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II. HISTORISCH-THEORETISCHER TEIL

II.4.3 ENTWICKLUNG VON MAßSTÄBEN

Die Quantifizierung der erhobenen Daten hat Noelle-Neumann als den zweiten Arbeitsschritt der Demoskopie bezeichnet. Unverzichtbar ist die Verständigung auf ein bestimmtes Verfah-ren der Datenanalyse zweifellos. Fallen kann die Entscheidung dabei allerdings genauso gut zugunsten eines qualitativen. Eine Beschreibung der Essentials beider Ansätze findet sich bei Scholl. Er geht bei der Terminologisierung noch einen Schritt weiter als die meisten seiner Fachkollegen und unterscheidet zwischen quantitativ-standardisierten und qualitativ-offenen Verfahren der Datenauswertung. (25 ff.)

Die quantitativ-standardisierten bewegen sich vornehmlich auf den Pfaden von Theorie und Deduktion, ihr Ziel ist es, bestimmte Phänomene „über Häufigkeitsverteilungen“ (27) zu be-schreiben bzw. bestimmte Hypothesen „über Häufigkeitsvergleiche“ (ebd.) zu überprüfen.

Ihre Aufgabe besteht folglich darin, eine Grundlage für die Vergleichbarkeit der Untersu-chungsgegenstände zu schaffen. Dazu gehören einheitliche Fragebögen genauso wie ein mög-lichst neutraler situativer Rahmen der Befragung selbst. Um einer gesellschaftlichen Reprä-sentativität der Ergebnisse willen bleibt die Auswahl der Befragten entweder einer bestimmten Quotenvorgabe oder aber gleich ganz dem Zufall überlassen (vgl. 26). Die quali-tativ-offenen Verfahren hingegen operieren eher induktiv und empiriegeleitet. Ihr Ziel ist es, die „maximale Variation und Heterogenität“ (28) der forschungsrelevanten Merkmale des entsprechenden Betrachtungsgegenstands zu erfassen. Ihre Aufgabe besteht folglich darin, dieser Variabilität und Heterogenität den nötigen Entfaltungsspielraum zu erschließen. Ge-schehen kann das beispielsweise auf der Basis eines individuellen Fragebogens. Dem Zufall wird bei alldem natürlich nichts überlassen; die Teilnehmer werden ganz „bewusst und in Abhängigkeit von der theoretischen Fragestellung ausgesucht“ und damit regelrecht in die

„Rolle des Auskunftsgebers“ (ebd.) gedrängt. Für die historische Bewertung der Rundfragen von kardinaler Bedeutung ist sicher auch die politphilosophische Instrumentalisierbarkeit der beiden Methodenlehren: „Dienen die Ergebnisse standardisierter Forschung eher der sozial-technologischen Veränderung von Gesellschaft, weil der Auftraggeber allein über sie verfügt“

(30), sei mit qualitativer Forschung oft eine emanzipatorische Absicht verbunden. 82

Für Scholl hat der Wettstreit zwischen den Vertretern beider Ansätze um den Ruf der höhe-ren wissenschaftstechnologischen Effizienz eine bestenfalls theoretische Legitimität. Ihn

81 Scholl nennt Lehrer, die über ihre Schüler, und Sozialarbeiter, die über Sozialhilfeempfänger befragt werden. (vgl. 67)

82 Scholl unterscheidet im Falle des qualitativ-offenen Verfahrens zwischen vier Gütekriterien: „Transparenz, Konsistenz und Kohärenz sowie Kommunikabilität“ (28).

Transparenz wird erreicht durch „vollständige Dokumentation der Transkripte vom Interviewgespräch“ (ebd.), Konsistenz bezieht sich auf Auskünfte der Befragten,

Kohä-zutragen gehöre zum „Selbstverständnis der beiden Forschungsphilosophien“ (25), die „For-schungspraxis“ (ebd.) hingegen sehe in aller Regel weit weniger gegensätzlich aus. Zwei Bei-spiele einer solchen Forschungsphilosophie sind die Beiträge von Strauss und Jacob/Eirmbter.

Strauss gehört zu den Apologeten der qualitativen Methodenlehre. Sein Blick geht über den Horizont der Umfrageforschung weit hinaus – ihm geht es um die Attraktivität einer prakti-schen Anwendung qualitativer Verfahren ganz generell.83 Ihre Abgrenzung von den quantita-tiven ist seiner Ansicht nach zunächst das Produkt eines nahezu alle anthropologischen Ein-zelwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg erfassenden Prozesses einer methodologischen Neuorientierung. In der Soziologie wurde es üblich, die im Regelfall mit-tels Umfrage erhobenen Daten statistisch auszuwerten und damit quantitativ zu behandeln, in den eher „differenziert arbeiten[den]“ (Strauss: 26) Wissenschaften hingegen, in der Ethno-graphie beispielsweise, in der klinischen und theoretischen Psychologie, aber auch in be-stimmten Zweigen der Soziologie, habe man die gesammelten Felddaten bevorzugt nach den Maßgaben der qualitativen Methode analysiert. (vgl. ebd.) Qualitativ arbeitende Wissen-schaftler legen in aller Regel „großen Wert auf situative und oft strukturelle Kontexte“, wäh-rend die Analysen quantitativ operiewäh-render Forscher „zwar vielseitig, im Hinblick auf Kontext [sic!] aber oft schwach sind.“ (ebd.) Einer der häufigsten Vorwürfe, mit dem sich die Vertre-ter der qualitativen Sozialforschung konfrontiert sehen, sei der, sie würden „zu schwachen Quervergleichen [neigen], weil sie oft nur einzelne Situationen, Organisationen und Instituti-onen untersuchen.“ (ebd.)84 Im Grunde unterscheiden sich ihre Vorgehensweisen „nicht son-derlich von den pragmatischen Analyseverfahren“, die der „Alltagsmensch[]“ (27) anwende, wenn er über Probleme nachdenke. Für die Auswahl des Forschungsmaterials gilt im Grunde das postmoderne Anything goes.85 Auch die Schlussfolgerungen, die die Analysten ziehen, weichen im Level mitunter stark voneinander ab: Auf den unteren Ebenen „können sie ‚de-skriptiv’ sein, auf den höchsten Ebenen können Theorien allgemeinster Art“ (29) generiert werden.

renz auf die Themen der Befragung, und Kommunikabilität meint, dass das „gemeinsame Aushandeln von Bedeutung“ bei der Dokumentation der Ergebnisse „in Form von Zitaten der Befragten“ (29) sichtbar gemacht wird.

83 Noch präziser ist es die Grounded Theory, der Strauss sein Buch gewidmet hat, eine Richtung innerhalb der qualitativen Sozialforschung, die sich zum Ziel gesetzt hat,

„eine Theorie zu generieren und zu überprüfen.“ (Strauss: 19) Ihr Reiz liegt in ihrer interdisziplinären Verwertbarkeit. In seinem Vorwort hat Bruno Hildenbrand die Groun-ded Theory mit den folgenden vier Schlagworten beschrieben: „der Fall als eigenständige Untersuchungseinheit; soziologische Interpretation als Kunstlehre; Kontinuität von alltagsweltlichem und wissenschaftlichem Denken; Offenheit sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung.“ (11)

84 Ein Blick in die Annalen der Sozialforschung zeigt, dass der Rückstand der qualitativen Methoden den quantitativen gegenüber längst Tradition hat. Die Verbesserung und Standardisierung der quantitativen erfolgte bereits in den 1920er Jahre. Die Vertreter der qualitativen hingegen haben sich für eine Optimierung vor allem der Datenerhe-bung interessiert, des ersten Arbeitsschritts also, nicht aber für die der eigentlichen Analyse. Um diese Rückstand aufzuholen, brauche es „klarer formulierte, zuverlässigere und validere Methoden, als sie gegenwärtig vorhanden sind.“ (28) Die Grounded Theory ist eine Antwort vor allem auf diese Herausforderung. (vgl. 29)

85 Dazu gehört bereits existentes Datenmaterial ebenso wie eigens für einen wissenschaftlich konkreten Zweck generiertes. Zur ersten Klasse gehören neben Memoiren, offizielle und private Briefe und Tagebücher auch Zeitungen. (vgl. 27)

Völlig anders liegen die Dinge bei Jacob/Eirmbter. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht wie-der die Umfrageforschung. Vor die Entscheidung zugunsten einer wie-der beiden Analyseansätze sehen sie sich allerdings nicht mehr gestellt – aus ihrer Warte nämlich ist die Umfragefor-schung als Ganzes ein Zweig der quantitativen SozialforUmfragefor-schung. (vgl. Jacob/Eirmbter: 8) Ausgeblendet haben sie die Stärken der qualitativen Befragungsverfahren dabei keineswegs.

Deren Hauptverdienst bestehe darin, „bestimmte Sachverhalte und Zusammenhänge, be-stimmte Einstellungssyndrome wesentlich detaillierter und tiefgehender zu erforschen, als dies mit quantitativen Befragungen möglich wäre.“ (11) Dabei würden häufig „auch Zusam-menhänge aufgedeckt, die verblüffend oder kontraintuitiv sind und bei quantitativen Befra-gungen so nie aufgefallen wären.“ (ebd.) Zu bedenken geben sie andererseits, dass sich die Vertreter des qualitativen Ansatzes „den Vorteil der inhaltlichen Tiefe und der Nähe zur Le-benswelt ganz konkreter Interviewpartner durch den Nachteil eines Mangels an Reproduzibarkeit, intersubjektiver Überprüfbarkeit und Generalisierbarkeit der Ergebnisse“ (ebd.) er-kaufen würden. Genau um letztere aber geht es der empirischen Soziologie. Ihr Aufgabe liegt in der Beschreibung und Analyse nicht des individuellen Vis-à-vis einer Befragung, sondern gesellschaftlicher Massenphänomene.86 Als verlässlichstes Instrument dafür hat sich die Um-frage erwiesen, sie nämlich legt schon per definitionem die Basis dafür, dass alle relevanten Sachverhalte „unter Verwendung von Zahlen als Variablen bzw. Merkmale behandelt und numerischen Operationen unterworfen werden können.“ (6) Den Kriterien der Reproduzier-, Überprüfbar- und Generalisierbarkeit genügen die auf dieser Grundlage gewonnenen Er-kenntnisse natürlich voll und ganz.

Gänzlich auf die Seite qualitativ arbeitender Sozialforscher kann sich der Analyst des Rund-fragematerials nicht schlagen. Zum einen geht die Ausgangsfrage allen Teilnehmern mit iden-tischem Wortlaut zu – es wäre daher völlig legitim, zumal diejenigen Rundfragen mit hoher Rücklaufquote unter dem Blickwinkel einer statistischen Verwertbarkeit ihrer gedanklichen Substanz zu rezipieren. Darüber hinaus hat die vorliegende Arbeit mit der historischen Ein-ordnung des Sozialmilieus der Rundbefragten längst selbst einen Beitrag zur Quantifizierung ihres Gegenstands geleistet. Dennoch überwiegen in den oben referierten Textpassagen dieje-nigen Stichworte, die den qualitativen Ansatz für die Analyse der Antwortschreiben zu prä-destinieren scheinen, sei es das von der politisch emanzipatorischen Absicht, das von der Be-deutung des situativen und strukturellen Kontextes oder schließlich das von der detaillierteren Erforschung von Einstellungssyndromen.

86 Die „Abstraktion von Individuen“ sei, so die exakte Wortwahl, eine „formale Notwendigkeit“ (Jacob/Eirmbter: 9).