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6 Konzepte und Ansätze zur Verbesserung und Ermöglichung einer inklusiven

6.1 Vom Defizitmodell hin zur Stärken-Perspektive – das Empowerment-Konzept

Wie bereits im ersten Teil dieser Arbeit deutlich wurde, finden sich überwiegend defizit-orientierte Definitionen von Autismus in der Literatur und dadurch ist eine negative Sicht-weise entstanden, die sich auch nach fast 70 Jahren seit der Erstbeschreibung nicht grund-legend verändert hat. Um ein Verständnis für Autismus entwickeln zu können und vor allem die Fähigkeiten sowie Stärken in den Mittelpunkt zu rücken, bedarf es im Einklang mit Theunissen und Paetz einer „Rekonzeptionalisierung“ von Autismus und ein grund-sätzliches Umdenken bezüglich verschiedener Seins-Formen. Weil dieses Umdenken die Basis jeglicher Arbeit mit Menschen im Autismus-Spektrum darstellt, soll im Folgenden sehr ausführlich auf die Thematik eingegangen werden.

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Theunissen und Paetz verweisen im Zuge dessen auf den Begriff „Empowerment“ und die zunehmende Etablierung des „Empowerment-Konzeptes“ in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen bzw. in der Heilpädagogik (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S. 9 ff.).

Nach Herriger wird der Begriff „Empowerment“ im deutschen Sprachraum mit „Selbst-befähigung“, „Selbstbemächtigung“ und „Stärkung von Eigenmacht und Autonomie“

übersetzt. „Empowerment – auf eine kurze Formel gebracht – zielt auf die (Wieder-) Her-stellung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Alltags“ (Herriger 2009, o. S. Hervorh. im Original kursiv). Dabei unterscheidet Herriger zwischen zwei Lesarten von Empowerment: „Empowerment als Selbstbemächtigung problembetroffener Perso-nen“ und „Empowerment als professionelle Unterstützung von Selbstbestimmung“ (ebd.

o. S. Hervorh. im Original kursiv). Die erste Lesart beschreibt einen „[…] Prozess der Selbst-Bemächtigung und der Selbst-Aneignung von Lebenskräften durch die Betroffe-nen selbst“ (ebd. o. S.). Hingegen beschreibt die zweite Lesart in diesem Sinne, Em-powerment als „[…] das Kürzel für eine psychosoziale Praxis, deren Handlungsziel es ist, Menschen bei der selbstbestimmten Bewältigung von Lebensaufgaben eine beglei-tende Unterstützung zu geben“ (ebd. o. S.).

Dass der Empowermentansatz immer mehr Zuspruch erhält, ist vor allem daran zu erken-nen, dass in der Heilpädagogik ein Kurswechsel stattfand, welcher sich nun eher an der Betroffenenperspektive orientiert (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S. 9ff.). In der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen wurde es bisher so gehandhabt, dass:

„[…] die Kultur des Helfens ausschließlich an Defiziten, Auffälligkeiten oder Proble-men […] ausgerichtet war. Behinderte Menschen wie auch ihre Angehörigen (Eltern) wurden vorrangig im Lichte von Hilflosigkeit, Versagen oder Inkompetenz wahrge-nommen und nicht selten in eine ‚pathologische Ecke‘ gedrängt. Dementsprechend galt das Klientel der helfenden Instanzen als belieferungs-, anweisungs- und behandlungs-bedürftig; und die damit verknüpfte Defizitorientierung war eine unhinterfragte Prä-misse“ (ebd. S. 21).

Im Gegensatz dazu hat sich das Empowerment-Konzept der sogenannten „Stärken-Per-spektive“ verschrieben und diese wird nach Weick folgendermaßen definiert:

„Eine Stärken-Perspektive beruht auf der Wertschätzung der positiven Eigenschaften und Fähigkeiten, die Menschen ausdrücken, und auf der Art und Weise, wie individuelle und soziale Ressourcen entwickelt und erhalten werden können“ (Weick 1989, S. 352).

Das Zentrum des Empowerment-Konzeptes bildet das Menschenbild und dieses bezeich-net Herriger als „Die Philosophie der Menschenstärken“. Dieses beinhaltet folgende Bau-steine:

- „Die Abkehr vom Defizit-Blickwinkel auf Menschen (mit Beeinträchtigungen) und zugleich auch die Abkehr von damit verknüpften Unterstellungen von Hilfe-bedürftigkeit.

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- Das Vertrauen in die Stärken, Kompetenzen und Ressourcen, die es Menschen möglich machen, ihr Leben auch in kritischen Situationen und biographischen Belastungen erfolgreich zu meistern.

- Die Achtung vor der selbstbestimmten Lebensweise, der Selbstverantwortung und dem ‚Eigen-Sinn‘ von Menschen mit Behinderung.

- Der Respekt vor der ‚eigenen‘ Zeit und den ‚eigenen‘ Wegen der Menschen mit Behinderung und der Verzicht auf enge Zeithorizonte und standardisierte Hilfe-pläne.

- Der Blick nach vorne: der Verzicht auf eine umfassende Thematisierung zurück-liegender biographischer Verletzungen und die Orientierung an einer für den Be-troffenen wünschenswerten Lebensgegenwart und -zukunft.

- Die Abkehr von (entmündigender) Verantwortungsübernahme: das Eröffnen von

‚Testfeldern‘ für das Entdecken von eigenen Stärken (‚kleine Erfolge stimulieren größere Erfolge‘); die Übernahme von ‚Verantwortungsrollen‘, in denen der Be-troffene Selbstwert schöpfen kann.

- Die Grundorientierung an einer ‚Rechte-Perspektive‘: Menschen mit Behinde-rung verfügen - unabhängig von der Schwere ihrer Beeinträchtigung - über ein unveräußerliches Recht auf Wahl- und Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf die Gestaltung ihres Lebensalltags“ (Herriger 2009, o. S.).

Aber wie sieht dahingehend die Praxis aus? Was braucht es, um die Empowerment-Arbeit und auch die dafür notwendige professionelle Grundhaltung umzusetzen und tatsächlich zu leben? Theunissen bezeichnet diesen notwendigen Umbruch vom defizitorientierten Denken und Arbeiten hin zur Stärken-Perspektive als Paradigmenwechsel, in dem sich die Autismusforschung aktuell befindet. Er versteht ein Paradigma als ein Leitmodell, welches für Fachleute, Fachverbände und Trägern von Dienstleistungssystemen für au-tistische Personen richtungsweisend ist. Für die Autismusforschung bedeutet dies, dass das „klinische Modell“ durch ein „personenzentriertes Modell“ abgelöst wird und Letz-teres somit als neues Leitmodell allgemeine Anerkennung und Gültigkeit erfahren sollte (vgl. Theunissen 2014, S. 128).

Nun muss man sich jedoch die Frage stellen, welche Konsequenzen das für die Praxis darstellt. Für Theunissen ist es ein Verstoß gegen die Behindertenrechtskonvention, wenn ein Mensch mit einer Behinderung z. B. gegen seinen Willen in ein Wohnheim oder in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen untergebracht wird. Die bisherige Pra-xis sieht allerdings leider noch anders aus und so müssen das Empowerment-Verständnis und ein grundsätzliches Umdenken vor allem auf der politischen Ebene geschehen. Poli-tische Entscheidungsgremien, zuständige Behörden, Dienstleistungssysteme sozialer Kontrolle und insbesondere Träger der Hilfesysteme für autistische Menschen müssen

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sich von bisherigen gewohnten Vorgehensweisen verabschieden und den Weg frei ma-chen für eine Selbst- und Mitbestimmung der Betroffenen. Im Grunde genommen ist das Empowerment-Konzept das zentrale methodische Instrument zur praktischen Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (vgl. Theunissen 2014, S. 131 f.).

Auf die Erfahrungen der Autorin bezogen, ist festzustellen, dass diese stärkenorientierte Grundhaltung nur unzureichend vorhanden ist. Dies wird vor allem in der Zusammenar-beit mit Kostenträgern, Ämtern, Bildungseinrichtungen, Ärzt*innen, anderen Trägern von Hilfesystemen, Angehörigen und sogar mit den Klient*innen selbst ersichtlich. Diese Aussagen kann die Autorin leider nicht mit fundierten Zahlen untermauern aber die Er-fahrung in der Zusammenarbeit mit den eben genannten Institutionen und Personen hat gezeigt, dass die Arbeitsweise überwiegend bevormundend und fremdbestimmend ist.

Selbst Klient*innen im Autismus-Spektrum müssen teilweise auf ihre Selbstbestim-mungsrechte und eigenen Entscheidungsmöglichkeiten „hingewiesen“ werden. Fragen, wie z. B. „Was möchtest du eigentlich?“ waren ungewohnt, da in ihrem bisherigen Leben oft keine Rücksicht auf die eigenen Wünsche genommen wurde. Besonders der berufliche Weg wird oftmals durch das bestehende System, die Eltern oder durch gesellschaftliche Erwartungen vorgegeben und somit bleibt kein Freiraum für Selbstbestimmung und -ver-wirklichung.

Im Zuge des Implementierungsprozesses des Autismus-Siegels hat die Autorin auch da-mit begonnen das Empowerment-Konzept und das Neurodiversitäts-Konzept in Form von Vorträgen im Berufsbildungswerk Leipzig für die Mitarbeiter*innen zugänglich zu machen. Dabei hat sich gezeigt, dass großes Interesse vorhanden ist aber auch sehr viel Skepsis, da sich die praktische Umsetzung aufgrund der gegebenen und sehr begrenzten Rahmenbedingungen, als sehr herausfordernd darstellt. Exemplarisch soll hier ein Bei-spiel aus dem Internatsbereich des BBW kurz beschrieben werden. Das Internat, welches dem BBW Leipzig angeschossen ist, ist für viele Teilnehmer*innen im BBW für den Zeitraum der Ausbildung ein neues Zuhause geworden und sollte auch ein solches dar-stellen. Dennoch ist es z. B. nicht erlaubt, die Mittagspause im eigenen Zimmer zu ver-bringen. Für viele Autist*innen bedeuten vorgegebene längere Pausen eine große Her-ausforderung in jeglicher Hinsicht (Lärmpegel, Menschenansammlungen, unstrukturierte Zeiten usw.). Das Mittagessen in den eigenen vier Wänden einnehmen zu können und sich bei Bedarf auch kurz auszuruhen, ist nicht möglich, da zu diesem Zeitpunkt kein Personal vor Ort ist. Der Aufenthalt im Internat ist jedoch nur möglich, wenn Erzieher*in-nen im Dienst sind. Das ist so allerdings nicht in der Personal- und Stundenplanung vor-gesehen und einen alternativen Ruheraum oder separate Essensräume gibt es noch nicht.

Somit ist eine Selbstbestimmung aufgrund der rigiden Strukturen nicht möglich und die Pause kann nicht so genutzt werden, dass diese sich auch erholsam und kräftigend für den zweiten Teil des Tages auswirkt.

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Herriger hat abschließend dazu Folgendes treffend formuliert:

„Eine empowerment-orientierte soziale Praxis […] muss auf dem Eigensinn der Le-bensentwürfe ihrer Adressaten beharren. Sie muss offen bleiben für unkonventionelle Lebensgestaltungen, muss Raum lassen für Widerspenstiges, muss sich einlassen auf ergebnisoffene Entwicklungsprozesse und Identitätsverläufe, die die engen Grenzen der Arbeitsmarktrationalität überschreiten“ (Herriger 2009, o. S.).

Es muss sich also erst die Haltung und Einstellung gegenüber unterschiedlichsten Le-bensentwürfen aller Menschen ändern, damit jeder Person der Zugang zur ganzheitlichen Teilhabe ermöglicht werden kann.