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1.2 „DER GEISTIGE UND DER SPORT“. DER LEIB-SEELE-DUALISMUS IM ZEITALTER DER NEUEN

In ihrer Ausgabe vom ersten Weihnachtstag 1928, dem Jahr der Olympischen Spiele von Amsterdam, wartete die VZ mit einer Rundfrage zum Thema „Der Geistige und der Sport“

(VZ Nr. 608, 2. Beilage, 25. 12. 1928) auf. Was auf den ersten Blick wie ein feiertagstaugli-ches publizistisfeiertagstaugli-ches Divertimento wirkte, sollte sich bei genauerem Hinsehen als Erörterung eines der ältesten Grundprobleme der abendländischen Philosophiegeschichte entpuppen: Es gehe, so die Redaktion in ihrem Vorwort, um die alte Frage, ob „Leib und Seele [wirklich] als Gegenpole“ aufgefasst werden müssen. Vor allem der Trend zur Industrialisierung des Sports war es, der das Verhältnis von Körper und Geist in ein völlig neues Licht gerückt zu haben schien. Dieser Trend hatte eine lange Vorgeschichte. Am Anfang stand die mit dem Namen Friedrich Ludwig Jahn verbundene, im frühen 19. Jahrhundert ins Leben gerufene Turnbewe-gung. Jahn hatte versucht, die Korrelation zwischen physischer und mentaler Ertüchtigung zur

Grundlage der Wehrhaftigkeit des Deutschen im Kampf gegen die napoleonische Besatzung zu stilisieren. Die folgenden Jahrzehnte standen im Zeichen der Vereinsbildung sowie der Verpflichtung des Sports auf ein bestimmtes Regelwerk. Da er die sozialen Unterschiede ni-vellierte und seine Binnenhierarchie nicht mehr am Herkunfts-, sondern am Leistungsprinzip orientierte, wurde er immer mehr auch zu einer Projektionsfläche politischer Visionen. Spä-testen mit den an die antike Tradition anknüpfenden ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen meldete er sich auch auf der Bühne des Weltgeschehens zurück. Trotzdem war der Schulterschluss zwischen dem Geistigen und dem Sport, wie ihn Brechts Bekanntschaft mit dem Boxer Paul Samson-Körner symbolisierte122, auch in den 1920er Jahren so selbstver-ständlich längst noch nicht. Auch die Reaktionen auf die Rundfrage der VZ fielen höchst un-terschiedlich aus: neben eher persönlichen Plaudereien stehen Beiträge von ausgenommen hohem reflektorischen Niveau.

Gerhart Hauptmann hegt starke Sympathien für den Sport – gesetzt den Fall, er wird ama-teurhaft betrieben. Wo er kommerzialisiert oder gar zum Beruf gemacht wird, legt der Autor der „Weber“ sein Veto ein. Unter den Teilnehmern der Enquête hat diese konditionierte Sym-pathie die meisten Anhänger. Zwei Begriffe stehen im Mittelpunkt des Beitrags: der der Nei-gung und der des Spiels. Wer über Identität und Funktion des Sports nachdenkt, wird an bei-den kaum vorbeikommen. Jede sportliche Betätigung ist eine Sache allein der Neigung, Sport zu treiben bedeutet, etwas aus Vergnügen an der Sache selbst, ohne jedes Nebeninteresse, zu machen. Ohne Verrat an der eigenen Bestimmung zu begehen, kann er folglich niemals zum Beruf werden, wo er „Beruf geworden ist, ist er nicht mehr Sport.“ Einem Bereich, der wirt-schaftlichen Erwägungen gegenüber derart indifferent ist wie der Sport, müssen auch die scharfen Trennlinien der Stände- und Klassengesellschaft fremd bleiben – auch aus Haupt-manns Blickwinkel scheint der Sport der Utopie einer sozial egalisierten und weltpolitisch befriedeten Menschheit zumindest eine temporäre und flächenmäßig begrenzte Bühne bieten zu können. Dazu passt eine Szene, deren Zeuge der Wanderer Hauptmann allwöchentlich in seiner schlesischen Heimat wird: Dieselben Menschen, die unter der Woche ihrem Handwerk mit „Dungkarre“ und „Mistgabel“ nachgehen, erleben am Sonntag „im bunten Dress beim Fußballspiel“ einen ephemeren sozialen Aufstieg, aus den „gebückten Knechten“ sind

„selbstbewusste[], schöne[] und fröhliche[] Herrenmenschen geworden“. An dieser Stelle taucht der Begriff des Spiels auf. Schillers „Ästhetischen Briefen“ hatten ihn zu einer

122 Samson-Körner war, als Brecht ihn im Februar 1925 über Emil Burri kennen lernte, amtierender deutscher Schwergewichtsmeister. Brecht plante einen die Kommerzia-lisierung des Boxsports, in den USA schon seit Jahrzehnten ein moderner Profisport, thematisierenden Roman, schrieb dann aber doch nur die Kurzgeschichte „Der Kinnha-ken“ (vgl. Mittenzwei 1986: 235) und den Text „Der Lebenslauf des Samson-Körner“.

pologischen Konstante gekürt. Bei Hauptmann klingt das ähnlich: „Das Kind spielt, wenn es glücklich ist, und wiederum ist es nur glücklich, wenn es spielt.“ Zugleich aber sei das Spiel

„der Ausdruck seines [des Kindes, L.-A. R.] Wachstums an Körper und Geist und dessen Förderung.“ Als Inbegriff des zweckfreien Vergnügens ist das Spiel eine Vorform des Sports:

„Im Sport der Erwachsenen liegt dieses scheinbar zwecklose Kinderspiel, er ist somit im kör-perlichen und seelischen Sinne Verwahrer der Jugend.“

Auch Peter Panter alias Kurt Tucholsky nimmt nicht so sehr am Sport selbst Anstoß, wohl aber an seiner Deformation durch die spezifischen Mechanismen einer modernen Massenge-sellschaft. Bei Hauptmann war es seine zunehmende Professionalisierung, die in den Mittel-punkt der Kritik geraten war, bei Tucholsky, ist es seine Intellektualisierung. Die Euphorie, mit der seine Schriftstellerkollegen den Sport in ihre Stoff-, Motiv- und Figurenrepertoires aufgenommen haben, fügt sich in ein Gesamtbild, dessen Design den Autor schon seit gerau-mer Zeit mit tiefem Unbehagen erfüllt. Gemeint ist die in den mittleren zwanziger Jahren in Mode gekommene Amerikanisierung auch der Weimar-deutschen Alltagskultur. Auch für eine pointierte mentalitätskritische Auseinandersetzung mit einem Trend wie diesem nutzt Tucholsky sein Antwortschreiben.

Eröffnet hat er es mit einer kurzen Referenz: Der Sport als solcher habe, weil er die Städter aus ihren „Steinmauern“ geholt habe, viel Gutes getan. Gelobt wird er aber genauso dafür, ein übertriebenes Schambewusstsein überwinden geholfen und den nackten Körper wieder zu dem gemacht zu haben, „was er eigentlich ist: nämlich ein Wunderwerk der Natur, das man zu pflegen und nicht zu begrinsen hat [...].“ Bei Hauptmann lief der Sport Gefahr, seine Seele zu verlieren, sobald er den Freizeitbereich verließ, bei Tucholsky steht eine eher gefühlsland-schaftliche Grenzlinie im Vordergrund: „Nur der besitzt den Sport, der nicht von ihm beses-sen ist.“ Genau diese Obsession hält er einem Teil seiner Schriftstellerkollegen vor. Ihren Ur-sprung hat die Marotte, aus dem Sport eine Weltanschauung zu machen, jenseits des Atlantiks. Vorbehalten sei sie eigentlich den Snobs, trotzdem aber scheint den Irrtümern einer

„geistesschwachen amerikanischen Überschätzung des Sport“ auch hierzulande ein nicht un-erheblicher Teil der Intellektuellen verfallen zu sein. Unter Hinweis auf ihre Versuche einer Ästhetisierung des Sports quer durch alle künstlerischen Genres zeiht Tucholsky sie einer

„würdelose[n] Bauchkriecherei“. Seiner Ansicht nach verfolgt eine Fetischisierung, wie sie im Falle des Sports betrieben wird, nicht zuletzt eine kompensatorische Absicht. Das Gros der deutschen Intellektuellen aber habe allem Anschein nach noch nicht begriffen, „dass man nur um solche Dinge lärmt, die noch nicht selbstverständlich geworden sind“ – er wolle, so Tu-cholsky voller Süffisanz, einmal sehen, „ob einer von denen seinen Gasbadeofen besingt.“

Dass man sich ausgerechnet an der Lifestyle-Industrie der USA orientiert, ist ein Indiz für die schwindende Integrationskraft der kanonisierten Bestände der hiesigen Kulturgeschichte. Für Tucholsky wird die Diskussion über den sozialen Stellenwert des Sports zum Lackmustest, die alles entscheidende Frage ist die, ob „die amerikanische Geistesrichtung, die zunächst nur ihre Ungeistigkeit exportiert[e]“, stärker sei als die europäische. Er selbst kann sie nur beja-hen. Zumal das „leicht zu irritierende Deutschland“ scheint eine unbeschreibliche, nahezu existenzielle Angst davor zu haben, „nicht ‚up to date’“, nicht durch und durch ein Kind Ame-rikas zu sein. Erst im letzten Absatz greift Tucholsky die Ausgangsfrage noch einmal direkt auf: „Ob Kant die Riesenwelle hat turnen können, bleibt belanglos. Uns aber tut sie gut, und bei gutem Sport empfiehlt es sich, den Mund zu halten.“

Mit Gustav Böß, führender Vertreter der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und ein knappes Jahrzehnt Oberbürgermeister von Berlin, meldet sich die Spitze der hauptstädti-schen Kommunalpolitik zu Wort.123 Böß sieht den Sport vor allem im Lichte einer nachsorge-therapeutischen Zweckbestimmung, sein Verhältnis zum Fragegegenstand ist folglich wei-testgehend ungetrübt. Befreit hätten ihn der Sport und seine Entwicklung zu einer Volksbewegung „im wahren Sinne des Wortes“ von einer schweren seelischen Last, von der Sorge nämlich, dass das deutsche Volk „sich durch die großen Nöte, die es mit bewunderns-werter Geduld ertragen hat und noch erträgt, mehr und mehr körperlich zermürbt würde.“ Die nationale Gesamtperspektive und ein staatstragender Tonfall dürften eingedenk seines berufs-politischen Hintergrunds kaum überraschen. Böß aber antwortet auch aus der Warte eines führenden Kommunalfunktionärs und gibt sich überzeugt, „dass der Sport besonders auch den Beamten und Angestellten körperlichen und nicht zuletzt geistigen Nutzen bringt.“ Das Re-sümee seines Beitrags geht indes noch einen großen Schritt weiter: Es macht den Sport zu einem konstitutiven Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Böß setzt darauf, dass er, der Sport, zahlreiche Multiplikatoren findet, „rechte Erzieher“, die in ihm das sehen, was er wirk-lich sei: „die urquellenden Kräfte, die zur Formung des Menschen unentbehrwirk-lich sind.“

Heinrich Mann hat auf politische und gesellschaftliche Untertöne dieser Art verzichtet. Stär-ker noch als die Beiträge Hauptmanns und Tucholskys gibt der seine die Handschrift des Lite-raten zu erkennen. Der Sport folgt, so der Ansatz, einem eigenen, individuellen Regelwerk.

Darüber, ob man sich ihm unterwirft oder nicht, bestimmen persönlicher Ehrgeiz, aber auch – aus dem Munde Manns sicher eine kleine Überraschung – die göttliche Vorsehung: „Jeder begegnet den Elementen, äußeren wie inneren, auf sein Art. Aus jedem wird, was Gott will.“

Mann selbst ist davon überzeugt, den Leistungsanforderungen des Sports nicht gewachsen zu

sein, er räumt ein, dass er, bei aller Passion für den in früheren Zeiten betriebenen Berg- und Rudersport, eine der notwendigen Erfahrungen des Wettkampfs niemals wirklich zu akzeptie-ren bereit war: die des Verlieakzeptie-rens. Aus einem originär sportlichen Ehrgeiz heraus also hat er die genannten Disziplinen nicht betrieben. Sein eigentlicher Ehrgeiz galt von je her vielmehr der Schriftstellerei, diese aber unterliegt anderen Gesetzen als der sportliche Wettkampf.

Niemals habe er sich beispielsweise gefragt, ob ein eben entworfener Roman eine konkur-renzfähige „Spitzenleistung“ darstelle. Der Schriftsteller ist Manns Auffassung nach gut bera-ten, seinen Ehrgeiz auf die Vervollkommnung seiner Kunst zu richbera-ten, statt sich in der Manier des Hochleistungssports im permanenten Wettstreit mit anderen zu verschleißen. Er, Mann, habe eingesehen, dass derlei schon mit „Sportgeist“ nicht mehr viel zu tun hat.

Vertreten war die große Politik außerdem durch Albert Grzesinski, damals SPD-Innenminister von Preußen.124 Seine Antwort fällt deutlich kritischer aus als die seines libera-len Kollegen. Grzesinski versteht sich als Anwalt des „Volkssports“, wo er unter dem Vorzei-chen einer „ergänzende[n] Leibesübung“ betrieben wird, unterstützt er ihn vorbehaltlos. Für bedenklich hält er es allerdings, dass „weite Kreise“ der Deutschen dazu neigen, „die Erzie-lung von Spitzenleistungen auf sportlichem Gebiet fast für [einen] Selbstzweck zu halten.“

Die Ursachen und Begleiterscheinungen dieser Aufwertung des Elitensports lassen sich dabei kaum noch auseinander halten. Ins Visier geraten Grzesinski die „Rekordsucht“ genauso wie die Entstehung eines Starwesens und der an Missbrauch grenzende Rückgriff auf exponierte sportliche Einzelleistungen bei der Aufpolierung des nationalen Selbstbewusstseins.125 Die Rekordsucht steht im Mittelpunkt der Kritik auch anderer Antwortschreiben, den Aspekt der Heroisierung von Spitzensportlern hat derweil nur Grzesinski aufgegriffen. Anstoß nimmt er zunächst daran, dass die „übertriebene ‚Verehrung’ von Menschen, die auf irgendeinem sport-lichen Gebiet eine Meisterschaft errungen haben“, mit der Bedeutung des Sports für die Volksgesundheit nichts mehr zu tun hätte. Eine Verehrung wie diese nämlich wirkt magneti-sierend und transformiert das „Volk“ von einer Gemeinschaft sportlich Aktiver in eine Masse inaktiver Zuschauer. Gegenstand der Kritik ist ferner eine überproportional gute Bezahlung sportlicher Leistungen, verglichen beispielsweise mit dem Verdienst von Schriftstellern. Die-ser Trend ist umso bedenklicher, als durch sportliche Rekordleistungen keine wirklichen Wer-te geschaffen würden – „[j]ede Arbeitsleistung produktiver Art sWer-teht höher.“ Grzesinski macht

123 Der studierte Kriminalist Böß (1873 – 1946) war ab 1912 Berliner Stadtkämmerer und von 1921 bis 1929 Oberbürgermeister der am 1. Oktober 1920 durch zahlreiche Eingemeindungen neu gegründeten Stadtgemeinde Berlin.

124 Grzesinski (1879 – 1947) war von Mai 1925 bis Oktober 1926 und später noch mal, von November 1930 bis Juli 1932, Polizeipräsident von Berlin, dazwischen, von Oktober 1926 bis Februar 1930, preußischer Innenminister. In beiden Funktionen machte er sich um die Demokratisierung der preußischen Verwaltung und Schutzpolizei verdient.

sich in seinem Beitrag zum Wortführer einer Umverteilungsideologie: Das für die Entlohnung von Spitzensportlern aufgewendete Geld solle man besser in die „allgemeine[] Förderung der Sportbetätigung“ investieren. Legitimiert wird auch dieser Vorstoß unter Hinweis auf die Wahrung eines traditionsreichen anthropologischen Gleichgewichts: „Es darf nicht heißen, nur Geltung des Körpers, sondern die Losung muss sein: Förderung von Geist und Körper!“

Der Mediziner, Soziologen und Volkswirt Franz Oppenheimer nimmt vor allem Anstoß an einer als chronisch empfundenen Unfähigkeit der Gesellschaft, ihrer Sportbegeisterung – un-abhängig davon, ob als Aktiver oder als Zuschauer – das richtige Maß zu verpassen. Das Be-wusstsein für die Bedeutung intellektueller Leistungen sieht er dabei akut bedroht. Oppen-heimer selbst darf sich rühmen, die Aufwertung des Sports auf gesellschaftlich breiter Front einst mit initiiert zu haben: 1893 publizierte er, dito in der VZ, zwei Beiträge über den Bergsport. Gelungen war ihm damit nicht weniger als ein sportjournalistisches Pionierstück, tausende von „Stubenhockern und Brillenträgern“ habe er dadurch missionieren und für den Bergsport begeistern können, eine Leistung, auf die er genauso stolz zu sein bekennt wie auf sein Engagement für „soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Wohlfahrt.“126

Dreieinhalb Jahrzehnte später aber scheint die Situation längst gekippt – hatte Deutschland vormals zu wenig, „so hat es jetzt vielfach schon zu viel Sport.“ Erfasst hat die exaltierte Sportbegeisterung der ausgehenden zwanziger Jahre sowohl die „Ausübenden“ als auch das Publikum. Im Falle der Aktiven ist es der Leitwert des Rekords, im Falle des Zuschauers der Voyeurismus, der Oppenheimer Unbehagen bereitet. Der chronische Ehrgeiz, einen alten Re-kord zu brechen und einen neuen aufzustellen, treibt die Beteiligten, so seine Sorge, mittel-fristig „über die Grenzen des mit der Gesundheit und dem bürgerlichen Beruf Vereinbaren“

hinaus, beinah müßig zu sagen, dass er die Professionalisierung des Sports aufgrund des ho-hen medizinischo-hen Risikopotentials kategorisch ablehnt. Im Voyeurismus des Publikums wie-derum erkennt er eine Degradierung des Sports zu einem Schauspiel mit bloß noch circensi-schem Anspruch. Oppenheimers Lagebeschreibung folgt einem einfachen Muster. Im Idealfall verhalten sich die Leistungen von Intellekt und Körper komplementär zueinander, dem „Mammonismus“ der damaligen Zeit aber ist es gelungen, den Bereich des Sports seiner Autonomie zu berauben und die zwischen Körper und Geist mühevoll austarierte Harmonie damit zu stören. Die „ungeheure Überschätzung der sportlichen Leistung“, die sich die Ge-genwart vorwerfen lassen muss, bindet mentale Kräfte. Die anderen Lebensbereiche, vor

125 Den Versuch, vom Weltrekord eines Landsmanns irgendeinen Rückschluss auf „die Geltung des deutschen Volkes“ zu ziehen, hält er für absurd.

lem der Wissenschaft und der Kunst, fehlen. Vor polemischen Zuspitzungen scheut Oppen-heimer in diesem Kontext nicht zurück: „Deutschland, einst das Land der Denker und Dichter, ist auf dem besten Wege dazu, das Land der Fußballer und Boxer zu werden.“ Einen Vor-schlag, wie dieser Trend korrigiert werden könnte, macht er nicht, ihm bleibt die Hoffnung,

„dass der [sic!] Pendel bald wieder zurückschlage, und dass unser Volk die rechte Mitte zu finden lerne [...], wo die Natur nicht um des Geistes, aber auch der Geist nicht um der Natur willen zu leiden hat.“ Wie nun diese abstrakte Formel der rechten Mitte mit Leben füllen?

Oppenheimer empfiehlt einen Orientierungspunkt der antiken Geschichte: „jenes höchste Maß von ‚Bildung’, wie die Hellenen sie verstanden“.

Die Antwort mit dem höchsten gedanklichen Abstraktionsgrad trägt den Absender Paul Til-lichs. Tillich zählte bereits zum Zeitpunkt der Rundfrage zu den namhaftesten protestanti-schen Theologen seiner Epoche,127 den Fachmann in ihm weckt die Erörterung des durchaus auch religiös dimensionierten Leib-Seele-Problems trotzdem nicht. Der Text trägt eine andere Handschrift, die nämlich des Systematikers. Als solcher war Tillich es gewohnt, die histori-schen Voraussetzungen, religiösen Inhalte und ethihistori-schen Konsequenzen des christlichen Glaubens in eine Gesamtperspektive einzubinden. In seinem Beitrag für die VZ stößt auch er sich zunächst an der in Mode gekommenen Institutionalisierung des Sports, ein Trend, der zu allem Überfluss auch noch staatlich forciert wird. Über Hauptmann allerdings geht er insofern noch einen entscheidenden Schritt hinaus, als er die rein spielerische und die durchorganisier-te Form des Sports zu den Antithesen eines dialektischen Prozesses macht, an dessen Ende nichts weniger als die Auflösung des klassischen Geistesbegriffs stehen könnte.

Seinen Beitrag beginnt Tillich in bester akademischer Manier mit einer terminologischen Vorverständigung: Er unterscheidet zwischen „Sport-Spiel“ und „Sport-Ernst“. Definiert ist das Sport-Spiel durch Regeln und Konventionen, der Sport-Ernst hingegen durch eine Ver-pflichtung des Sports auf die Prinzipien von „Gemeinschaft und Kampf.“ Geschichtsträchtiger ist natürlich das Sport-Spiel, erst in der jüngeren Vergangenheit ist ihm mit dem Sport-Ernst ein substanziell gefährlicher Konkurrent erwachsen. Die auf einige wenige elementare Sätze beschränkten Konventionen des Sport-Spiels sehen sich bald marginalisiert durch die hoch-komplexen Regelwerke „der Organisation, des Klubs, des Verbandes, der

126 Oppenheimer (1864 – 1943) praktizierte bis 1896 als Armenarzt in Berlin und studierte anschließend Nationalökonomie. Zum Zeitpunkt der Rundfrage hatte er einen Stiftungslehrstuhl für Soziologie und theoretische Nationalökonomie an der Universität Frankfurt a. M. inne. Er war Lehrer des späteren Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard und gilt als einer der geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft.

127 Nach Kriegsende war Tillich (1886 – 1965) zunächst Privatdozent in Berlin. Ab 1924 lehrte er Systematische Theologie in Marburg, zum Zeitpunkt der Rundfrage war er Professor für Religions- und Sozialphilosophie in Dresden und Leipzig, 1929 schließlich wechselte er, als Nachfolger von Max Scheler, auf einen Lehrstuhl für Philoso-phie und Soziologie nach Frankfurt a. M. Bis 1929 war Tillich außerdem Mitarbeiter der Blätter für religiösen Sozialismus. Er war der erste nichtjüdische Hochschullehrer, der nach Beginn von Hitlers Kanzlerschaft aus Deutschland vertrieben werden sollte.

on.“ Spätestens mit der Gründung der ersten Sporthochschulen tritt auch der Staat in Erschei-nung; Einrichtungen wie sie waren es, die der Professionalisierung des Sports den Weg geeb-net haben. Mit dem Rekord ist ein Fetisch der eher dynamischen Art entstanden, sein Sinn nämlich besteht darin, dass er immer wieder neu gebrochen wird. An dieser Stelle seiner Ar-gumentation kommt Tillich auf sich selbst zu sprechen: Der Geist sei dem Spiel entwichen, aus dem Sport sei längst „blutiger Ernst“ geworden, er, Tillich, aber wolle, wann immer er Sport treibt, spielen und dabei durch nichts gebunden sein als durch den eigenen „Willen und die Spielregeln.“

Auch wenn er selbst nicht ein einziges Mal fällt: Einer der konstitutiven Begriffe des Beitrags ist der der Entfremdung. Die Entfremdung des Spiels durch seine verbands- oder staatspoli-tisch betriebene Organisierung ist dabei nur das eine, auf die Verlustliste des abendländischen Traditionsbestands zu geraten droht im Zuge dieses Prozesses allerdings auch der Geist. Der-lei kulturromantische, um nicht zu sagen: kulturkonservative Zwischentöne sind bei Tillich eher selten. Dass er sie hier dennoch anschlägt, rechtfertigt er unter Verweis auf eine Aufgabe von eminenter historischer Bedeutung, mit der Verteidigung der „Front des Geistes“ nämlich,

Auch wenn er selbst nicht ein einziges Mal fällt: Einer der konstitutiven Begriffe des Beitrags ist der der Entfremdung. Die Entfremdung des Spiels durch seine verbands- oder staatspoli-tisch betriebene Organisierung ist dabei nur das eine, auf die Verlustliste des abendländischen Traditionsbestands zu geraten droht im Zuge dieses Prozesses allerdings auch der Geist. Der-lei kulturromantische, um nicht zu sagen: kulturkonservative Zwischentöne sind bei Tillich eher selten. Dass er sie hier dennoch anschlägt, rechtfertigt er unter Verweis auf eine Aufgabe von eminenter historischer Bedeutung, mit der Verteidigung der „Front des Geistes“ nämlich,