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Abriß der Theorie geistiger Aktivität

Die bisherigen Ergebnisse zur Erkenntnisaktivität und der allgemeinen Ethik, die jener die Ziele vorgibt, werden im Ideal des rationalen Willens zusammengeführt. In diesem Kapitel werden die Voraussetzungen zielgerichteter Aktivität und der Implementierung von Erkenntnissen durch einen Abriß der cartesischen Theorie geistiger Akte erläutert. Diese sind freie Willensakte, die Handeln, Urteilen und das Gerichtetsein auf Gehalte erklären sollen.

Schwierigkeiten dieser Theorie werden erörtert.

In der bisherigen Darstellung blieb noch ungeklärt, wie der Erwerb aller erreichbaren Güter dadurch analysiert werden kann, daß man sich auf die Reform der eigenen Gedanken beschränkt, und, was es heißt, über die eigenen Gedanken zu verfügen. Der Theorie des höchsten Guts und ihrer Grundlegung in der Betrachtung des moralischen Subjekts korrespondiert das zu entwickelnde Ideal eines rationalen Willens, mit dem jenes höchste Gut in Erkenntnis und Praxis erworben wird. Das folgende Kapitel dient der Beantwortung obiger Fragen.

Descartes hat sich auf den Bereich seiner Gedanken beschränkt. Er will den Erfolg seines Tuns auch daran messen, was er in der Reform seiner Gedanken erreicht. Demgegenüber ist es für den natürlichen Menschen selbstverständlich, diesen Erfolg an einem bestimmten Wirken in der Welt zu messen, das er auf sein Handeln zurückführt. Daher muß untersucht werden, welche Veränderungen eine solche Umkehr im normalen Schema menschlicher Praxis bewirkt. Das neue Schema leidet unter den Folgen der Schwierigkeiten, das handelnde Subjekt konsistent zu beschreiben, die im Zusammenhang mit der Konkurrenz der Kandidaten für das moralische Subjekt stehen.

Im folgenden werden Grundlagen einer cartesischen Theorie rationaler Akte gelegt, auf denen Erkenntnis und Praxis beruhen. Dazu wird eine Übersicht über die Arten geistiger Akte gegeben, auf deren Grundlage und der einer erkenntnistheoretischen Untersuchung epistemischer Ziele die Theorie des rationalen Willens formuliert wird. Die Relevanz einiger Aussagen z.B. über Willenstätigkeit in der Erklärung von Intentionalität wird freilich erst in der Diskussion der Grenzen des rationalen Willens erhellen, die zeigt, welchen Unwägbarkeiten zielgerichtete menschliche Aktivität ausgesetzt ist.

Die Diskussion kann von folgendem Zitat ausgehen:

„Die Seele im Menschen ist eine einzige, und zwar die vernünftige; und keinerlei Handlungen [actiones] sind als menschlich einzuschätzen als die, die von der Vernunft abhängen.[...] Die Einsicht ist [...]ein eigentümliches Erleiden des Geistes, der Willensakt sein Akt [actio].“(an Regius, 5.1641, AT III, 371f.)175

Vernünftigkeit scheint zu erfordern, daß das Handeln durch Gründe oder Einsichten geleitet wird. Sie stellt nicht unbedingt Ansprüche an die Qualität dieser Gründe. Eine menschliche Handlung geht notwendig auf ein Erleiden und eine Tätigkeit des Geistes zurück. Eine Einsicht ist ein solches Erleiden. Zum menschlichen Handeln gehören bestimmte Überzeugungen, die dieses Handeln bestimmen. Aber eine Handlung beinhaltet eine Tätigkeit. Handeln ist deshalb Handeln, weil es in eigentümlicher Weise durch einen geistigen Akt verursacht wird. Dieser ist ein Akt des Willens. Er macht ein Geschehen zu einer Handlung.

175 „Anima in homine vnica est, nempe rationalis; neque enim actiones vllae humanae censendae sunt, nisi quae a ratione dependent[...] Intellectio [...] propriè mentis passio est, & volitio eius actio.“

In Descartes´ Theorie des Geistes spielt die Unterscheidung geistiger Akte und ihres Gegenstücks, des Erleidens, eine große Rolle. Was ist ein geistiger Akt? Descartes ordnet geistige Akte in einen allgemeineren Begriff des Bewirkens ein. Sein zentraler französischer Begriff für beides ist „action“, der lateinische „actio“ oder „actus“ . So spricht er im Discours von

„[...]Kraft und Wirkungen [la force et les actions..] aller übrigen Körper, die uns umgeben [...] “(m.H., I.I, 51, AT VI, 62)176

Diesen allgemeinen Begriff der „action“ stellt Descartes einem Erleiden gegenüber. Ein Akt ist etwas, das auf einen Terminus a quo bezogen ist, wenn von diesem eine Wirkung ausgeht. Jeder Akt ist zugleich ein Leiden, insofern er auf einen Terminus ad quem bezogen ist, auf den eingewirkt wird (an Hyperaspistes, 8. 1641, AT III, 428).

Descartes´ Auffassung geistiger Akte, wie sie dem Handeln zugrundeliegen, ist durch seine Interpretation des Willens bestimmt:

1. Jeder geistige Akt ist ein Willensakt.177 2. Jeder Willensakt ist ein Akt der Freiheit.

Der erste Aspekt erhellt schon im obigen Zitat. Der Wille ist nicht nur eine Fähigkeit zu einer der Aktivitäten der Seele, sondern die Fähigkeit der Seele zu einer Aktivität. Descartes sagt,

„[...]daß wir unserer Seele nichts anderes zuschreiben dürfen als das Denken. Dieses sondert sich in zwei Arten, nämlich in die tätigen und die leidenden Zustände der Seele. Unter ersteren verstehe ich alle Willenszustände, weil wir in uns erfahren, daß sie nur [directement] aus der Seele kommen und nur von ihr abhängen. Im Gegensatz dazu kann man alles das ihr Leiden nennen, was sich an Empfindungen und Kenntnissen in uns zeigt, weil es oft nicht die Seele ist, die sie so macht, wie sie sind, und weil die Seele sie immer von den Gegenständen empfängt, die durch sie vorgestellt werden.“ (§ 17)178

Descartes´ Behauptung, jeder geistige Akt sei ein Willensakt, verknüpft zwei verschiedene Vorstellungen, die geistiger Aktivität und die willentlicher Aktivität. Offenbar beruht die Unterscheidung von geistigen Akten und geistigem Erleiden auf einer direkten Erfahrung. Wenn wir geistige Akte vollziehen, erfahren wir sie als Akte, die wir uns selbst zuschreiben. Diese Zuschreibung beruht auf einer Reflexion, die jeden Akt begleitet (§ 19). Sie ist kein Akt, sondern eine Einsicht. Was bedeutet es, daß etwas direkt aus der Seele kommt? Die Seele ist der Terminus a quo. Doch wenn etwa

176 „la force & les actions [...] de tous les [...] cors qui nous enuironnent[...]“

177 Er schließt damit variierend an den scholastischen Gebrauch des Begriffs z.B. bei Duns Scotus an, der den Willen als bewegende Ursache innerhalb des gesamten Kreises der Seele beschreibt, sich allerdings nicht auf den Willen als das einzige Aktivitätsprinzip festlegt (vgl. Duns Scotus 1986, 174).

178 „[...] qu´il ne reste rien en nous que nous devions attribuer à nostre ame, sinon nos pensées, lesquelles sonst principalement de deux genres; à sçavoir, les unes sont les actions de l´ame, les autres sont ses passions. Celles que je nomme ses actions, sont toutes nos volontez, à cause que nous experimentons qu´elles vienent directement de nostre ame, & semblent ne dependre que d´elle. Comme, au contraire, on peut generalement nommer ses passions, toutes les sortes de perceptions ou connoissances qui se trouvent en nous, à cause que souvent ce n´est pas nostre ame qui les fait telles qu´elles sont, & que tousjours elle les reçoit des choses qui sont representées par elles.“

Diese Aussage scheint schwer vereinbar mit Kemmerlings These, nur der Verstand gehöre zum eigenen Wesen, nicht der Wille (Kemmerling 1996, 108). Der Wille gehört zum Denken, also auch zur denkenden Substanz.

Deshalb allein müßte er noch nicht zu ihrem Wesen gehören, denn der einzelne Willensakt könnte eine kontingente Modifikation des Denkens sein. Aber ohne ihn wäre diese Substanz keiner Aktivität fähig, und er ist die größte Vollkommenheit in ihrer Natur. Es erschiene seltsam, wenn der Wille das wäre, was mir am ehesten eigen ist und doch nur eine kontingente Eigenschaft (s.u.). Eher könnte diskutiert werden, ob der Intellekt als

„Ideenreservoir“ wirklich zum Kern meiner selbst gehört. Kemmerling beruft sich darauf, daß Descartes bisweilen von mir als substantia intelligens spricht. Aber Descartes spricht auch davon, der Wille sei die Fähigkeit, dem zuzustimmen oder nicht, was der Intellekt vorlegt, obgleich die Tätigkeit dieses Vorlegens teilweise ebenfalls eine willentliche ist (AT VII, 57). Descartes benutzt den Ausdruck „Intellekt“ manchmal in einer Weise, die den Willen ausschließt, und manchmal in einer Weise, die Willensleistungen einschließt. Daher stützt Kemmerlings Beleg seine These nur bedingt.

ein Willensakt, der eine Handlung des Trinkens verursacht, auch von einer Durstempfindung verursacht wird, deren Ursache eine Trockenheit der Kehle ist, wo ist dann der Terminus a quo (vgl.

AT VII, 84)? Descartes hat wohl seine Unterscheidung zwischen entfernten Ursachen und Haupt- oder nächsten Ursachen im Sinn. Er behauptet,

„[...]daß man auf doppelte Weise sagen kann, daß eine Sache von einer andren kommt, nämlich entweder deshalb, weil diese andre ihre nächste und hauptsächlichste Ursache ist, ohne die sie nicht sein kann, oder weil sie nur ihre entfernte Ursache ist, die die Hauptursache veranlaßt, ihre Wirkung zu einer Zeit eher als zu einer anderen hervorzubringen. So sind alle Arbeiter die hauptsächlichen und nächsten Ursachen ihrer Werke.“(Notae in Programma, II.I, 294f., AT VIII / 2, 360)179

Es gibt zwei Sinne, in denen Sachen von anderen kommen. Eine Sache kann a) eine ersetzbare Nebenursache einer anderen oder b) eine Haupt- und nächste Ursache sein. Nächste Ursachen scheinen die, die in einer Kette am nächsten an der Wirkung sind. Notwendige und vielleicht hinreichende Bedingung einer Hauptursache scheint zu sein, daß sie notwendig für eine bestimmte Wirkung ist. Descartes will hier offenbar eine wissenschaftliche Kategorie der hauptsächlichen und nächsten im Gegensatz zu zufälligen Ursachen entwickeln. Zugleich will er aber der natürlichen Neigung Rechnung tragen, bestimmte Ursachen herauszuheben, z.B. den Schöpfer bei einem Werkstück. Diese Neigung läßt sich aber nicht ohne weiteres durch die Unterscheidung von Haupt- und Nebenursachen rekonstruieren. Denn diese Unterscheidung ist keineswegs unproblematisch.

Erstens scheint außer im Fall einer Überdetermination jede Ursache eine zu sein, ohne die die Wirkung nicht sein kann. Descartes könnte hier vielleicht an Typen von Wirkungen denken, die bestimmte Typen von Ursachen voraussetzen, während andere ihrer Ursachen austauschbar sind. Was macht zweitens Situationen aus, in denen Hauptursache und nächste Ursache zusammenfallen, so daß eine Sache von einer anderen kommt (im Sinne b)? Fallen beide immer zusammen, oder kommt (im Sinne b), wenn sie nicht zusammenfallen, eine Sache nicht von einer anderen? Vielleicht ergänzt die Auszeichnung der nächsten Ursache nur das Kriterium der Notwendigkeit. Es geht dann nicht darum, welche Ursache am nächsten am Bewirkten ist, sondern welche notwendige Ursache am nächsten ist.

Descartes mag Verkettungen von Ursachen ausschließen wollen, welche ohne Rücksicht auf ihre Nähe gleichartig wären. So könnte der Handwerker gegenüber dem, der ihn sein Werkstück verfertigen heißt, nur durch seine größere Nähe zum Resultat ausgezeichnet werden. Der Handwerker ist dann diejenige notwendige Ursache, die dem Werkstück am nächsten ist. Trotzdem bleibt unklar, warum es nicht notwendige Ursachen bestimmter Typen von Werkstücken gibt, die näher am Werkstück sind, z.B. bestimmte Werkzeuge oder deren Bewegung. Diese Eventualität könnte ausgeschlossen werden, wenn es nur als eine notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung einer Hauptursache aufgefaßt würde, daß sie notwendig ist. Dann könnte es notwendige Ursachen geben, die näher am Werkstück, aber keine Hauptursachen sind. Der Handwerker wäre dann die Hauptursache des Werkstücks, weil er von den Ursachen, die alle anderen Kriterien einer Hauptursache erfüllen, unter anderem das der Notwendigkeit, am nächsten am Werkstück ist. Descartes müßte dann freilich erklären, was noch zu einer Hauptursache gehört.

Da uns hier vor allem um menschliche Handlungen und ihre Ergebnisse zu tun ist, kann das Handwerkerbeispiel vielleicht dahingehend verallgemeinert werden, daß Menschen immer die nächsten- und Hauptursachen ihrer Handlungen oder dessen sind, was sie mit ihrem Handeln

179 „[...]aliquid dici posse ex alio esse, vel quia hoc aliud est causa ejus proxima & primaria, sine quâ esse non potest; vel quia est remota & accidentaria duntaxat, quae nempe dat occasionem primariae, producendi suum effectum uno tempore potiùs quàm alio. Sic artifices omnes sunt operum suorum causae primariae &

proximae[...]

bewirken, wenn nicht andere Menschen in der Ursachenkette näher an der Wirkung sind.180 Genauer mag der jeweilige Geist, dessen Akt ja die menschliche Handlung zu einer solchen macht, die Haupt- und nächste Ursache sein. So könnte der Geist, insofern er wirkt, wenn wir etwas trinken wollen, die Haupt- und nächste Ursache sein, die durch die Durstempfindung als Nebenursache dazu veranlaßt wird. Der Zusammenhang zwischen dem Geist und der Handlung wirft vielleicht die oben genannten Probleme nicht auf. Denn der Geist ist durch seinen Willensakt eine notwendige und nächste Ursache jedes Vorgangs, der eine Handlung ist, weil sie mit dem Willensakt beginnt. Wenn Descartes sagt, etwas komme von der Seele, könnte er diesen Zusammenhang meinen. Menschliche Handlungen sind dann Wirkungen („actions“), deren Haupt- und nächste Ursache der Geist durch einen Willensakt ist.

Zugleich soll ihr Akt nur von der Seele abhängen. Aber wie das Zitat über das menschliche Handeln zeigt, gehen viele Willensakte auf Einsichten zurück, in denen die Seele auch passiv ist. Insofern scheinen Willensakte von äußeren Bedingungen abhängig und daher das Kriterium der Abhängigkeit nur von der Seele zu verfehlen. Was bedeutet es dann, daß etwas nur von ihr abhängt? Dazu ist zu klären, was ein willentlicher Akt ist. Descartes gibt eine einfache Begriffsbestimmung des Willens:

„Er [der Wille] besteht nämlich nur darin, daß wir dasselbe tun oder auch nicht tun (d.h. bejahen oder verneinen, erstreben oder meiden) können, oder vielmehr, daß wir uns von keiner äußeren Macht dazu gezwungen fühlen, zu bejahen oder zu verneinen, zu erstreben oder zu meiden, was uns der Verstand vorhält.[...]“ (AT VII, S. 57)181 Der Wille ist die Fähigkeit, einen geistigen Akt zu vollführen oder nicht, mit dem getan wird, was der Verstand („intellectus“) vorhält. Der Verstand ist eine Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen („percipere“, vgl. AT VII, 26). Wenn die Einsicht („intellectio“) das Geschehen beschreibt, daß der Verstand einem etwas vorhält, dann scheint dieses Geschehen kein Akt, sondern ein Erleiden. Nicht wir verstehen etwas oder sehen etwas aktiv ein, sondern uns wird etwas vorgegeben. Doch wie wir sehen werden, spielt dabei der Wille oft eine Rolle.

Die obige Begriffsbestimmung des Willens macht verständlich, warum der Wille wesentlich frei ist.

Denn wenn er darin besteht, etwas tun zu können oder nicht, also die Fähigkeit ist, etwas zu tun oder nicht, dann gehört die Offenheit für Alternativen zu seiner Natur:

„Der Wille ist aber seiner Natur nach so frei, daß er niemals gezwungen werden kann“(§ 40f.)182

In Descartes´ Bestimmung des Freiheitsbegriffs liegt freilich eine Ambiguität. Einerseits soll die Freiheit des Willens darin bestehen, daß der Akt, mit dem das getan wird, was der Verstand einem vorlegt, nicht vollführt werden muß. Andererseits setzt Descartes diese Freiheit mit dem Fehlen eines äußeren Zwangs gleich. Der Grund dafür ist der, daß der Verstand dadurch, daß er etwas vorlegt, den

180 wobei dann zwischen dem, was sie durch ihr Handeln bewirken, und dem unterschieden werden muß, was dadurch mit verursacht wird. Ein nicht unproblematischer Ansatz dazu wäre das, was beim Handeln beabsichtigt wird.

181„[...] quia tantùm in eo consistit [voluntas], quòd idem vel facere aut non facere (hoc est affirmare vel negare, prosequi vel fugere), possimus, vel potius in eo tantùm, quòd ad id quod nobis ab intellectu proponitur affirmandum vel negandum, sive prosequendum vel fugiendum, ita feramur, ut a nullâ vi externâ nos ad id determinari sentiamus.“

An derselben Stelle scheint Descartes dem Willen eine gewisse Unbegrenztheit zuzusprechen („[...]immensam[...]“). Petrik faßt diese Stelle folgendermaßen zusammen: „[...]the will´s infinity or perfection consists in its simple essence, viz., choice.“ (Petrik 1992 128) Williams kritisiert diese Unbegrenztheit: „Daß der Wille grenzenlos ist, scheint somit zu bedeuten, daß ich immer alles Beliebige wählen kann `ohne empfundenes Hindernis´. Aber dies ist doch sicherlich einfach falsch.[...] Ich könnte wünschen, es hätte im letzten Rennen dieses oder jenes Pferd gewonnen, aber ich kann nicht wählen, daß dies geschehen sein sollte.“ (Williams 1981, 131). Aber der Wille muß nicht in dem Sinn unbegrenzt sein, daß ich wollen kann, daß dieses oder jenes Pferd gewonnen hätte. Es genügt, wenn er unbegrenzt hinsichtlich aller möglichen Überzeugungen und aller möglichen Handlungsdispositionen ist.

182 „[...]Mais la volonté est tellement libre de sa nature, qu´elle ne peut jamais estre contrainte [...].“

Willen durchaus zwingt. Wir müssen dann das tun, was der Verstand vorlegt. Dieser Zwang soll mit der Freiheit vereinbar sein, weil er kein äußerer ist. Bestimmte Vorlagen des Verstandes treffen auf eine Art natürlicher Disposition des Willens, durch diese Vorlagen bestimmt zu werden:

„Ich wurde zu diesem Urteil nicht durch eine äußere Macht gezwungen, sondern die starke Neigung meines Willens war eine Folge der großen Erleuchtung meines Verstandes[...]“(AT VII, 58f.)183

Daß wir nicht tun müssen, was der Verstand vorlegt, hieße dann, daß wir nichts von dem tun müssen, wozu nicht eine natürliche Disposition des Willens besteht. Doch Descartes legt sich auch nicht auf diese Vorstellung fest. Denn er räumt dann doch wieder die Möglichkeit ein, sich auch gegen das zu entscheiden, wozu eine natürliche Neigung des Willens besteht:

„Immer nämlich steht es uns frei, uns davon abzuhalten, ein klar erkanntes Gut zu verfolgen oder eine offensichtliche Wahrheit zuzugeben, wenn wir es nur für gut halten, daß die Freiheit unserer Willkür dadurch bezeugt werde.“(an Mesland, 9.2.1645, AT IV, 173)184

Neben ein Modell der Freiheit der Spontaneität, einer natürlichen Disposition gemäß zu handeln, tritt ein Modell bewußter Wahl, einer natürlichen Disposition gemäß, aber auch dagegen zu handeln. Es wird noch erörtert werden, ob diese Modelle vereinbar sind. Daß ein Akt nur von der Seele abhängt, scheint nicht zu erfordern, daß es keine notwendigen Bedingungen außer der Willensentscheidung gibt, sondern lediglich, daß er durch keine im Verhältnis zur Willensdisposition äußeren Bedingungen festgelegt wird.

Welche Arten dieser Akte gibt es nun? In der obigen Begriffsbestimmung grenzt Descartes das 1) Bejahen und Verneinen vom 2) Erstreben und Meiden ab. Ersteres geschieht im Urteilen, letzteres in dem, was Descartes „voluntates“ nennt.

„Von meinen Gedanken sind nun einige gleichsam Bilder von Dingen, und diesen allein kommt eigentlich der Name `idea´ [Vorstellung] zu[...] Andere Gedanken haben außerdem noch eine andere Form. Wenn ich z.B. will, wenn ich befürchte, bejahe, verneine, so fasse ich zwar stets ein Ding auf, das meinem Bewußtsein zugrunde liegt, aber ich umfasse im Bewußtsein noch etwas mehr dabei als ein bloßes Bild jenes Dinges. Von diesen Gedanken heißen die einen Wollungen [2] oder Affekte, die anderen Urteile [1].“(AT VII, 37)185

Es gibt etwas, was einer Sache ähnlich ist (Bild, „rei similitudo“), die Idee, und Stellungnahmen dazu.

J. Petrik meint, daß Descartes etwas wie die Unterscheidung von phrastischer und neustischer Komponente des Urteilens im Sinn hat: Einem gedanklichen, phrastischen Gehalt wie „Schnee ist weiß“ oder „Die Wahrheit zu sagen ist gut“ steht eine Stellungnahme oder propositionale Einstellung (neustisch), ein Behauptungsaspekt oder ein Aspekt gegenüber, einen Gehalt zu wollen, z.B. x tun zu wollen (Petrik 1992, 156-160).186 Perler weist darauf hin, daß Descartes die Unterscheidung von propositionalen („Der Löwe rennt heran“) und nichtpropositionalen Gehalten („Der Löwe“) nicht vollziehe (Perler 1996, 64). Descartes hat wahrscheinlich gar keine genauere Vorstellung von der propositionalen Struktur von Urteilen. Ihm genügt es, von einer Einstellung zu einer Idee zu reden, die so etwas wie ein Bild von einer Sache ist (oder sich so ausnimmt). Die Stellung des Fürchtens oder der

183 „[...]non quòd ab aliquâ vi externâ fuerim ad id [judicare illud] coactus, quia ex magnâ luce in intellectu magna consequuta est propensio in voluntate [...]”

184 „Semper enim nobis licet nos reuocare a bono clarè cognito prosequendo, vel a perspicuâ veritate admittendâ, modò tantum cogitemus bonum libertatem arbitrij nostri per hoc testari.“

185 „Qaedam ex his [cogitationes] tanquam rerum imagines sunt, quibus solis proprie convenit ideae nomen: [...]

Aliae verò alias quasdam praeterea formas habent: ut, cùm volo, cùm timeo, cùm affirmo, cùm nego, semper quidem aliquam rem ut subjectum meae cogitationis apprehendo, sed aliquid etiam amplius quàm istius rei similitudinem cogitatione complector; & ex his aliae voluntates, sive affectus, aliae autem judicia appellantur.“

186 Der Willensentschluß, sein Bestes zu tun, paßt in dieses Bild nicht ganz hinein, wenn er sich seinerseits auf Willensentschlüsse richtet. Aber er könnte ja nur durch einen propositionalen Gehalt auf andere Willensakte bezogen sein.

Affekte ist noch zu diskutieren. Ideen sind freilich nicht nur neutrale Bilder, die erst durch das Urteil mit dem Anspruch verbunden werden, Sachverhalte richtig zu repräsentieren. Die Rede vom Licht des Verstandes, das auf eine Neigung des Willens trifft, beinhaltet offenbar, daß der Verstand dem Willen bereits einen Impuls gibt, wie die freie Entscheidung im Urteil ausfallen sollte. Zum Auftreten zumindest mancher Ideen muß daher der Impuls gehören, bestimmte Urteile zu fällen, mit denen der Repräsentationsleistung der Ideen Rechnung getragen wird. In der weiteren erkenntnistheoretischen Diskussion wird die Problematik, wie Ideen repräsentieren, weitgehend ausgeblendet; stattdessen wird der unter geeigneten Umständen eindeutige Impuls, etwas zu glauben, den der Verstand gibt, und die verantwortliche willentliche Reaktion darauf im Mittelpunkt stehen.

1) Urteile

Urteile („judicia“) sind Akte des Willens („actus voluntatis“) und damit geistige Akte.187 Damit sind auch Urteile Gedanken. Descartes grenzt Urteile von Ideen ab, die der Verstand vorlegt. Ideen sind gleichsam Bildern von Dingen. Sie stellen etwas dar. Auch Urteile enthalten wohl Bilder, haben Gehalte, die der Verstand vorlegt, aber darüber hinaus eine Einstellung zu ihnen. Urteile können wahr oder falsch sein. Mit einem Urteil beansprucht man, daß etwas so ist, wie es die Idee darstellt, die dem Urteil den Gehalt gibt. Darin kann man sich irren.

Wir würden erwarten, daß das am Urteil, was auf einen geistigen Akt zurückgeht, der Entschluß ist, eine Überzeugung anzunehmen, die dann irgendwie als Disposition weiterbesteht, aber nicht als ein dauerhafter Akt. Sonst müßten wir ein ganzes Überzeugungssystem ständig aktiv unterhalten. Auch Descartes beschreibt Urteile als etwas potentiell Dauerhaftes:

„Unter den eigenen Waffen [des Willens] verstehe ich die festen und bestimmten Grundsätze (jugements) bei der Erkenntnis des Guten und Bösen, nach denen man sein Leben einzurichten entschlossen ist. [...]“(m.H. § 48)“188 Was die Übersetzung mit Grundsätzen wiedergibt, nennt Descartes Urteile. Wenn nun Urteile Akte des Willens sind, dann folgt offenbar, daß diese Akte dauerhaft wie Überzeugungen oder Grundsätze sein können. Dieses Problem läßt sich vermeiden, wenn nicht der Akt des Urteilens selbst, sondern nur die Gewohnheit dauerhaft sein muß, solche Akte hervorzubringen. Diese Ambiguität von Gewohnheit und Willensentschluß zeigte ja auch der Tugendbegriff.

2) Willensakte

Dem Urteilen stellt Descartes das gegenüber, was er ein Wollen, „voluntas“ nennt.189 Seine Redeweise ist ein wenig mißverständlich, denn auch Urteile sind Akte des Willens. Auch ein Wollen enthält Bilder oder hat einen Gehalt. Im Gegensatz zu Urteilen kann es aber nicht wahr oder falsch sein. Auch das Wollen beinhaltet eine Stellungnahme zu dem, was der Verstand vorhält, aber keine Bejahung oder Verneinung, sondern ein Erstreben oder Meiden.

Descartes unterscheidet an anderer Stelle zwei Arten von Akten des Willens.

„Unser Wollen zerfällt weiter in zwei Arten; die [1 und 2.2] erste endet in der Seele selbst, z.B. wenn wir Gott lieben oder unsere Gedanken auf irgendetwas Geistiges richten wollen; die [2.1] anderen sind Handlungen, die

187 In AT VII, 60 spricht Descartes mit Bezug auf die Urteile, in denen ich mich täusche, von „[...]actus voluntatis, sive illa judicia[...]“

188 „Ce que je nomme ses propres armes, sont des jugemens fermes & determinez touchant la connoissance du bien & du mal, suivant lesquels elle a resolu de conduire les actions de sa vie.[...]“

189 Shapiro behauptet dagegen, nur die Urteile hingen wirklich vom Willen ab (2003, 57).

ein körperliches Geschehen zur Folge haben wie z.B. daraus, daß wir gehen wollen folgt, daß unsere Beine sich bewegen und wir auftreten.“(§ 18)190

Diese Unterscheidung steht, wenn sie vollständig sein soll, offenbar quer zu der von Urteilen und Willensakten. Denn die Akte des Willens der ersten Art (1 und 2.2) umfassen Urteile (1) ebenso wie andere Willensakte (2.2), die in der Seele enden. Mit den anderen Willensakten (2.2) scheinen sowohl ein Wollen (voluntas), das keine äußeren Auswirkungen hat, z.B. die willentliche Liebe zu Gott, als auch das Richten der Gedanken auf etwas gemeint zu sein.

2.1) Handelnwollen

Diejenigen Willensakte, die im Körper enden, bilden offenbar den Bereich dessen, was wir heute gewöhnlich als Wollen bezeichnen, und worauf Descartes sich mit „Erstreben und Meiden“ vor allem bezieht. Sie dienen der Erklärung von Handlungen. Für menschliches Handeln, z.B. Gehen, scheint es notwendig zu sein, daß ein Willensakt stattfindet, dieses Handeln zu wollen.

Wenn wir davon sprechen, der Mensch sei tätig, dann muß diese Tätigkeit auf die Aktivität zumindest eines der wesentlichen Teile der Geist-Körper-Einheit zurückgehen. Was in der naiven Sicht als menschliche Tätigkeit gilt, läßt sich daher auf drei Formen von Aktivitäten zurückführen:

a) Ein Zusammenwirken von Körper und Seele b) Tätigkeiten der Seele allein

c) Aktivitäten des Körpers allein

Die Übersetzung des § 18 ist irreführend. Descartes unterscheidet nicht notwendig zwei Akte, den geistigen und den körperlichen. Er sagt nur, daß bei einer körperlichen Handlung Willensakte Handlungen sind, die in einer Körperbewegung enden („se terminent en nôtre corps“), die ihr Terminus ad quem ist. Das Zusammenwirken von Geist und Körper wirft trotzdem metaphysische Schwierigkeiten auf. Wenn der Geist auf den Körper wirkt, soll derselbe Akt, vom Terminus a quo her gesehen, ein geistiger sein, und vom Terminus ad quem her ein körperlicher. Es muß etwas geben, was zugleich Denken und Ausdehnung ist. Wie aus Schütts Darstellung beider als maximal generischer Begriffe erhellt, schließen sie einander jedoch aus. Gleiches gilt für die Einwirkungen des Körpers auf den Geist bei Sinneswahrnehmungen und Leidenschaften.

An der oben zitierten Stelle (AT III, 371f.) erklärt Descartes, was eine menschliche Handlung ist.

Seine Erklärung schließt aus, Aktivitäten der dritten Art (c) menschliche Handlungen zu nennen, zu denen Leistungen des Geistes, kognitive- und Willensleistungen gehören. Zwischen beiden Aspekten besteht eine Folgebeziehung. Wenn einer spazierengeht, hat der Geist erstens eine intellektuelle Wahrnehmung, daß Spazierengehen wünschenswert sei. Zweitens folgt der Geist dieser Wahrnehmung durch den Akt, spazierengehen zu wollen. Dieser Akt führt drittens dazu, daß einer die Körperbewegung des Spazierengehens ausführt. Alle drei Aspekte sind notwendig für die Handlung des Spazierengehens. Die Körperbewegung ist keine notwendige, aber eine hinreichend wahrscheinliche Folge des willentlichen Handlungsimpulses. Äußere Umstände, der Körper selbst mögen die Körperbewegung blockieren. Welcher Instanz ist die Handlung des Spazierengehens nun zuzuschreiben? Offenbar geht weder der Geist noch der Körper spazieren, sondern beide erfüllen eine

190 „Dereches nos volontez sont de deux sortes. Car les unes sont des actions de l´ame, qui se terminent en l´ame mesme, comme lors que nous voulons aymer Dieu, ou generalement appliquer nostre pensée à quelque objet qui n´est point materiel. Les autres sont des actions qui se terminent en nostre corps, comme lors que de cela seul que nous avons la volonté de nous promener, il suit que nos jambes se remuent & que nous marchons.“