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II. HISTORISCH-THEORETISCHER TEIL

II.4.4 VERSUCH EINER ZUSAMMENFASSUNG

Dass es ihr eher feuilletonistischer Charakter ist, der die Rundfragen von den lehrbuchtaugli-chen Befragungstechniken der empirislehrbuchtaugli-chen Sozialwissenschaft unterscheidet, dürfte klar ge-worden sein. Genau dieser Unwissenschaftlichkeit aber verdankt sie, so paradox es klingen mag, ihre wissenschaftliche Attraktivität. Was bei der Analyse der Einzeltexte präsent bleiben sollte, ist die Arbeitsteilung zwischen Fragestellern und -interpreten: Die Aufgabe der Redak-tion beschränkte sich darauf, die Ausgangsfrage zu formulieren und die PublikaRedak-tion der Ant-wortschreiben zu veranlassen, deren Auswertung blieb jedoch dem Leser überlassen. In der Umfrageforschung ist dieses Rollensplitting ein eher randständisches Phänomen, die meisten Evaluationen sind zweckgebunden, entsprechend obliegt den Fragestellern auch die Interpre-tation des Rücklaufs. Dass sie außerhalb des Kreises ihrer Auftraggeber nur selten auf größe-res Integröße-resse stoßen, dürfte ihren oftmals partikularwissenschaftlichen Qualitäten anzulasten sein, die Rundfrage hingegen ist ein Textgenre der Zeitungspublizistik, die gesellschaftliche Relevanz ihrer Gegenstände also schon allein redaktionspolitisch eine pure Selbstverständ-lichkeit.87

Die Redaktionen selbst haben die Rolle des Dateninterpreten, des Hauptakteurs der dritten Phase der Demoskopie (vgl. Noelle-Neumann: 623), also niemals angestrebt. Unabhängig davon, ob sie sich von den Namen der rundbefragten Kulturprominenz eine Auflagesteige-rung versprachen oder aber tatsächlich an die bürgerliche Kaffeehaus- und Salonkultur an-knüpfen wollten, wissenschaftlicher Natur waren ihre Motive nicht. Der Part des Interpreten blieb dem Leser überlassen. Über die Erkenntnisse, zu denen er bei einer halbwegs regelmä-ßigen Lektüre der rundfragenbestückten Tagespresse kam, lässt sich heute natürlich nur noch spekulieren. Was die vorliegende Arbeit leisten kann, ist eine kontextbezogene, qualitative Analyse des Rundfragenmaterials, was ihr dabei nicht mehr abverlangt zu werden braucht, ist die bei Noelle-Neumann auf die Datenauswertung noch draufgesattelte Geschichtsprognostik – die Zukunft hat für die Weimarer Republik längst stattgefunden.88

87 Natürlich hat die Umfrageforschung neben der sozialwissenschaftlichen und der gesellschaftsöffentlichen auch eine dezidiert politische Dimension. Ein Interesse an den Stimmungs- und Meinungsbildern eines Volks gebe es, so Jacob/Eirmbter, in allen politischen Systemen. Kennzeichen des demokratischen allerdings sei es, dass „sowohl die Methodik der Datenerhebung als auch die Ergebnisse frei zugänglich [sind] und die Beantwortung der Fragen zudem für die Teilnehmer sozial wie auch rechtlich folgenlos“

(Jacob/Eirmbter: 29) bleibe.

88 Gefragt ist statt des Prognostikers allenfalls eine Art Beobachter zweiten Grades, der das Rundfragenmaterial auch daraufhin sichtet, in welchem Maße die beteiligten Intellektuellen die sich um das Jahr 1930 verschärfende gesamtstaatliche Krise reflektiert und Lösungsvisionen entwickelt haben.

II.5 Aufgeklärtes Räsonnement. Zu Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“

Zwei Prozesse waren es, die die Rundfragen mit der Ausleuchtung des facettenreichen öf-fentlichen Lebens zu beschleunigen die Absicht gehabt haben dürften: Die Popularisierung von Literatur, Theater und Film sowie von Wissenschaft und Politik zum einen, eine Steige-rung der sozialen Akzeptanz „geisteshandwerklicher“ Fertigkeiten wie Reflexion, ErörteSteige-rung und Kritik sowie des Feuilletons als deren Exerzierplatz zum anderen. Die Rundfragen auf-grund ihrer Themenschwerpunkte und Kommunikationsstrategien in eine aufgeklärte Traditi-on einzuordnen, ist sicher kein allzu gewagter Ansatz. Dass die Werte der Aufklärung in den Jahren nach 1933 relativ schnell dem Fetisch einer totalitären und unverhohlen irrationalen Ideologie geopfert wurden, heißt freilich nicht, dass man die Rundfragen der Weimarer Presse als gescheitertes Projekt und damit als politgeschichtliche Quantité négligeable deklassieren kann. Ohne den historischen Kontext freilich wäre sie in ihrer Gänze kaum mehr als kultivier-tes Palaver; eine adäquate geschichtswissenschaftliche Würdigung verdienen sie also vor al-lem deshalb, weil sie in die Jahre des Aufbaus einer dem Anspruch nach langlebigen und funktionstüchtigen parlamentarischen Demokratie und damit in eine Zeit von epochaler Be-deutung fielen.

Dass die Rundfragen einen Beitrag zur Vitalisierung einer aufgeklärten, kritischen Öffent-lichkeit leisteten, ist zunächst nicht mehr als eine Hypothese. Bei ihrer historisch-theoretischen Absicherung will die vorliegende Arbeit auf ein Schlüsselwerk der Sozialphilo-sophie des 20. Jahrhunderts zurückgreifen: auf „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, die Habi-litationsschrift von Jürgen Habermas. Gelegt hat sie, wie der Autor rückblickend zu Protokoll gab, einen Grundstein für die Bestimmung des „Verhältnis[ses] von Demokratie und Kapita-lismus“ (Horster: 106) und damit für die Beantwortung einer Kernfrage seines Gesamtwerks überhaupt.89 Als sich ihr Autor in den ausgehenden 1950er Jahren an die Niederschrift mach-te, tat er es nach eigenem Bekunden mit der Absicht einer akademisch adäquaten Würdigung der historischen Entwicklung der Bundesrepublik innerhalb des ersten Jahrzehnts ihrer Exis-tenz. Zumal im direkten Vergleich mit dem im Sommer 1919 aus der Taufe gehobenen Staat war diese Entwicklung enorm; trotz einer politisch wie auch moralisch weitaus schwierigeren Vorgeschichte schien die Idee der parlamentarischen Demokratie im westdeutschen Teilstaat auf einen ausgenommen fruchtbaren Boden gefallen zu sein. Zu Papier gebracht habe er sein Buch, so Habermas in einem Bilanzinterview drei Jahrzehnte nach Gründung der Bundesre-publik, in der festen Überzeugung, „dass der bürgerliche Verfassungsstaat in seiner

französi-schen oder amerikanifranzösi-schen Ausprägung eine historische Errungenschaft“ (101) sei. Ausdrück-lich würdigt er selbst das „kapitalistische Gesellschaftssystem“: Es sei „relativ stabil, und das nicht nur ökonomisch“, es garantiere nämlich „nicht nur einen relativ konfliktfreien Modus des Zusammenlebens“, sondern habe darüber hinaus „politische Freiheiten institutionalisiert, die aus der historischen Perspektive [...] bejaht werden müssen.“ (106) Völlig frei von lakri-mosen Zwischentönen ist dieses Hohelied freilich nicht. Geschrieben habe er den „Struktur-wandel“ nämlich auch, um sich „selbst klar zu werden über die Schattenseiten und Fehler unseres politischen Systems“ (105). Einer dieser der diskussionsgenerierten Öffentlichkeit das überlebensnotwendige Licht raubenden Faktoren ist das in einer bestimmten Phase der Ge-schichte an Bedeutung gewinnende kapitalistische Eigentumskonzept. In dieser Erkenntnis steckt zweifelsohne ein Dilemma, schließlich stellten die materiellen Segnungen des in den 1920er Jahren noch ausgebliebenen Wirtschaftswunders einen ganz erheblichen Grund dafür dar, dass eine seinerzeit noch militant bekämpften Staats- und Gesellschaftsphilosophie drei Jahrzehnte später eine starke sozialintegrative Akzeptanz gewinnen konnte.90

Für die vorliegende Arbeit interessant ist der „Strukturwandel“ vor allem deshalb, weil er seine Aufmerksamkeit bei der Suche nach dem Ferment der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit auf die in Presse, französischem Salon oder deutscher gelehrter Tischgesell-schaft institutionalisierte Diskussion über Literatur, Kunst und Kultur richtet. Die seit alters an die Zuschreibung einer bloß dekorativen Funktion gewöhnten Gegenständen der Ästhetik finden sich damit plötzlich in der Rolle eines Ferments der Geschichte wieder. Natürlich ist die Entstehungs- und Wandlungsgeschichte der Öffentlichkeit hochkomplex. Der Grundidee des „Strukturwandels“ zufolge konstituiert sie sich als gesellschaftlicher Gegenpol zu den politischen Institutionen des feudalistischen Staatswesens. Ihre einzige Waffe ist die verstan-desgesteuerte und argumentationsgrundierte Diskussion – sie ist es, der die Öffentlichkeit ihr rasches Avancement zu einem herrschaftskontrollierenden, aber auch herrschaftslegitimieren-den Faktor der Alltagspolitik verdankt. Eine für die Autonomie des Verlaufs und die Objekti-vität der Ergebnisse der Einzeldiskussionen notwendige Bedingung ist die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft, aber auch der gesamtpolitischen von der privaten Lebenssphäre.

Über diese Konstellation aber war die wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung der Neuzeit bald wieder hinweggegangen, die Transformation der Öffentlichkeit nämlich vollzog sich in dem

89 Die nachfolgenden Zitate stammen aus einem in „Habermas zur Einführung“ aufgenommenen Gespräch mit dessen Autor Detlef Horster und Willem van Reijen geführten Interview aus dem Jahr 1979.

90 Habermas selbst bezeichnet sich in diesem Gespräch als „Produkt der ‚reeducation’“ (Horster: 101). Er habe nach dem Krieg gelernt, „dass der bürgerliche Verfassungs-staat in seiner französischen oder amerikanischen Ausprägung eine historische Errungenschaft ist.“ Das sei „ein wichtiger biographischer Unterschied zu denen, die miterlebt

Moment, in dem sich die im Rahmen einer coram publico geführten Diskussion ausgetausch-ten Argumente immer weniger auf den Verstand und immer stärker auf das individuelle öko-nomische Interesse der Beteiligten stützten. In der Epoche eines dominanter werdenden kapi-talistischen Eigentumsbegriffs habe sie bald nur noch ein Feld markiert, „in dem Interessenskonkurrenz ausgetragen“ und Publizität „zur Erlangung von Zustimmung und Prestige“ (Horster: 13) eingesetzt worden sei.

Zum „Strukturwandel“ selbst. Einen wichtigen Pflock schlägt Habermas bereits im Vorwort ein: Er unterscheidet zwischen zwei Typen von Öffentlichkeit, zwischen der liberalen und der plebejischen, und kündigt eine Fokussierung allein der erstgenannten an.91 Bemerkenswert ist die soziologische Fundierung dieses Zweierschemas. Das Subjekt des liberalen Typs sind Habermas zufolge die „’gebildeten Stände’“ (Habermas 1974: 8), dasjenige des plebejischen hingegen das „ungebildete ‚Volk’“ (ebd.). In einer alternativen Formulierung: Die liberale ist eine literarisch geschulte Öffentlichkeit, in ihr organisiert ist ein „Publikum[] räsonierender Privatleute“ (ebd.), die plebejische indes hat mit den Prädikaten der Post- bzw. Illiterarizität zu leben. Eine Öffentlichkeit kannten bereits das ausgehende Mittelalter und die anbrechende Neuzeit, eine rein repräsentative, der traditionellen politischen Eliten vorbehaltene allerdings.

(vgl. 19 ff.) Von ihrer staatlich sanktionierten Ausdehnung auch auf die Masse des Volkes konnte seinerzeit noch keine Rede sein, es hatte sich die öffentliche Aufmerksamkeit und mit ihr den politischen Raum erst noch zu erkämpften.92

Den Anfang dazu machten die bürgerlichen Schichten. Die sahen ihre ureigene politische Aufgabe in der „Regelung der Zivilsozietät“ (70). Angetrieben wurden sie dabei von einer schichtenspezifischen Lebenserfahrung, der zufolge sich die Anwendung der Prinzipien der Humanität nicht dauerhaft auf den Bereich ihrer Genese, die „kleinfamiliale[] Intimität“ (69), beschränken lasse. Mit der Forderung nach einer Politisierung dieser Prinzipien boten sie der etablierten monarchischen Autorität die Stirn; das in der Arkanpraxis seinen zeitgenössischen Ausdruck findende Herrschaftsmonopol der traditionellen Eliten geriet plötzlich unter akuten Legitimationsdruck.93 Die neue, bürgerliche Öffentlichkeit also destillierte den moralischen Gehalt der eigenen Lebenserfahrungen und focht für seine Akzeptanz als allgemeines Gesetz – sie hatte damit „privaten und polemischen Charakter“ (70) zugleich. Ohne Auswirkungen

haben, wozu eine halbherzige bürgerliche Republik, wie die Weimarer Republik, führen kann und denjenigen, die ihr politisches Bewusstsein erst später gebildet haben.“

(ebd.)

91 Die Symbolfigur des Versuchs, den Öffentlichkeitsbegriff von seinen humanistisch-bildungsbürgerlichen Implikationen zu befreien und damit auch für die plebejische Schichte attraktiv zu machen, war Robespierre.

92 Bis 1806, dem Jahr der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation, verkörperten die auf den Reichstagen versammelten Fürsten nur sich selbst (vgl.

Habermas 1974: 20)

auf die von ihr betriebene legislative Neujustierung der Gesamtgesellschaft konnte das natür-lich nicht bleiben. Das Gesetzeswerk, für das sie eintrat, sollte ihr spezifisches sozialge-schichtliches Selbstverständnis reflektieren: Nicht allein, dass es an den normativen Grundsätzen Generalität und Abstraktheit orientiert sein sollte, es sollte überdies die öffentli-che Meinung als einzige Quelle seiner Legitimität akzeptieren (vgl. 72). Dauerhaft verweigert hat die Geschichte diesem Ansinnen die Erfolgskrönung nicht. Ihren Durchbruch erleben soll-te die bürgerliche Öffentlichkeit als Organisationsprinzip des parlamentarischen Rechtsstaa-tes.

Das an der Schwelle zur Neuzeit stehende Europa war ein Kontinent der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Folglich waren auch die sozialen Transformationsprozesse seiner Einzel-staaten einem individuellen Zeitmaß unterworfen. Konkret ablesen lässt sich dieses Entwick-lungsgefälle an der Geschichte derjenigen Institutionen, die Habermas als Keimzellen der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit beschreibt. In England waren es die Kaffeehäuser „in ihrer Blütezeit zwischen 1680 und 1730“, in Frankreich die Salons „in der Zeit zwischen Regent-schaft und Revolution“ (48), in Deutschland schließlich die aus den alten Sprachgesellschaf-ten des 17. Jahrhunderts hervorgegangenen gelehrSprachgesellschaf-ten TischgesellschafSprachgesellschaf-ten. Dass diese ihren westeuropäischen Pendants hinsichtlich ihres politischen Einflusspotentials deutlich unterle-gen waren, wird angesichts der Rückständigkeit des damaliunterle-gen Deutschland kaum weiter verwundern. Trotzdem gibt es zahlreiche sozial- und geistesgeschichtlich bemerkenswerte Analogien. Alle drei, Kaffeehaus, Salon und Tischgesellschaft, profitieren in erheblichem Maße von den Urbanisierungserfolgen ihrer Zeit, keine dieser Einrichtungen wäre ohne den mentalen Humus, wie ihn die Lebenskultur der stadttypischen bürgerlichen Schicht bedeutete, mittelfristig überlebensfähig gewesen. Alle drei entwickeln, auch wenn sie die Pflege eines bürgerlichen Selbstbewusstseins darüber nie völlig vergaßen, zunächst eine schichtenüber-greifende, die Angehörigen des Adelsstandes keineswegs stigmatisierende Corporate Identity – sie bilden die ersten Foren, auf denen „die ‚Intelligenz’ mit der Aristokratie“ (ebd.) unter weitgehender Ausblendung der Standesunterschiede zusammentrifft. Und schließlich haben alle drei, parallel zur eigenen sukzessiven gesellschaftlichen Bedeutungsaufwertung, eine Po-litisierung der ursprünglich aus den Teilbereichen der schönen Künste rekrutierten Diskussi-onsgegenstände zu verzeichnen – das Räsonnement, das sich lange Zeit ausschließlich an Werken der Kunst und Literatur entzünde, habe sich bald, zunächst in England, dann aber

93 Der Begriff der Arkanpraxis bzw. der Staatsarkana geht auf Macchiavellis arcana imperii zurück, einer Katalogisierung von Geheimmaßnahmen, mit deren Hilfe die Herrschaft des Fürsten über das Volks konserviert werden sollte. (vgl. 70)

auch in Frankreich und Deutschland, auch auf „ökonomische und politische Dispute“ (ebd.) erstreckt.94

Ein genauerer Blick noch auf den Sonderweg der deutschen Tischgesellschaften. Als deren Prototyp kann Gottscheds „Deutschen Gesellschaft in Leipzig“ betrachtet werden.95 Illustrie-ren lässt sich anhand ihrer Vorgeschichte, wie schleppend sich die Bedeutungsbeschneidung der höfischen durch eine bürgerlich-urbane Kultur in Deutschland im direkten Vergleich mit England und Frankreich vollzog. Die bereits angesprochenen Sprachgesellschaften des voran-gegangenen Jahrhunderts nämlich verdankten ihre Existenz noch der Initiative der Fürsten.

Immerhin spielte die Standeszugehörigkeit bei der Berufung ihrer Mitglieder keine nennens-werte Rolle mehr. Ins Bewusstsein geraten war der damaligen Zeit die sozial, kulturell, aber auch politisch identitätsstiftende Bedeutung der eigenen Muttersprache, der ungeachtet der Lutherschen Bibelübersetzung fortbestehende orthographische, dialektale und stilistische Va-riantenreichtum des Deutschen schien dessen Tauglichkeit als bindungschaffendes „Medium der Verständigung zwischen Mensch und Mensch“ (50) gehörig zu konterkarieren. Dass der Erfolg eines Großprojektes, wie es die Homogenisierung einer lebenden Sprache bedeutet, andere Qualitäten als eine blaublütige Provenienz allein verlangte, dessen war man sich auf Seiten des Adels durchaus bewusst.96 Die gelehrten Tischgesellschaften des Folgejahrhunderts wiederum seien, so Habermas, vor allem von „Privatleuten, die produktive Arbeit tun“, fre-quentiert worden, nämlich von „der städtischen Ehrbarkeit der fürstlichen Residenz“ (ebd.), einem vorrangig aus Angehörigen des akademisch geschulten Bürgertums bestehenden Sozi-almilieu. Die unter den Teilnehmern darüber hinaus noch bestehenden gesellschaftlichen und ökonomischen Unterschiede wurden, ähnlich wie in Kaffeehaus und Salon, während des ei-gentlichen Gedankenaustauschs bedeutungslos. Die Tischgesellschaften boten, genauso wie die Kaffeehäuser und Salons, einer „der Tendenz nach permanente[n] Diskussion unter Pri-vatleuten“ (52) einen institutionellen Rahmen. Hier galt die Autorität des Arguments deutlich

94 In extenso beschäftigt sich Habermas mit den „Institutionen der Öffentlichkeit“ in § 5 des „Strukturwandels“. Schon das Frankreich des 17. Jahrhunderts verstand unter dem Substantiv „[l]e public“ die Summe der „lecteurs, spectateurs, auditeurs“, der „Adressaten, Konsumenten und Kritiker der Kunst und Literatur“ (46), reservierte es allerdings zunächst noch für die Angehörigen des Hofs, des städtischen Adels sowie der bürgerlichen Oberschicht. Der französische Salon verdankt seine Entstehung einer lokalpolitischen Entscheidung Philipps von Orléans, nämlich der Verlegung der königlichen Residenz von Versailles nach Paris. Sozialgeschichtlich kam dieser Ortswechsel einem Erdbeben gleich. Durch ihn „verliert der Hof die zentrale Stellung in der Öffentlichkeit, ja seine Stellung als Öffentlichkeit. [...] Das großartige Zeremoniell weicht fast bürgerlicher Intimität.“ (46 f.)

In England musste sich die städtische nicht erst von der höfischen Kultur emanzipieren. Mit der Revolution hatte der Königshof die Bedeutung verloren, die er in Frankreich noch ein Jahrhundert bewahren sollte. In London gab es bereits im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts über 3000 Kaffeehäuser. Seine Stammgäste rekrutierten sich aus Großbürgern und Adeligen. Anders als ihr französisches Pendant verfügte die englische Aristokratie noch über eine gesellschaftliche Funktion. Daher konnten Gegenstände aus Ökonomie und Politik hier schneller zu Gegenständen des Disputs avancieren. (vgl. 47 ff.)

95 Gottsched hatte die 1677 in Leipzig gegründete „Deutschübende Poetische Gesellschaft“ 1727 übernommen und in „Deutsche Gesellschaft“ umbenannt. Zu organisieren versuchte er sie nach dem Muster der Académie française.

96 Die Sprachgesellschaften entstanden in Opposition zur Alamodenliteratur und grobianischen Dichtung. Ihr Ziel war es, die deutsche Sprache von Fremd- und Dialektein-flüssen zu befreien. Die Mitglieder wurden nach Verdiensten ausgewählt und erhielten, um die Standesunterschiede zu eskamotieren, ein Pseudonym. Den Kontakt

unterein-mehr als die standes- oder auch berufsbedingte Ausstattung mit Privilegien – vor der Vernunft waren alle Diskutanten gleich.

Ihre ersten Testläufe also bestand die liberale, diskutierende Öffentlichkeit dank einer rigoro-sen thematischen Fixierung auf die Literatur. Dass Privatleute ihre intellektuell-argumentativen Fertigkeiten an Gegenständen aus dem Arsenal der Ästhetik erprobten, war historisch gesehen keineswegs selbstverständlich, es kam, im Gegenteil, einem kulturge-schichtlichen Paradigmenwechsel gleich. Indem nämlich der Bedeutungsgehalt von Werken der Dichtung, der bildenden Kunst und der Musik zum Objekt des Räsonnements einer Ver-sammlung von Privatleuten wird, sind sie einer in den Zement mehrerer Jahrhunderte gegos-senen Deutungshoheit von Kirche und Staat entrissen und damit ihrer angestammten Funktion einer bloßen gesellschaftlichen Repräsentation entbunden (vgl. 52 ff.). Die Begegnung mit der Kunst steht nunmehr, statt unter dem Vorzeichen einer sozialisationsgenerierten obrigkeitshö-rigen bzw. religiösen Ehrfurcht, unter dem des Verstandesgebrauchs. In dem Moment aber, in dem sie ihre Rückbindung an eine herrschaftsdynastische oder auch sakrale Transzendenz verloren und damit die Aura der Invulnerabilität eingebüßt hat, bietet sie der subjektiven Wahrnehmung ihres Publikums eine offene Flanke – die Kunst avanciert zum Gegenstand von Geschmacksurteilen. Damit aber erlernt auch die Kunstkritik das Laufen.

Denen, die Gebrauch von ihr machen, bietet sie alsbald eine attraktive Möglichkeit, die eige-ne intellektuelle Mündigkeit unter Beweis zu stellen. Eieige-ne Galionsfigur findet die Nutzbarma-chung der Vernunft für die Interpretation von Werken der Kunst in der neuen Profession des

„Kunstrichters“. Seine Autorität verdankt auch er ausschließlich der intellektuellen Präzision, mit der er argumentiert, nicht aber dem trügerischen Hochglanz eines geerbten Adelsprädi-kats. Geschuldet ist seinen Argumenten auch, dass ihn die Gemeinde räsonierender Privatleu-te nicht nur als ihren höchsPrivatleu-ten Repräsentant, sondern darüber hinaus als ihren obersPrivatleu-ten Päda-gogen betrachtet. Unabhängig davon, ob man Habermas’ ökonomistischer These folgt und die Charakterisierung des profanisierten Kunstwerks als Ware akzeptiert (vgl. 52 ff.) – entschei-dend ist, dass seine Lösung aus dem Kontext des staatlichen und kirchlichen Definitionspa-ternalismus einen Spielraum geschaffen hat, den eine bürgerlich-liberale Öffentlichkeit für ihre Argumentationsexerzitien und damit für die Einübung einer elementaren Fertigkeit der parlamentarisch-demokratischen Meinungsbildung zu nutzen wusste. Habermas würdigt den historischen Beitrag des Räsonnements über den Gegenstand Literatur wie folgt:

ander pflegte man noch vorwiegend auf den Wegen des Briefverkehrs. Die erste deutsche Sprachgesellschaft war die 1617 in Weimar durch Ludwig von Anhalt-Köthen gegründete „Fruchtbringende Gesellschaft“ mit in Spitzenzeiten über 500 Mitgliedern.

„Der Prozess, in dem die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit vom Publikum der rä-sonierenden Privatleute angeeignet und als eine Sphäre der Kritik an der öffentlichen Gewalt e-tabliert wird, vollzieht sich als Umfunktionierung der schon mit Einrichtungen des Publikums und Plattformen der Diskussion ausgestatteten literarischen Öffentlichkeit. Durch diese vermit-telt, geht der Erfahrungszusammenhang der publikumsbezogenen Privatheit auch in die politi-sche Öffentlichkeit ein.“ (69)

Seinen Ausgang nahm auch dieser Prozess nicht in Deutschland, sondern in England; dort erkannte man die Notwendigkeit, den Urteilen der Kunstrichter ein größeres Publikum zu verschaffen, zuerst. Es war die Presse, die diesem Ansinnen aufgrund ihrer distributiven Mög-lichkeiten eine realistische Erfolgsperspektive zu geben schien. Natürlich war der Prozess ihrer Adaption durch die Öffentlichkeit auch in Deutschland ein höchst komplexer. Die staat-liche Verwaltung hatte die Gesellschaft durch den Aufbau eines Pressewesens längst „zu einer

Seinen Ausgang nahm auch dieser Prozess nicht in Deutschland, sondern in England; dort erkannte man die Notwendigkeit, den Urteilen der Kunstrichter ein größeres Publikum zu verschaffen, zuerst. Es war die Presse, die diesem Ansinnen aufgrund ihrer distributiven Mög-lichkeiten eine realistische Erfolgsperspektive zu geben schien. Natürlich war der Prozess ihrer Adaption durch die Öffentlichkeit auch in Deutschland ein höchst komplexer. Die staat-liche Verwaltung hatte die Gesellschaft durch den Aufbau eines Pressewesens längst „zu einer