.

Diese Diskussion zeigt, daß wir den Antrieb der Natur unter dem Titel einer Lehre der Natur als einen Rechtfertigungsgrund für unser Tun nennen können, sofern wir die Lehre sorgfältig von Fehlinterpretationen der Sinneswahrnehmungen unterscheiden. Sie betrifft insbesondere das, was dem Körper nützt. Daher spricht Descartes von einem Wissen im Zusammenhang mit präskriptiven Aussagen, die wir aufgrund von Sinnesideen treffen:

„In gleicher Weise entsteht auch durch das Bedürfnis nach Trank eine gewisse Trockenheit der Kehle, welche die Nerven und durch deren Vermittlung das Innere des Gehirns erregt. Diese Erregung affiziert den Geist mit der Empfindung des Durstes, weil bei diesem ganzen Vorgang nichts für uns von größerem Nutzen ist, als zu wissen, was wir zur Erhaltung unserer Gesundheit trinken müssen.“(m.H., AT VII, 88)237

Die Darstellung der Ideen mangelnder Klarheit und Deutlichkeit in der sechsten Meditation ist allerdings thematisch beschränkt. Descartes thematisiert vor allem den Wahrheitsgehalt solcher Ideen, die suggerieren, es bestehe eine Ähnlichkeit ihrer Gehalte mit Eigenschaften äußerer Gegenstände. Die allgemeine Hypothese der Verbindung zwischen Einsicht und Handelnwollen läßt sich daher erst anhand der ausführlicheren Darstellung in den Passions überprüfen. Dort zeichnet Descartes ebenfalls einen starken Zusammenhang von Einsicht und Wollen:

235 Vor dem Hintergrund dieser Interpretation läßt sich auch der Skandal mildern, der in folgendem Eingeständnis liegt: „So wenn Du urteilst, daß ein Apfel, der zufällig vergiftet ist, Dir als Nahrung zuträglich sei, so siehst Du zwar ein, daß sein Geruch, seine Farbe usw. angenehm ist, nicht aber, daß deshalb der Apfel selbst Dir zur Nahrung nützlich sei sondern bloß, weil Du so willst, urteilst Du so.“(„Ita cùm pomum, quod fortè venenatum est, judicas tibi in alimentum convenire, intelligis quidem ejus odorem, colorem, & talia grata esse, non autem ideo ipsum pomum tibi esse utile in alimentum; sed quia ita vis, ita judicas.“ I.III, 345, AT VII, 377) Hier scheint es, als sei der Wunsch der Vater des Gedankens, so daß nicht der Grund das Wollen bestimmt, sondern das Wollen die Begründung im Widerspruch mit unserer These einer Rationalität des Willens. Aussagen dieses Inhalts finden sich auch bei Francis Bacon (1994, I, Aphorismus 69). Der Kontext der Frage Gassendis zur vierten, nicht zur sechsten Meditation und eines anderen Beispiels Descartes´, in dem eine Gewohnheit zu einem Urteil bestimmt, wo keine Erkenntnis zu erwarten ist, zeigt jedoch, daß mit dem „vis“ einfach der urteilende Wille gemeint ist, kein Wollen, das dem Urteil vorausgeht; daß es nicht darum gehen kann, daß wir den Apfel essen wollen und deshalb ein Urteil fällen, der Apfel sei gesund, sondern darum, daß ein solches Urteil nicht gefällt werden darf, wenn es um Erkenntnis geht, und doch gefällt werden darf, wenn es um die Selbsterhaltung geht. Denn in diesem letzteren Kontext hält Descartes dieses Urteil auf Äpfel bezogen für völlig legitim, auch wenn es im Fall des vergifteten Apfels falsch ist.

236 „At verò non raro etiam in iis erramus ad quae a naturâ impellimur: ut cùm ii qui aegrotant, potum vel cibum appetunt sibi paulo post nociturum. Dici forsan hîc poterit, illos ob id errare, quòd natura eorum sit corrupta.“

237 „Eodem modo, cùm potu indigemus, quaedam inde oritur siccitas in gutture, nervos ejus movens & illorum ope cerebri interiora; hicque motus mentem afficit sensu sitis, quia nihil in toto hoc negotio nobis utilius est scire, quàm quòd potu ad conservationem valetudinis egeamus [...]“

„Ich habe schon gesagt, daß das Begehren immer gut ist, wenn es aus einer wahren Erkenntnis hervorgeht, und so kann es nur schlecht sein, wenn es sich auf einen Irrtum gründet.“(§ 144)238

Descartes spricht hier die Kehrseite der Verbindung von Einsicht und Motivation aus: Jede Schlechtigkeit gründet in falschen Überzeugungen. Jeder Antrieb zu einem Wollen oder Verhalten, gleich, ob dieses Verhalten gut oder schlecht sei, muß daher zumindest von einer Überzeugung, was gut sei, mit bestimmt werden. Gut oder schlecht ist es dann je nachdem, ob diese Überzeugung wahr oder falsch ist. Descartes zerlegt in den Meditationen die Ideen mangelnder Klarheit und Deutlichkeit, z.B. eine Schmerzempfindung, in zwei Teile, eine Empfindung, die wir in den Fuß verlegen, wie wir eine Rotwahrnehmung als Wahrnehmung eines roten Gegenstands ansehen oder zumindest ihre Ursache in einem bestimmten Gegenstand außer uns suchen, und eine Leidenschaft der Seele, im Falle des Schmerzes die Traurigkeit, die erst eine Motivationswirkung entfaltet. Er erklärt,

„[...]warum aus einer nicht näher zu beschreibenden Schmerzempfindung eine Traurigkeit in meinem Gemüt [...]

folgt, die Trockenheit der Kehle eine Mahnung ist zu trinken[...]“(AT VII, 76)239

Offenbar ist es erst die Leidenschaft, durch die Sinnesideen nicht nur zu deskriptiven, sondern auch zu präskriptiven Urteilen veranlassen. Im Fußschmerz tritt zu einer Sinnesidee, die wir auf eine Ursache im Fuß beziehen, und die den einen Teil des Fußschmerzes ausmacht, eine Leidenschaft. Diese Leidenschaft nennt Descartes Traurigkeit („tristitia“). Daß er die Traurigkeit auch in den Passions behandelt, zeigt, daß sie eine Leidenschaft ist („tristesse“, § 69). Aufgrund ihrer urteilen wir, daß der Zustand des Fußes, auf den wir die Sinnesideen beziehen, zu meiden oder zu überwinden sei.

Descartes nennt die Traurigkeit und parallel eine Mahnung. Da es keinen eigentlichen Mahner gibt, kann nur die Natur gemeint sein, die so etwas wie eine Anweisung, nicht nur einen bloßen Impuls gibt.

Auch hier zeigt sich die Parallele von Leidenschaften und Evidenzen.

Abstrakter ist die Unterscheidung von Sinneswahrnehmungen und Leidenschaften in den Passions:

„Es gibt nämlich zwei Bewegungen der Eichel [der Zirbeldrüse] durch die Lebensgeister. Die einen führen der Seele die Gegenstände vor, welche die Sinne erregen oder die Eindrücke im Gehirn bewirken; diese erwecken ihren Willen nicht; die anderen haben einigen Einfluß auf ihn, nämlich die Erregungen, welche die Leidenschaften und die sie begleitenden Bewegungen des Körpers erwecken.“(§ 47)240

Sinnesideen werden der Seele nur durch die Lebensgeister übermittelt (§ 36). Allein diejenigen Lebensgeister haben Einfluß auf den Willen, welche die Leidenschaften erwecken. Damit kann nicht gemeint sein, die Sinnesideen disponierten nicht zu einem Urteil, sondern nur, daß allein die Leidenschaften darüber hinaus zu einem praktischen Wollen bestimmen. Wir können daher schließen, daß jede Repräsentation mit einer unmittelbaren, nicht durch irgendwelche Schlüsse vermittelten Motivationswirkung, die keine angeborene klare und deutliche Idee ist, eine Leidenschaft der Seele sei (s.a. § 29). Sinnesideen sind zunächst motivational neutral, vermitteln lediglich eine Information über den Zustand der Welt. Zu solchen Sinnesideen zählt Descartes auch Schmerzen. Letztere sind aber von Natur aus mit bestimmten Leidenschaften untrennbar verbunden.

238 „Or comme j´ay tantost dit, qu´il [ce Desir] est tousjours bon, lors qu´il suit une vraye connoissance: ainsi il ne peut manquer d´estre mauvais, lors qu´il est fondé sur quelque erreur.“

239 „[...]Cur verò ex isto nescio quo doloris sensu quaedam animi tristitia [...]consequatur, curve [...] me [...]

sumendo admoneat [...] gutturis verò ariditas de potu [...]“

240 „Or on peut distinguer deux sortes de mouvemens, excitez par les esprits dans la glande: les uns representent à l´ame les objets qui meuvent les sens, ou les impressions qui se rencontrent dans le cerveau, & ne font aucun effort sur la volonté; les autres y font quelque effort, à sçavoir ceux qui causent les passions ou les mouvemens du corps qui les accompagnent.“

Diese Untrennbarkeit führt nun zu einer gewissen Ambiguität in Descartes´ Beschreibung, die offen läßt, ob die emotive Komponente Teil oder Folge des Schmerzes ist. Diese Ambiguität zeigt sich an folgender Stelle: Für die Abgrenzung von Schmerz und Leidenschaft scheint zu sprechen, daß Descartes den „[...]Haß des Übels, der nur durch den Schmerz sich ankündigt[...]“(§ 140)241 als Leidenschaft beschreibt. Descartes ist sich jedoch auch an dieser Stelle offenbar über das Verhältnis des Hasses, der eine Leidenschaft ist, die mit jedem Schmerz notwendig verbunden ist, zu diesem Schmerz im Unklaren. Denn er sagt hier wörtlich, die Leidenschaft ist durch den Schmerz

„manifestiert“ („est manifesté“). Das klingt, als gäbe es eine bewußte Leidenschaft, die der Schmerz repräsentiert. Aber er will, wie der Kontext der Stelle zeigt, wohl nicht auf ein Repräsentationsverhältnis zwischen Schmerz und Haß hinaus, sondern nur den Haß, der aus einer deutlichen Erkenntnis resultiert, gegen ein Schmerzerlebnis abgrenzen. Ob der Schmerz den Haß enthält oder verursacht, bleibt unbestimmt. Denn weder im ersten, noch im zweiten Fall scheint zwischen Schmerz und Haß ein Repräsentationsverhältnis zu bestehen. Fest steht, daß es eine notwendige Verbindung zwischen bestimmten Sinneswahrnehmungen und bestimmten Emotionen mit motivationaler Kraft gibt, die Leidenschaften der Seele sind.

Dem eben diskutierten Haß stellt Descartes eine geistige Emotion gegenüber, die Resultat einer klaren und deutlichen Erkenntnis ist. Sie ist noch schwieriger einzuordnen. Sie besteht nach Gaukrogers Überzeugung „[...]in the movement of the will that accompanies the knowledge that a good is possessed[...]“ (Gaukroger 1993, 223) Wie wir gesehen haben, hängen klare und deutliche Einsicht, Urteil und Handelnwollen unmittelbar zusammen. Die geistige Emotion entsteht aus der Erkenntnis, ist also nicht mit ihr identisch. Ihre motivationale Rolle ist bereits durch die Einsicht selbst besetzt. Es ist auch nicht klar, worin sie überhaupt bestehen soll. Wenn sie nicht aus der Einsicht entstünde, könnte sie wohl in der präskriptiven Einsicht selbst bestehen. Sie könnte auch im Handelnwollen bestehen, da ja bezüglich geistiger Emotionen nicht festgelegt sein muß, daß wir im Hinblick auf sie passiv sind. Die geistige Emotion könnte irgendwie eine parasitäre Rolle neben der unmittelbaren Handlungsmotivation durch die Erkenntnis spielen. Wenn sie jedoch als Evidenz für ein Handeln fungiert, verdoppelt sie anscheinend nur die Einsicht, aus der sie entsteht. Diese Schwierigkeit läßt sich vermeiden, wenn sie als eigenständige direkte Handlungsmotivation verstanden wird. Damit paßt sie freilich nicht in die hier nachvollzogene Darstellung der Leidenschaften als Teile praktischen Überlegens. Vielleicht läßt sich die Schwierigkeit der bloßen Verdopplung einer Einsicht auch dadurch vermeiden, daß mit der geistigen Emotion etwas Neues entsteht: Wenn diese Einsicht etwa ein komplexes praktisches Raisonnement ist, könnte sie zu einer einfachen Emotion führen, die das Resultat des Überlegens einleuchten läßt, ohne daß das Raisonnement noch einmal vollzogen werden müßte. Sie wäre insofern nicht überflüssig wie eine bloße Verdopplung des Raisonnements. Weiter könnte sie von angeborenen Ideen dadurch unterschieden werden, daß sie erst entstehen muß. Sie scheint sich dann auf eine Form des Gedächtnisses zu reduzieren. Wie wir sehen werden, stellt sich dieses Problem auch bei körperlich bedingten Leidenschaften. Vielleicht unterscheidet sie sich von anderen gedächtnisartigen Leistungen dadurch, daß sie wirkt, ohne daß ihre Entstehung in der Vergangenheit bewußt sein müßte.

Leidenschaften können nicht nur intentional sein, wie sich zeigt, wenn Descartes mit Bezug auf die römischen Decier vom „[...] Gegenstand ihrer Kühnheit[...]“ (§ 173)242 spricht, womit er die Gefahr meint, der sie sich mutig aussetzen. Sie sind Teil eines praktischen Überlegens:

241 „[...]Haine du mal qui n´est manifesté que par la douleur[...]“

242 „[...] l´objet de leur Hardiesse[...]“

„Aus dieser selben Erwägung des Guten und Bösen entspringen [die bisher behandelten und] alle anderen Leidenschaften.“(§ 57)243

Diese Bemerkung für sich könnte auch so verstanden werden, daß nicht derjenige, den die Leidenschaft treibt, sondern der Philosoph, der sie systematisiert, oder Gott, der sie einrichtet, oder irgendein anderer diese Erwägung anstellt. Der Kontext, in den Descartes sie stellt, zeigt jedoch, daß wir, nur insofern uns die Leidenschaft treibt, eine Überlegung anstellen, d.h. die Leidenschaft in der oben beschriebenen Weise als Evidenz dafür bewerten, ein Verhalten, zu dem sie treibt, gut zu finden.

Dies zeigt neben der Formulierung über das Begehren im nämlichen Artikel: „[...]dieses zieht offenbar das Zukünftige in Betracht[...]“(§ 57)244, auch etwa die Erklärung aus dem Folgeartikel:

„Es genügt, daß man die Erlangung eines Guts oder die Abwendung eines Übels für möglich hält, um dazu getrieben zu werden, es zu begehren.“(§ 58)245

Descartes spricht an all diesen Stellen so, als entstünden die Leidenschaften aus einem Überlegungsgang. Leidenschaften wirken in dieser Beschreibung wie Resultate von praktischen Schlüssen. Damit scheint er die Unmittelbarkeit vieler Leidenschaften zu verfehlen. Wenn ich Durst spüre, schließe ich nicht, daß ich trinken sollte, sondern ich trinke. Aber trotz der mißverständlichen Beschreibungen läßt Descartes Leidenschaften nicht von vornherein aus einem solchen Prozeß entspringen. Viel eher geht es ihm darum, daß wir mit ihnen von vornherein in einer Einstellung praktischen Überlegens umgehen. Sie sind anscheinend unmittelbare impulsive Evidenzen wie Wahrnehmungen. Urteile aufgrund solcher Evidenzen werden mit anderen abgeglichen. Sie werden auch in Begründungen des Typs „Ich glaube, daß p, weil ich wahrgenommen habe / das Gefühl habe, daß p“ einbezogen. Sie können auch aus Schlüssen entstehen, wenn diese mittels der Lebensgeister eine physiologische Wirkung entfalten, die noch einmal zu einer prima-facie-Evidenz des Inhalts führt, den auch die Konklusion des praktischen Schlusses hat.

Doch gebrauchen wir Leidenschaften wirklich als Evidenzen für Urteile? Gibt es ein Analogon zu „Ich glaube, daß p, weil ich es gesehen habe“ im Bereich der Leidenschaften? Denken wir daran, was wir auf Fragen erwidern wie „Warum hast Du das Wasser ausgetrunken?“, „Warum bist Du davongelaufen?“: Wir erwidern vielleicht „Ich hatte Durst“, „Ich hatte Angst“. Nach Descartes´

Überzeugung berichten wir weder nur über einen blinden Antrieb, noch rekurrieren wir damit auf eine bloße Beobachtung der Welt oder auf einen praktischen Schluß. Das Erlebnis des Durstes veranlaßt nicht nur zu einem deskripitiven Urteil wie „Ich habe eine Trockenheit in der Kehle“, sondern unmittelbar, ohne Vermittlung eines Schlusses zu einem präskriptiven Urteil: „Ich sollte etwas gegen den Durst tun“ oder „Ich sollte etwas trinken“. Als solche Evidenzen werden die Leidenschaften wohl auch in die Erkenntniskritik der Meditationen einbezogen und ebenso wie die Sinneswahrnehmungen als moralisch gewiß gerechtfertigt.

Die Leidenschaften sind also keine irrationalen Impulse, sondern sie haben eine bestimmte Aufgabe, an der sie sich messen und im Hinblick auf die sie sich prinzipiell auch steuern lassen (weil ihre Wirkung auf den Geist mit einem Anspruch einhergeht, der durch Gründe kritisiert werden kann, deren Erwägung auch dazu führen mag, daß die Überzeugungen aufgrund der Leidenschaften als Evidenzen dafür, ein bestimmtes Verhalten für gut zu halten, suspendiert werden):

243 „De la mesme consideration du bien & du mal naissent toutes les autres passions.“

244 „Il est evident qu´elle regarde tousjours l´avenir.“

245„Il suffit de penser que l´acquisition d´un bien ou la fuite d´un mal est possible, pour estre incité à la desirer.“