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Übergang zum zweiten Hauptteil: Einbettung der Erkenntnisziele in die praktische

1.7 Übergang zum zweiten Hauptteil: Einbettung der Erkenntnisziele in die praktische

gestützt ist. Der Ungläubige sündigt, weil er gegen epistemische Normen verstößt. Descartes scheint vor allem die Verpflichtung zu betonen, jeden Irrtum zu vermeiden, es sei denn, es ist unvermeidbar, ihn bisweilen in Kauf zu nehmen, wenn die Fristung des Lebens es verlangt. Auch darin liegt ein Grund für eine deontologische Interpretation. Es scheint Descartes weniger um größtmöglichen Erkenntniserfolg durch Maximierung wahrer wichtiger Überzeugungen zu gehen, als darum, ein falsches Verhalten zu verbieten, das zu Irrtümern führt. Die deontologische Erkenntnistheorie könnte hier auch an Suárez´ Gebot anschließen, nur bei Sicherheit zu handeln. Doch dieses Gebot erfaßt ja das Ziel der Wahrheit unabhängig von den handlungsrelevanten Konsequenzen nicht, das aufgewiesen wurde. Außerdem könnte der Grund für die Konzentration auf Verbote auch darin bestehen, daß Wahrheiten ohnehin gesucht werden und Regeln nur dort aufgestellt werden müssen, wo Fehler drohen. Dafür spricht, daß Descartes zumindest, wenn es um das Handeln geht, auch pragmatische Gesetze aufstellt wie das, nicht zu zweifeln, oder das, blind etwas zu wählen und daran festzuhalten, bei denen es um den Erfolg im Handeln geht, nicht unbedingt darum, Pflichten nachzukommen.

Descartes verbände mit der deontologischen Erkenntnislehre vor allem zweierlei zusätzliche epistemologische Entscheidungen. Wenn es gilt, sich vor Irrtum zu hüten, sollte auch die Möglichkeit dazu bestehen. Diese Möglichkeit erfordert, daß es eine Erkenntnisweise gibt, die völlig frei von Irrtum ist, und daß wir diese Erkenntnisweise als solche identifizieren können. Sie ist kaum mit einem kohärentistischen Begründungsmodell vereinbar, in dem keine absolute Sicherheit möglich ist. Am ehesten ist sie durch ein fundamentalistisches Modell zu realisieren, in dem von einer Klasse ausgezeichneter Evidenzen zu zwingenden Schlüssen übergegangen wird. Jene Evidenzen sollten in einer kontrollierbaren Situation erlauben, einfach zu erfassen, was der Fall ist, ohne daß irgendwelche Umstände doch zu Irrtümern führen könnten. Auf diese Weise verbindet sich die deontologische Erkenntnisethik mit einer „fundamentalistischen“ und einer „evidentialistischen“ Auffassung.78

Descartes vertritt anscheinend die deontologische Erkenntnistheorie in einer radikalen Form. Bei jeder Überzeugung, die wir haben, unterstehen wir einer epistemischen Pflicht. Diese Übertragung praktischer Begriffe wie desjenigen der Pflicht oder der Sünde in den Bereich der Erkenntnis muß die Übertragung derjenigen anderen praktischen Begriffe nach sich ziehen, deren Gebrauch mit demjenigen des Pflichtbegriffs in wechselseitiger Abhängigkeit steht. Verschiedene Autoren weisen auf diese Implikationen hin. So spürt Davidson schon bei der Formulierung eines Prinzips der

78 Plantinga führt den “deontologism“ zwar auf Descartes zurück, stellt dann aber fest:

„Locke´s thought initiates the classical package: evidentialism, deontologism, and classical foundationalism.“(2000, 83)

Wenn Descartes jedoch tatsächlich eine deontologische Erkenntnislehre vertritt, gebührt ihm auch die Ehre des Initiators des „classical package“. Plantingas Mangel an Aufmerksamkeit auf diese Rolle Descartes´ wäre umso bedauerlicher, als Descartes im Beispiel des bekehrten Ungläubigen eine prononcierte Position zu Plantingas Ausgangsfrage vertritt, welche Legitimationsanforderungen erfüllt werden müssen, um christliche Glaubenssätze anzunehmen. Die richtige Weise, zu ihnen zu gelangen, ist klare und deutliche Erkenntnis. Daher sollten sie auch nur aufgrund dieser Erkenntnis angenommen werden. Nun nehmen wir diese Glaubenssätze wohl nicht primär mit epistemischen Zielen an. Warum fordert Descartes metaphysische Gewißheit? Er meint vielleicht, daß das, was klare und deutliche Einsicht erlaubt, ohne der Lebensführung zu schaden, nur aufgrund klarer und deutlicher Einsicht angenommen werden sollte. Descartes nimmt nicht nur das „classical package“, sondern sogar einen Haupteinwand dagegen vorweg. „Evidentialismus“ und „Fundamentalismus“ beinhalten, daß jede gerechtfertigte Überzeugung auf unmittelbare Evidenz, die metaphysisch gewiß ist, oder Ableitung daraus zurückgeht.

Descartes vertritt diese Überzeugung, wenn es um metaphysische Gewißheit geht. Plantinga kritisiert, daß wir die meisten unserer Alltagsüberzeugungen nicht aus metaphysisch gewissen Evidenzen beziehen, wie sie ein cartesischer Standard der Klarheit und Deutlichkeit bietet (Plantinga 2000, 97ff.). Aber Descartes hält keineswegs dafür, daß all unsere Alltagsüberzeugungen auf diesen Standard gebracht werden können und sollen.

Viele sollen nur moralische Gewißheit erreichen. So hätten wir moralische Gewißheit, daß Rom eine Stadt in

Mäßigung beim praktischen Schließen, wonach alle relevanten Gründe berücksichtigt werden sollen (s.u. am Schluß das Kapitel zur Akrasie, Davidson 1985, 66), also noch nicht einmal im Zusammenhang einer allgemeinen deontologischen Erkenntnistheorie ein Unbehagen, daß wir uns dann unsere Überzeugungen willentlich bilden müßten. Aus demselben Grund weist Alston die deontologische Erkenntnistheorie zurück:

„I reject all versions of a deontological concept on the grounds that they either make unrealistic assumptions of the voluntary control of belief or they radically fail to provide what we expect of a concept of justification.“(Alston 1991, 73)

Descartes buchstabierte die Implikationen der letzteren anscheinend vollständig aus, einschließlich der laut Davidson und Alston so schwer akzeptablen Konsequenz, daß wir uns frei entscheiden, was wir glauben, und für jede unserer Überzeugungen verantwortlich sind.79

Die Ziele der Erkenntnis werden hinterfangen durch eine Verpflichtung des Erkennenden, Vorgaben zu folgen, die dafür sorgen, daß diese Ziele erreicht werden. Zweierlei Probleme sind jedoch zu beachten. Das erste hält sich innerhalb der These einer deontologischen Erkenntnistheorie. Die Ausgangsfrage dieses Kapitels war, was uns dazu bringt, die Ziele zu verfolgen, die Descartes der Erkenntnis bestimmt. Eine deontologische Antwort scheint zu sein, daß wir dazu verpflichtet sind, uns in einer Weise zu verhalten, die zur Erreichung dieser Ziele beiträgt. Diese Antwort ist jedoch nicht hinreichend. Denn wir können vielleicht zu etwas verpflichtet sein, ohne daß wir der Pflicht genügen.

Zwischen der Pflicht und der Handlungserklärung muß die These vermitteln, daß wir motiviert sind, der Pflicht zu entsprechen. Dazu muß festgestellt werden, welche Erfordernisse einer solchen Motivation im Begriff der Pflicht selbst liegen. Eine starke deontologische Theorie (1) verlangt, daß das Handeln aus Pflicht geschieht, von der Pflicht als solcher motiviert wird, eine schwache (2), daß das Handeln der Regel entspricht, der zu folgen Pflicht ist. Dabei bleibt offen, was dazu veranlaßt, der Pflicht zu genügen. Die erste Variante (1) bedarf der Erläuterung: Was heißt „aus Pflicht“? Eine Handlung wird vielleicht dann aus Pflicht vollzogen, wenn sie auch vollzogen würde, wenn alle anderen Motivationsgründe als das Bewußtsein der Pflicht wegfielen, oder, wenn das Bewußtsein der Pflicht das Handeln erklärt, ohne daß weitere Gründe oder Motive hinzugezogen werden müßten. J.

Greco will beide Theorien widerlegen.80 Gegen die schwache Variante (2) argumentiert er, daß dann Wissen auf beliebigen zufälligen und unzuverlässigen Wegen entstehen kann, z.B. Wunschdenken, wenn es nur der Regel entspricht (Greco 2001, 121). Doch Erkenntnisregeln können auf jede einzelne Bedingung konditionieren, die zu einem angemessenen Erkenntnisverhalten gehört. Warum sollten sie nicht ausschließen, daß eine Überzeugung durch Wunschdenken zustandekommt? Greco kann das Argument nur gegen eine beschränkte Fassung epistemischer Pflichten wie „Glaube das Wahre und nicht das Falsche“ wenden. Gegen die starke Variante (1) wendet Greco T. Reids Idee, unser Wissen könnte von Gott so eingerichtet sein, daß wir unmittelbar erkennen, ganz ohne Vermittlung von Regeln und ähnlichem (Greco 2001, 128ff.). Daher kann es auch keine notwendige Bedingung des Wissens sein, daß Regeln bewußt befolgt werden. Grecos Gegenargument trifft freilich nur eine Erkenntnistheorie, die Geltung auch für bestimmte kontrafaktische Situationen beansprucht. Eine Italien ist (AT IX / 2, 323). Auch wenn diese ihre eigenen Schwierigkeiten hat, muß sie jedenfalls nicht aus absolut gewissen Evidenzen gewonnen werden.

79 Das Beispiel einer Schuld, die ich habe, auch wenn ich sie nicht begleichen kann, könnte darauf hin deuten, daß es Verpflichtungen auch ohne Freiheit gibt, ihnen zu entsprechen (Kornblith 2001, 232).

80 Die Schwierigkeiten, die Greco in deontologischen Erkenntniskonzeptionen sieht, veranlassen ihn dazu, eine sehr schwache Tugendepistemologie zu vertreten:

Erkenntnistheorie, die sich darauf beschränkt, zu klären, welche Erkenntnistheorie für uns mit unserer aktuellen Ausstattung gilt, wird davon nicht betroffen. Gegen Descartes´ Erkenntnisdeontologie könnte dieses Argument auf die Überzeugung abstellen, die klare und deutliche Ideen unmittelbar bewirken. Sie könnte eine Situation von der Art sein, die Reid beschreibt. Doch Descartes´ Regeln beziehen sich ja gerade darauf, daß mit dieser unmittelbaren Wirkung richtig umgegangen wird. Dazu muß ein Freiraum bestehen. Gegen Grecos Einwand und dessen Zuspitzung auf Descartes könnte geltend gemacht werden, daß auch unmittelbare Meinungen in einer reflexiven Revision korrigiert werden können (Zagzebski 2001, 152). Diese Korrektur kann gemäß verpflichtenden Regeln vor sich gehen. Die Weise, in der wir lebhafte Sinnesideen oder klare und deutliche angeborene Ideen auf ihre Stichhaltigkeit prüfen, entspricht einem solchen reflexiven Vorgehen eines methodischen Zweifels an dem, was wir unmittelbar zu glauben geneigt sind. Allerdings müßte Descartes dann das Programm dieses Zweifels als eine Verpflichtung beschreiben. Er scheint es aber eher zu verwenden, um Erkenntnispflichten erst herauszuarbeiten.

Die Erkenntnisdeontologie kann unabhängig vom Gedanken der reinen Untersuchung die Erkenntnisvorgaben erklären, die aufgewiesen wurden. Sie kann auch mit der Konzeption der reinen Untersuchung verbunden werden. Diese kann auf verschiedene Weisen in den deontologischen Ansatz eingegliedert werden. Eine naheliegende Möglichkeit wäre eine starke deontologische Theorie. Ohne Rücksicht auf das Konzept der reinen Untersuchung könnten epistemische Pflichten auch zu einem System praktischer Pflichten gehören, das nicht erkenntnistheoretisch begründet wird. So spricht Descartes im Discours von dem, „[...]Gesetz, [...] nach dem wir, soweit es uns möglich ist, verpflichtet sind, für das allgemeine Wohl aller Menschen zu sorgen.“(I.I 51, AT VI, 61)81 Dies deutet darauf hin, daß es ein System von ethischen Pflichten gibt, das Erkenntnispflichten einschließen könnte.

Neben der eher internen Frage der Motivation und der Rechtfertigung von Erkenntnispflichten steht jedoch ein Problem, das von außen an die deontologische Theorie herangetragen wird. Es könnte die Diskussion der aufgeworfenen internen Probleme überflüssig machen. L. Zagzebski zweifelt die exegetischen Belege an, daß Descartes eine deontologische Erkenntnistheorie vertritt. Sie konzentriert sich dabei allerdings nur auf Belege, die von den Verfechtern der deontologischen These tatsächlich angeführt werden, insbesondere auf die schon zitierte Stelle (AT VII, 59f.) der vierten Meditation:

„Descartes does not even mention duties or rights, although he does use a lot of moral terminology, including

`should´, `act rightly´,`escape blame´. But again, such terminology can be found in Plato and Aristotle, neither of whom connected these concepts with a concept of duty.“(Zagzebski 1996, 35).

Zagzebski weist mit Recht darauf hin, daß wir vorsichtig sein sollten, Descartes eine deontologische Erkenntnistheorie etwa im Gegensatz zu einer Tugendepistemologie zu unterstellen. Ebenso sollten jedoch Zagzebskis philologische Thesen nicht dazu verführen, vorschnell die deontologische Erkenntnistheorie zurückzuweisen, wie es Zagzebski tut:

„The separation of knowledge from moral concerns is a development inherited from Descartes[...]“(Zagzebski 1996, 336)

Denn Zagzebski beachtet nicht Descartes´ Aussagen über die Sünde in der Akzeptanz des unzureichend Durchschauten, hinter denen seine theologischen Überzeugungen stehen könnten (AT VII, 148). Eine Sünde besteht dann darin, Gottes Gebot zuwiderzuhandeln. Die verpflichtende Kraft dieses Gebots kann wohl recht gut als konstitutiv für eine Pflicht dessen bezeichnet werde, an den sich

„S is subjectively praiseworthy in believing p if and only if S´s believing p results from the intellectual disposition that S manifests when S is motivated to believe the truth.”(Greco 2001, 137)

81 „[...] la loy qui nous oblige a procurer, autant qu´il est en nous, le bien general de tous les hommes.“

das Gebot richtet. Zagzebski selbst macht sich gegen eine deontologische Ethik das Argument G.E.M.

Anscombes zu eigen, die Rede von Pflichten sei wenig inhaltsreich, wenn nicht ein göttlicher Gesetzgeber vorausgesetzt werde, der diese Pflichten festlegt (Zagzebski 1996, 17). Umgekehrt könnte geschlossen werden, daß diese Rede wohl auch wiedergebe, was Descartes mit dem göttlichen Gebot dem Menschen auferlegt, gegen das dieser sündigt, wenn er seine Erkenntniskräfte falsch gebraucht.

Vor allem spricht jedoch dagegen, die deontologische Interpretation einfach anzunehmen, daß Descartes eine Reihe von Aussagen trifft, die eher Bezüge zu einer anderen ethischen Theorie aufweisen. Descartes bettet das Ziel der Wahrheit an sich in einen Designplan Gottes ein. Er fordert,

„[...]daß sie einsehen, es sei unmöglich, daß die Fähigkeit des Verstehens, die ihnen von ihm verliehen worden ist, etwas anderes als die Wahrheit zum Ziel hat.“(I.III, 133, AT VII, 146)82

Diese Stelle könnte im Sinne einer deontologischen Theorie verstanden werden. Aber sie kann auch auf andere Weise verstanden werden. Gott hat dem Menschen Anlagen gegeben, die dieser im Sinne einer angemessenen Funktionsweise entwickeln kann.83 Es gehört zu der guten Praxis, die Gott vom Menschen erwartet, diese Anlagen zu entwickeln und im Sinne ihrer angemessenen Funktion tätig zu werden. Das Ziel der Erkenntnis ist das Ziel, das in einer Fähigkeit des Menschen liegt. Wenn dieses Ziel zur Ausübung der Erkenntnisfähigkeit gehört, dann wird verständlich, warum es erkenntnisexterne und erkenntnisinterne Ziele wie die Wahrheit der Dinge an sich gibt. Letztere sind einfach Ziele, die zur Ausübung des Vermögens der Erkenntnis für sich betrachtet gehören. Doch warum sollte es ein Ziel des Menschen sein, diese Fähigkeit auszuüben? Er könnte sich mit seinen Fähigkeiten in einer Weise identifizieren, die es zu seinem Ziel macht, diese Fähigkeiten auszuüben.

Diese Entfaltung ist es, durch die er sich als moralisches Subjekt verwirklicht. Diese Identifikation könnte unmittelbar oder reflektiert in einer Überlegung geschehen, was er selbst ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.

Der Mensch könnte automatisch, durch das Funktionieren seiner Erkenntniskräfte nach Erkenntnis streben. Zumindest wenn er sich bewußt fragt, ob er dieser Funktion entsprechend tätig werden soll, können jedoch bewußte Zielvorstellungen eine Rolle spielen. Descartes gebraucht Begriffe wie Glückseligkeit oder Vollkommenheit, um zu beschreiben, was Erkenntnis für uns wertvoll macht. So erklärt er, das Erreichen der Wahrheit verschaffe eine subjektive Befriedigung: In den Regulae betont er den Nutzen der Erkenntnis für die

„[...]Freude, die man in der Betrachtung der Wahrheit findet, und die fast das einzige völlige und durch keinerlei Schmerz getrübte Glück in diesem Leben ist.“(I.II, 4, AT X, 361)84

Diese Aussage allein widerlegt direkt Röds Behauptung,

„[...] daß nach Descartes die wissenschaftliche Erkenntnis ihren Wert nicht in sich selbst, als beseligende Schau der Wahrheit, hat, sondern ihre Erfüllung erst in der Anwendung auf jene praktischen Aufgaben findet, die in rationaler Weise bewältigt werden können.“(Röd 1982, 12)85

82 “[...]ut intelligant fieri non posse quin facultas intelligendi ab eo ipsis data tendat in verum[...]“

83 Vgl. Plantingas Theorie des „proper functioning“ (Plantinga 1993)

84 „[...] ad illam voluptatem, quae in veri contemplatione reperitur, & quae fere vnica est integra & nullis turbata doloribus in hac vitâ felicitas.“ Gleiches in der 10. Regel, AT X, 403

85 In der Forschung hat v.a. G. Rodis-Lewis auf diesen Charakter der Erkenntnis als eigenständiges Ziel hingewiesen:

„Les joies pures de la découverte sont pour Descartes le bonheur suprême[...]“(Rodis-Lewis 1998, 27)

Wie Röd ist Gueroult der Überzeugung, daß es bei der Erkenntnis vor allem darauf ankomme, ein technisches Wissen zu entwickeln, um das Glücksstreben des Menschen zu befriedigen, und erst in zweiter Linie darauf, das Glück zu genießen, das in der Erkenntnis selbst liegt. Gleichzeitig erkennt Gueroult aber an, daß die Erkenntnis das größte Glück vermittelt:

Die wissenschaftliche Erkenntnis hat ihren Wert in sich und ist beseligend.

Descartes unterscheidet an obiger Stelle der Regulae diese Freude als erste Frucht der Erkenntnis der Wahrheit sehr genau von der zweiten Frucht, nämlich daß die Erkenntnis zum „[...]Zwecke eines behaglichen Lebens[...]“(I.I, 4, AT X, 361)86 dienlich sei:

„La metaphysique, qui établit que l´ame est nôtre `principale partie´ la nourrit aussi des joies pures de la connaissance. A l´utilité de la philosophie `pour regler nos moeurs´ s´ajoute le plaisir de la contemplation intellectuelle.“(Rodis-Lewis 1998, 61)

Hier wird die Unterscheidung von Wahrheit an sich und Überzeugungen um der Lebensführung willen in der Unterscheidung zweier Lebensziele ausgedrückt. Descartes setzt das Glück nicht von vornherein mit der „Behaglichkeit“ im Leben gleich, sondern unterscheidet das „völlige“ Glück davon. Zu den Vorzügen des Ziels der Wahrheit gehört, daß es ungetrübt ist durch Schmerz, den äußere Schicksalsschläge bereiten. Offenbar drohen solche Schicksalsschläge, z.B. ein radikales Fehlgehen, in der Erkenntnis zumindest nach der Erkenntniskritik nicht. Descartes vertritt anscheinend insofern eher einen Erkenntniseudaimonismus als eine Erkenntnisdeontologie.

Röd beruft sich zur Stützung seiner Ansichten auf eine Stelle aus dem Brief an Picot (Röd 1982, 32), wo es darum geht, Weisheit zu gewinnen,

„[...]sowohl um eine Regel für sein Leben zu haben, wie um seine Gesundheit zu erhalten, wie um alle Künste zu erfinden.“(II.I, XXXII, AT IX / 2, 2)87

Es geht also um den extraepistemischen Nutzen. Descartes fährt indes weiter, indem er den Menschen dadurch vom Tier unterscheidet, daß er nicht nur nach der Nahrung sucht, um sein Leben zu fristen („conduite de sa vie“), sondern sich um den Geist sorgt und die Weisheit sucht:

„Die rohen Tiere, die nur ihren Körper zu erhalten haben, beschäftigen sich immerwährend damit, Nahrung für ihn zu suchen, die Menschen aber, deren Hauptteil der Geist ist, sollen ihre Hauptsorge die Erforschung der Weisheit sein lassen, welche die wahre Nahrung des Geistes ist.“(II.I, XXXIII, AT IX / 2, 4)88

Warum sollen die Menschen primär nach Weisheit suchen?

„Dieses höchste Gut nun, wenn man es ohne das Licht des Glaubens durch die bloße natürliche Vernunft betrachtet, ist nichts anderes als die Erkenntnis der Wahrheit durch ihre ersten Ursachen, d.h. die Weisheit.“(II.I, XXXIV, AT IX / 2, 4)89

Die Erkenntnis der Wahrheit ist das höchste Gut.90 Wie steht nun diese Zielsetzung der Wahrheit zur

„conduite de sa vie“? Offenbar muß diese Lebensführung ergänzt werden, so daß sie wie die

„Car si on se place au point de vue de la félicité dans cette vie, la substance composée joue un plus grand rôle que l´entendement seul, bien que la contemplation de la verité soit, ici-bas, le plus ravissant des plaisirs.“(Gueroult 1953, 236)

Gueroult tut sich schwer damit, seine Festlegung, daß es vor allem gelte, technisches Wissen zu erwerben, mit dem Beitrag der Erkenntnis zum Glück zu vereinbaren.

86 [...]vtiles ad vitae commoda[...]“

87„[...]tant pour la conduite de sa vie, que pour la conseruation de sa santé & l´inuention de tous les arts[...]“

88 „Les bestes brutes, qui n´ont que leur corps à conseruer, s´occupent continuellement à chercher de quoy le nourrir; mais les hommes, dont la principale partie est l´esprit, deuroient employer leurs principaux soins à la recherche de la Sagesse, qui en est la vraye nourriture [...]“

89 „Or ce souuerain bien, consideré par la raison naturelle sans la lumiere de la foy, n´est autre chose que la connoissance de la verité par ses premieres causes, c´est à dire la Sagesse[...]“

90 Descartes nennt hier einen Kandidaten für das höchste Gut („souverain bien“), der stärker inhaltsbezogen ist als die anderen, unten diskutierten. Eine solche Fokussierung dessen, wonach man streben soll, allein auf die Erkenntnis, und noch dazu eine Erkenntnis aus ersten Ursachen („premières causes“), also wohl angeborenen Erkenntnisquellen, wäre eine extreme Verengung der Ziele des Menschen, die nicht mit den Aussagen über andere Ziele vereinbar ist, wie sich zeigen wird. Im Gegensatz zu der ausdrücklichen Diskussion mehrerer

aristotelische Konzeption des guten Lebens ein theoretisches Leben einschließt. Dieses Leben ermöglichen soll das Leitbild eines inneren Exils. Descartes schlägt vor, nur nach außen hin am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sich aber in Wahrheit von allen Bindungen freizuhalten, um sich der Erkenntnissuche zu widmen (AT VI, 29). Diesem Ideal entspricht ja auch seine eigene Lebensführung weitgehend. Diese Ergebnisse relativieren M. Williams´ These, Descartes habe gegenüber der antiken Lehre, daß Wissen einen eigenen Wert hat, eine Neuausrichtung auf ein instrumentelles Wissen hin eingeleitet, das Macht über die Natur gibt:

„From this [dem antiken] standpoint, there hardly can be a problem about the value of knowledge. Knowledge does not have to be good for anything: for beings like ourselves, it is an end in itself. [...] The modern point is that knowledge is valuable because it gives us power, particularly over the natural world. To take this view is to value knowledge for its consequences rather than as an end in itself. This view is advocated by Descartes[...]“(Williams 2001, 8)

Descartes kombiniert ein Streben nach praktischem Wissen und ein reines Erkenntnisziel. 91 Andere Stellen bestätigen diesen Eigenwert der Erkenntnissuche:

„[...] es bietet sich mir, wenn ich mit dem Auge des Philosophen die verschiedenen Tätigkeiten und Unternehmungen der Menschen betrachte, so gut wie keine dar, die mir nicht eitel und unnütz erschiene[...]

trotzdem aber empfinde ich eine außerordentliche Zufriedenheit über den Fortschritt, den ich in der Erforschung der Wahrheit bereits hoffe gemacht zu haben, und hege so große Hoffnungen für die Zukunft, daß, wenn es unter den Beschäftigungen der Menschen, rein als Menschen, eine gibt, die von Grund auf gut und bedeutend ist, ich wohl annehmen darf, daß es die von mir gewählte ist.“(I.I, 3, AT VI, 3)92

Kandidaten für das höchste Gut, die unten nachvollzogen wird, scheint Descartes´ hier eher beiläufig und hyperbolisch zu sprechen. Seine Zuspitzung des höchsten Guts auf diese Erkenntnis mag auch mit der Bedeutung zu tun haben, die der aus eigenen Ressourcen zu schöpfenden Erkenntnis im Discours für den Erwerb aller wahren Güter zugesprochen wird, die je in der Macht des Menschen sind (AT VI, 28). Wenn diese Erkenntnis in Verbindung mit dem freien Willen dafür hinreichend sein kann, wird eher verständlich, was Descartes zu einer solchen hyperbolischen Sprechweise veranlaßt. Trotzdem will er hier wohl auch sagen, daß die Erkenntnis als solche schon ein vorrangiges Gut ist. Wenn das höchste Gut etwas ist, was der Mensch nicht um eines anderen willen sucht, dann widerlegt diese Stelle Röds Behauptung: „Der Philosoph suchte die Wahrheit nicht um ihrer selbst willen, [...] sondern als Mittel zur Bewältigung praktischer Aufgaben.“(Röd 1982, 22f.)

91 Röd beruft sich bei seiner Beschränkung des Sinns der Wissenschaft auf ihren Nutzen auch auf den Baumvergleich wenig später im Brief an Picot,

„[...] wo die [...] Anwendungsbereiche wissenschaftlicher Theorien mit den Ästen verglichen werden, von denen erst die Früchte geerntet werden können, während Stamm und Wurzel, denen die theoretische Physik und die Metaphysik entsprechen, im Hinblick auf die Ernte der Früchte nur die Rolle der notwendigen Bedingungen spielen.“(Röd 1982, 13 zu AT IX / 2, 15))

Erstens mag die Rede von Früchten sich tatsächlich auf den Nutzen für das Leben beziehen. Aber es ist nicht von vornherein gesagt, daß der Sinn der Wissenschaft sich in den Früchten erschöpft, die sie trägt. Zweitens gehört zu den Früchten die Ethik, die reine Erkenntnisziele einschließen könnte. Drittens spricht Descartes zwei Seiten weiter ebenfalls wörtlich von Früchten, die sich aber ganz im theoretischen Bereich halten, wenn von der Zufriedenheit die Rede ist, die man empfinden wird, [...] eine Reihe Wahrheiten zu finden, die bis dahin unbekannt sind[...]“. Diese Zufriedenheit sei „[...]dauerhafter und gegründeter[...]“ als die durch suggestive Täuschungen („[...] la satisfaction qu´on aura d´y trouuer plusieurs veritez qui ont esté cy-deuant ignorées[...]plus durable & plus solide[...]“ II.I, XLIV, AT IX / 2, 17f.) Diese Zufriedenheit ist eine Frucht der cartesischen Methode. Die anderen Früchte sind besseres Urteilen, Urteile, die aufgrund ihrer Gewißheit zu keinen Streitigkeiten Anlaß geben, und die vielen ableitbaren Wahrheiten. Descartes spricht nicht vom praktischen Nutzen für das Leben. Die Überwindung von Streitigkeiten könnte ein praktisches Ziel sein. Aber auch sie hat, wie der Anfang des Discours zeigt, nicht nur irenistische, sondern auch heuristische Motive: Wo gestritten wird, besteht der Verdacht, daß keine gesicherte Erkenntnis gewonnen wurde. So sieht es ja auch Gaukroger, für den es Descartes nur darum geht, das kopernikanische Weltbild unbestreitbar zu machen (1996, 321).

92 „[...] regardant d´vn oeil de Philosophe les diuerses actions & entreprises de tous les hommes, il n´y en ait quasi aucune qui ne me semble vaine & inutile; ie ne laisse pas de receuoir vne extreme satisfaction du progrés que ie pense auoir desia fait en la recherche de la verité, & de conceuoir de telles esperances pour l´auenir, que si, entre les occupations des hommes purement hommes, il y en a quelqu´vne qui soit solidement bonne &

importante, i´ose croyre que c´est celle que i´ay choisie.“ Gueroult verweist auf viele Stellen, wo Descartes davon abrät, zu viel Metaphysik zu treiben, und die Bedeutung des praktischen Wissens um die Belange des

Die Beschäftigung, die für den Menschen rein als Menschen gut ist, ohne Rücksicht auf Dinge des Glaubens, im Hinblick allein auf die Ziele, die in seinem Wesen liegen, ist offenbar die Erforschung der Wahrheit. Es wird nichts hinzugefügt, wozu die Wahrheit etwa diene, zumal ja alle anderen bisherigen Beschäftigungen eitel sind. Descartes denkt vielleicht auch an eine Reform dieser Beschäftigungen, weil sie ohne vernünftige Anleitung zu keinem Erfolg führen. Aber auch hier scheint die Wahrheitssuche noch einen eigenständigen Wert zu haben. Eine Analogstelle bietet der Abschluß der provisorischen Moral, wo Descartes vorhat,

„[...]eine Überschau der verschiedenen Beschäftigungen anzustellen, denen die Menschen in diesem Leben nachgehen, und zu versuchen, die beste auszuwählen. Ohne daß ich nun das Geringste über die der anderen sagen wollte, dachte ich, daß ich nichts Besseres tun konnte, als [...] mein ganzes Leben der Vernunft zu widmen, und, so sehr ich konnte, in der Erkenntnis der Wahrheit fortzuschreiten, der Methode gemäß, die ich mir selbst vorgeschrieben hatte“(I.I, 22, AT VI, 27)93

Diese Bemerkung bestätigt, daß die Wahrheitssuche die beste Tätigkeit ist. Denn das Leben wird der Kultivierung der Vernunft gewidmet, nicht umgekehrt die Vernunft für das Leben kultiviert. Sonst müßte Descartes sagen, daß es andere Tätigkeiten gebe, die vorrangig seien. Doch vielleicht ist die Kultivierung der Vernunft nur die Bedingung der Ausübung anderer, vorrangiger Tätigkeiten. Dann sollte Descartes die anderen aber nicht eitel und nachrangig nennen, sondern auf die Bedingungsfunktion verweisen.94

Die beste, ja einzig gute, nicht nur die befriedigendste Tätigkeit ist die Suche der Wahrheit. Wie begründet Descartes diese These? Descartes erläutert den Gedanken, daß es besser ist, wenn der Mensch Erkenntnis hat, als wenn er keine hat, mit Hilfe des Begriffs der Vollkommenheit. Der Mensch ist vollkommener, wenn er Erkenntnis hat, als wenn er keine hat. Am Ende des Briefs an Picot, in dem er das Ideal der Suche nach der Wahrheit an sich entwirft, spricht Descartes von der

„[...]Vervollkommnung des Lebens[...]“(II.I, XLVII, AT IX / 2, 20)95 als Ziel. Zur Vervollkommnung aber gehört wesentlich eine reine Erkenntnis nicht nur als Mittel, sondern auch als Ziel. Diese Vollkommenheit ist den Bedürfnissen des Körpers vorgeordnet:

Körpers betont (Gueroult 1953, 237). Ich werde noch darauf eingehen, was hinter solchen Aussagen stehen mag:

Abneigung gegen abseitige metaphysische Spekulationen (vgl. Verga 1974, 13) und insbesondere die Einfachheit und Abgeschlossenheit der Metaphysik und die Komplexität der Physik und der Medizin, die es erforderlich macht, diesen Wissenschaften besonders viel Aufmerksamkeit zu widmen.

93 „Enfin, pour conclusion de cete Morale, ie m´auisay de faire vne reueuë sur les diuerses occupations qu´ont les hommes en cete vie, pour tascher a faire chois de la meilleure; & sans que ie vueille rien dire de celles des autres, ie pensay que ie ne pouuois mieux [...] que d´employer toute ma vie a cultiuer ma raison, & m´auancer, autant que ie pourrois, en la connoissance de la verité, suiuant la Methode que ie m´estois prescrite.“

94 Doch Descartes macht anscheinend die doppelte Einschränkung, daß er nur für sich selbst, und daß er innerhalb der provisorischen Moral spricht. Auch das vorletzte Zitat scheint nur eine vorläufige Position zu artikulieren. Allein die erste Einschränkung dient nur als captatio benevolentiae, die den gesamten Stil des Discours prägt. Descartes gibt vor, im Discours die eigenen Erfahrungen zu schildern (AT VI, 4). Aber er ist überzeugt, daß sein eigener Weg paradigmatisch ist und nach Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen eine Norm für die Philosophie bildet, wie auch der Denker der Meditationen paradigmatisch ist. Was die provisorische Moral betrifft, so dient sie der Lebensführung, während durch Umsturz bisheriger Meinungen eine stabile Erkenntnis gesucht wird. Sie kann daher noch nicht auf den sicheren moralischen Überzeugungen im Lichte einer stabilen Erkenntnis beruhen. Was jedoch auch immer an Revisionen nötig wird, die Suche der Wahrheit als Maßgabe weniger der Lebensführung als des Erkenntnisstrebens, die nur im Modus der provisorischen Moral wiederholt wird, damit diese das ganze Leben regle, ist ein Vorgriff auf die Ergebnisse der Untersuchung, weil sie gerade gegen die Lebensführung abgegrenzt wird, die durch die provisorische Moral aufrechterhalten werden soll. Da Descartes ja den Gang, den er anderen empfiehlt, schon durchlaufen hat, wäre es ihm zudem als Fehler anzulasten, anderen zu empfehlen, eine solche Erkenntnis zu suchen und dann in deren Lichte festzustellen, daß diese Suche keinen Sinn hatte.

95 „[...] perfection de vie[...]“