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1 Das Autismus-Spektrum

1.4 Autismus als „Seins-Form“ – Das Neurodiversitäts-Konzept

Die britische Zeitung „The Guardian“ berichtete bereits vor 12 Jahren in einem Artikel von Emine Saner mit folgendem Titel: „It’s not a disease, it’s a way of life“, über Autis-mus als eine Lebensweise. Das Zitat stammt von Valerie Paradiz (Vorstandsmitglied von Autism Speaks) und soll stellvertretend für die Kampagne stehen, die 2007 von und für Autist*innen in Somerset ins Leben gerufen wurde. Hier geht es besonders darum, die Unterschiede zu anderen Menschen zu feiern, anstatt sie heilen zu wollen (vgl. Saner 2007, o. S.). Der Begründer der Selbstvertretungsbewegung der Autist*innen und selbst Autist Jim Sinclair, hat bereits 1993 auf einer internationalen Autismuskonferenz in Toronto folgende Worte an die Zuhörer*innen gerichtet:

„Autismus ist kein Anhängsel. Autismus ist nicht etwas, was eine Person hat, oder eine Hülle, in der eine Person gefangen ist. Es gibt kein anormales Kind, das sich hinter dem Autismus verbirgt. Autismus ist eine Form des Seins. Er ist tiefgreifend; er färbt jede Erfahrung, jede Empfindung, jede Wahrnehmung, jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Begegnung, jeden Aspekt der Existenz. Es ist nicht möglich den Autismus von der Person zu trennen, und wenn es möglich wäre, wäre die Person, die übrig bliebe, nicht dieselbe Person, die sie vorher war. Das ist wichtig - nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken: Autismus ist eine Art des Seins. Es ist nicht möglich, den Autismus von der Person zu trennen“ (Sinclair 1993, o. S.).

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Auch „auticon“, ein internationales IT-Beratungsunternehmen mit Sitz in Deutschland, welches ausschließlich Menschen im Autismus-Spektrum als IT-Consultants beschäftigt (ausführlicher dazu, siehe Kapitel 7.1), untermauert diese Denkweise folgendermaßen:

„Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem“ (auticon 2019a, o. S.). Theunissen und Paetz zufolge stützen sich solche Aussagen nicht auf einen blinden Aktionismus, sondern entwickeln sich zunehmend zu einer tiefen Überzeugung im Sinne der Neurodiversität (vgl. Theunissen/Paetz 2011, S. 38). Den Begriff prägte Harvey Blume bereits vor über 20 Jahren, wobei die Bezeichnung „neurodiversity“ selbst auf Judy Singer (australische Autistin) zurückgeht. 1998 erschien ihre bahnbrechende sozio-logische Arbeit, in der sie die Entstehung einer neuen Kategorie für Behinderungen be-schrieb, die jedoch noch keinen Namen hatte (vgl. Singer 2017, S. 9 ff.). Blume hat im selben Jahr einen Artikel in dem Magazin „The Atlantic“ veröffentlicht, indem er eben diesen Begriff der Neurodiversität verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass dieser für die Menschheit genauso entscheidend ist, wie die biologische Vielfalt für das Leben im Allgemeinen. Er berichtet über den Internetauftritt des „Institute For The Study oft the Neurologically Typical“, welches eine Parodie auf die vielen Institute und Zeitschriften ist, die sich dem Studium von Autismus widmen. Die Webmasterin der Internetseite und selbst Autistin hat diese Seite ins Leben gerufen, um ihrer autistischen Wut Ausdruck zu verleihen. Sie definiert im Gegenzug zu den vielen Beschreibungen über Autismus das

„Neurotypische Syndrom“ folgendermaßen:

"Das neurotypische Syndrom ist eine neurobiologische Störung, gekennzeichnet durch die Beschäftigung mit sozialen Belangen, Wahnvorstellungen von Überlegenheit und Besessenheit von Konformität" (vgl. Blume 1998, o. S.).

Damit macht sie einmal mehr deutlich, dass kein Mensch das Recht hat, sich oder andere Gruppieren als der Norm entsprechend zu bezeichnen, da es diese laut Blume auch nicht gibt. Diese Haltung ist auch für die Autorin dieser Arbeit das Fundament und der ent-scheidendste bzw. bedeutungsvollste Faktor in der Zusammenarbeit mit Menschen im Autismus-Spektrum. Einstimmig mit Theunissen und Paetz muss man sich die Frage stel-len, ob eine neurologische Normalität überhaupt existiert und wenn ja, wie würde man diese definieren.

„Das Grundverständnis von Neurodiversität gebietet statt einer Orientierung an Kon-formität eine Wertschätzung der Diversität, welche darin ihren Ausdruck findet, dass nicht erwartet wird, dass alle Personen in die gleiche Schablone Mensch passen müssen“

(Theunissen/Paetz 2011, S. 41).

Für eine neurodiverse Gesellschaft hieße das nicht nur Inklusion, sondern, wie es auch in der UN-Konvention festgeschrieben steht, eine gleichwertige Behandlung aller Bevölke-rungsgruppen (ebd. S. 41).

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Laut der „Autistic Self Advocacy Network“ (ASAN), einer Selbstvertreter*innenorgani-sation, welche für und mit Autist*innen gegründet wurde, ist Autismus „[…] ein erbauli-cher und bedeutungsvoller Bestandteil der Identität einer Person und definiert die Art und Weise, wie ein Individuum die Welt um sich herum erlebt und versteht“ (ASAN 2019, o. S.). Im deutschsprachigen Raum vertritt der Interessenvertretungsverein „Aspies e. V.“

ebenfalls diese Haltung und grenzt sich bewusst von defizitorientierten Definitionen ab bzw. verwendet den Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS) ohne den Wortteil

„Störung“, als „Autismus-Spektrum“ (AS). 2008 hat der Verein in der Mitgliederver-sammlung Ziele definiert, welche mit den folgenden drei Leitsätzen eingeleitet werden (vgl. Müller 2015, S. 15):

„Autismus ist keine Krankheit!

Ob er für einen Menschen eine Behinderung darstellt, hängt nicht nur davon ab, welche individuellen Fähigkeiten und Schwächen er oder sie konkret hat, sondern auch davon, unter welchen Umständen dieser Mensch lebt. Behindert wird man immer ‚bei etwas‘

und ‚durch etwas‘, AutistInnen z.B. häufig durch zu viel Lärm und Parallelanforderun-gen am Arbeitsplatz. Fähigkeiten und Schwächen sind bei autistischen Menschen meist extremer ausgeprägt als bei NichtautistInnen. Wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird. Selbstvertrauen und Lebensperspektiven finden wir über unsere persönlichen Stärken. Wir möchten gefördert werden und nicht bekämpft.

Autismus ist vielfältig!

Es ist ein weites Spektrum von Menschen mit einem ‚leichten‘ Autismus bis hin zu ‚sehr stark‘ autistischen Menschen, die Reize nicht genügend filtern und sortieren können, um viel über die Welt zu lernen. Was viele nicht wissen: Leichte Formen von Autismus sind sehr viel häufiger als extreme Ausprägungen. Die Übergänge in diesem Spektrum sind fließend und Menschen entwickeln sich manchmal anders, als Fachleute es in ihrer Kindheit vorhergesagt haben. Aspies e.V. ist eine Selbsthilfeorganisation für alle Men-schen im Autismusspektrum.

Autismus ist Bestandteil unserer Persönlichkeiten!

Wir haben ein Recht darauf, als Menschen genauso akzeptiert zu werden wie andere Leute auch. Autismus kann man weder wegoperieren noch mit Medikamenten ‚heilen‘.

Das Gehirn eines Menschen lässt sich nicht von seiner Persönlichkeit trennen. Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen, zu pathologisieren, empfinden wir als Diskri-minierung. Das ‚Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit‘ gilt auch für uns und umfasst nicht nur die reine Existenz, sondern auch das Recht, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und zu entfalten. Wir sehen autistische Menschen als Bestandteil gesun-der neurologischer Vielfalt“ (aspies e. V. 2019, o. S.).

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Um diese Sichtweise möglichst nachvollziehen und Menschen im Autismus-Spektrum besser verstehen, annehmen und unterstützen zu können, hat Theunissen eine funktionale Betrachtung autistischer Verhaltensmuster zusammengestellt, welche sich von den her-kömmlichen Beschreibungen deutlich abhebt und vor allem wohlwollend formuliert ist.

Diese soll im Folgenden kurz dargestellt werden:

- „Unterschiedliche sensorische Erfahrungen

- Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster - Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung

- Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird - Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen

Per-sonen zu interagieren“ (Theunissen 2014, S. 31 ff.).

Die vorangegangen Beschreibungen von Autismus als „Seins-Form“ sind im Kontext von Neurodiversität in allgemeiner Form, auch rechtlich verankert und die dafür geltenden gesetzlichen Grundlagen sollen im folgenden Kapitel erläutert werden.