• Keine Ergebnisse gefunden

III.1 Nachdenken über Gott und die Welt. Der Intellektuelle als Flaneur auf dem publizisti-schen Boulevard

Im Mittelpunkt des ersten Kapitels des analytischen Teils soll, wie oben angedeutet, die Spe-zies des Weimarer Intellektuellen selbst stehen. Wer ihm wie Golo Mann oder Craig eine Mitverantwortung für die mentale Zermürbung der ersten deutschen Republik zuschreibt, soll-te nicht übersehen, dass er den Boden des neuen Zeitalsoll-ters mit der Hypothek einer historisch gewachsenen Apolitizität betrat. Die künstlerische Intelligenz nämlich spielte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der auch in Deutschland zahlreiche politisch und wirtschaftlich entscheidende Weichen neu gestellt wurden, eine allenfalls marginale Rolle; die Gründung des kleindeutschen Nationalstaats in den Jahren 1870/71 vollzog sich unter völligem Verzicht auf die komplementierende visionäre Kraft einer kritischen geistigen Elite. Folgt man Fähn-ders, so kämpften das aufgeklärte, liberale Bürgertum und die künstlerisch-literarische Intelli-genz bis zur Revolution des Jahres 1848 noch für dieselben politischen und gesellschaftlichen Ideale. Erst nachdem das Paulskirchprojekt gescheitert war, zog sich diese gesellschaftliche Avantgarde aus der aktiven Politik zurück und überließ die Konstitution des „Nationalstaats auf bürgerlich-demokratischen, wirtschaftsliberalen Grundlagen [...] den preußischen Feudal-schichten und ihrem Militär.“ (Fähnders: 58)

Das Bürgertum arrangierte sich im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte mit der feudalistisch-militärischen Leitkultur des Hohenzollern-Staats, mal eher stillschweigend, mal aber auch auffallend enthusiastisch. Das Milieu der damaligen Intelligenz indes beschritt zwei verschie-dene Wege: Das der künstlerischen traf dabei eine völlig andere Entscheidung über die eigene gesellschaftliche Positionierung als das der akademischen. Letzterem gelang es, den Weisheit und Seriosität in ein ausbalanciertes Verhältnis bringenden Großgelehrten zum Prototyp einer gesellschaftlich akzeptierten moralischen Autorität zu machen – die Ehrfurcht vor den Profes-soren für Geschichte oder Nationalökonomie war „eine grundsätzliche Konstante der deut-schen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts“ (Garstka: 131). Eine lebendige Intellektuellen-tradition, die sich die Chuzpe einer Arachne oder eines Zola zueigen gemacht hätte, hatte sich aus „diesem Bündnis zwischen Idealismus mit dem preußischen Staat“ (Münch: 734) nicht entwickeln können. Fritz Ringer war es, der die kaiserdeutschen Hochschulvertreter auf den begrifflichen Nenner des Mandarins gebracht hat, die europäische Bezeichnung für den Ver-treter der im traditionellen China bis zur Revolution 1911/12 die Geschicke in Staat und

Ge-sellschaft bestimmenden Beamtenschicht. Brunkhorst hat diese Gleichsetzung in „Der Intel-lektuelle im Land der Mandarine“ aufgegriffen und die deutsch-professorale Elite als ein Kar-tell von GegeninKar-tellektuellen bezeichnet. Verbunden mit dieser Identifizierung war der Vor-wurf, die Popularisierung des Credos der Aufklärung bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts systematisch verhindert zu haben. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund dürfte Garstkas These zu verstehen sein, man könne eher „eine Geschichte der antiintellektuellen Bewegung im Deutschen Kaiserreich“ (Garstka: 122) schreiben als eine der intellektuellen.

Ganz anders der Weg, den die künstlerische Intelligenz wählte. In ihrem Falle lassen sich laut Fähnders „Dispositionen der gesellschaftlichen Isolation, der Marginalisierung und der gleichsam freiwilligen Annahme dieser Isolation erkennen.“ (Fähnders: 60) Der Typ des frei-schwebenden Intellektuellen war bereits in den das liberale Bürgertum in die politische Re-signation treibenden Jahren nach der gescheiterten 48er-Revolution erfunden worden. Seine Vertreter erlebten im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts eine gleich doppelte De-klassierung, eine funktionale durch die zunehmende Ökonomisierung der Kultur und eine eher soziale durch die „ideologischen Schnitte innerhalb der eigenen Herkunftsklasse“ (Fähn-ders: 60), bedroht war fortan nicht weniger als die „Substanz der traditionellen Selbstbestim-mung des Dichters und des Dichtens“ (60 f.). Einen tiefen Einschnitt bedeuten dabei vor al-lem die Jahre nach 1880, spätestens vor der subkulturellen Kulisse des Theaters des Naturalismus wurde den Künstlern nämlich bewusst, dass ihre Emanzipation von der eigenen bürgerlichen Provenienz irreversibel geworden war. An die Spitze der politisch organisierten Arbeiterschaft, deren Alltagstristesse sie auf die Bühne zu bringen suchten, setzen sie sich andererseits aber auch nicht – insofern „ist die Opposition ‚intern’, innerbürgerliche geblie-ben“ (59). Diese Passivität in politischen Dingen ist der Grund dafür, dass die Mehrzahl der intellektuellengeschichtlichen Studien, wann immer sie sich auf die Suche nach den Faktoren der gesellschaftlichen Meinungsführerschaft im deutschen Kaiserreich begeben, in erster Li-nie die so genannten Mandarine ins Visier nehmen, die Vertreter der naturalistischen oder expressionistischen Dramatik aber übergehen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen seien von ihnen nämlich „keine Initiativen zur Intellektualisierung und Moralisierung“ (Garstka: 139) ausgegangen, bis in die Tage des Weltkriegs hätten sie „kaum öffentlich beachtete Initiativen im Namen eines wie auch immer gearteten Ideals gestartet oder eine kritische Position in strit-tigen Fragen innerhalb der Gesellschaft kundgetan“ (140).

Die Intellektuellen der Weimarer Republik indes standen, völlig unabhängig von der Genera-tionszugehörigkeit und ihrer Reaktion auf die Burgfriedenrhetorik des Jahres 1914, unter dem Trauma des Kriegs. Unter dem Label des Expressionismus hatten sich gerade jüngere

Künst-ler ihre Wut über die Determinierung der Wirklichkeit durch einen als unmenschlich empfun-denen staatlichen Paternalismus regelrecht herausgeschrieen. Mit der „oft inkriminierte[n]

Intelligenz der expressionistischen Generation“ (Fähnders: 212) sollte sich nach langen Jahr-zehnten der gesellschaftlichen Isolation endlich wieder eine politisch profilierte Ästhetik etab-lieren. Dazu zählte die künstlerische Erschließung gegenwartsgeschichtlicher Themen, dazu zählte aber auch die politische Organisierung der Künstler selbst – das prominenteste Beispiel dafür waren sicher die als Entsprechung der Arbeiter- und Soldatenräte konzipierten und in den Nachkriegswochen in Berlin und München gegründeten Räte Geistiger Arbeiter. Aber auch das konkrete parteipolitische Engagement war, zumal in den Reihen der nachwachsen-den Künstlergeneration, nach der Abdikation Wilhelms II. beinah en vogue. Das Gros hatte sich nicht zuletzt aus einer kriegsbedingt pazifistischen Grundhaltung heraus der USPD oder gar, wie Johannes R. Becher, Friedrich Wolf oder die Gebrüder Wieland Herzfelde und John Heartfield, der KPD angeschlossen. Auch der Dadaismus und die historische Avantgarde hat-ten die Gräben zwischen Kunst und Leben zuzuschüthat-ten und das klassische Bild des wirklich-keitsentrückten Künstlers darin zu begraben versucht, erst die neue republikanische Staats-ordnung aber verschaffte den Intellektuellen die Freiheiten, derer sie für die offensive Entfaltung ihrer politischen Aktivitäten bedurften. (vgl. 213)

Mit der Weimarer Republik begann ein Kapitel deutscher Geschichte, in dem die Figur des

„aktiven, eingreifenden, operativen Schriftstellers“ (214) einen spürbaren Bedeutungszuwachs verbuchen konnte. Ihre Auswirkungen hatte eine Akzentverschiebung wie diese natürlich auch auf die Struktur des literarischen Gattungsgefüges. Dasjenige Genre, das im zeitlichen

„Umfeld von Neuer Sachlichkeit und proletarisch-revolutionärer Literaturentwicklung“ (ebd.) die sicher stärkste Aufwertung erfuhr, war die Reportage. Aber auch die Rundfrage des Typs, um den es in diesem ersten Kapitel gehen soll, bot der zeitgenössischen Intelligenz eine Mög-lichkeit, sich mehr oder weniger regelmäßig mit einem zumindest kurzen Statement zu einem der tagesaktuellen Lebenswelt entnommenen Thema an die Öffentlichkeit zu wenden. Dem Leser begegnete dabei im Regelfall der Träger einer Existenz- und Bewusstseinsform, die mit der des verkannt genialen armen Poeten oder des lorbeerbekränzten Dichterfürsten nur noch wenig gemein hatte. Ausgewertet werden im Folgenden solche Rundfragen, in denen die Teilnehmer als kritische Intellektuelle gefordert sind, und solche, in denen sie das eigene Rol-lenverständnis sogar explizit erörtern können. Wahrscheinlich sind die Rundfragen dieses Typs die feuilletonistischen. Sie zeigen, dass an die Stelle, die noch im Kaiserreich von Man-darinen und apolitischen Dichter im Zeitalter der Republik eine räsonierende und medien-freundliche Kulturprominenz getreten ist.