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DAS KOMPONIERENDE GENIE. RUNDFRAGEN ZUM 100. TODESTAG LUDWIG VAN BEETHOVENS

III. 1.8 „WAS MIR IN DIESER ZEIT ALS WICHTIGSTES AM HERZEN LIEGT ...“ DER INTELLEKTUELLE ALS

III.2.2 DAS KOMPONIERENDE GENIE. RUNDFRAGEN ZUM 100. TODESTAG LUDWIG VAN BEETHOVENS

Auch Ludwig van Beethoven hatte es verstanden, seine Zeitgenossen zu polarisieren, wenn auch natürlich aus ganz anderen Gründen. Am 26. März 1827 war er, sechsundfünfzigjährig, in seiner Wahlheimat Wien den Folgen eines Leber- und Darmleidens erlegen. Unumstritten

dachte[n], platonische[n], heuchlerische[n] Internationalismus.“ (ebd.). Das endgültige Verdikt verhängt er über Roland-Holst 1918 aufgrund eines zusammen mit Karl Kautsky verfassten und in der Prawda publizierten Schreibens gegen den Bolschewismus.

war er zu Lebzeiten, trotz des überwältigenden Erfolges seiner Neunten Symphonie, im Grunde nie. Als man seinen hundertsten Todestag beging – in Deutschland unter anderem mit einer Beitragsserie im BBC (BBC Jg. 59, Nr. 143, 1. Beilage, 26. 3. 1927/Nr. 145, 1. Beilage, 27. 3. 1927) –, galt er indes längst als eine der bedeutendsten Gestalten der Musikgeschichte.

Natürlich war ein Bekenntnis zu Beethoven in den 1920er Jahren weitaus opportuner als eines zu Lenin. Irrelevant macht das die Lektüre der Referenzen des Börsen-Couriers natürlich nicht.

Exkurs: Die Revision der neunten Symphonie. Bürgerlichkeitskritik in Thomas Manns „Dok-tor Faustus“

Zurückgekommen sind die Autoren des BBCs immer wieder auch auf die politische Dimen-sion des Beethovenschen Lebenswerks. Beethovens Bedeutung für die Geschichte der bürger-lichen Emanzipation des 19. Jahrhunderts wird auch Thomas Mann erörtern, zwei Jahrzehnte später, im „Doktor Faustus“. Wer sich mit der Empfänglichkeit der Kunst für Weltanschau-ungslehren totalitären Zuschnitts beschäftigt, wird um diesen Titel kaum herum kommen.

Verknüpft hat Mann darin den Faust-Stoff mit der fiktiven Lebensgeschichte des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn. Spätestens seit Goethe gilt die Faust-Figur, die ihren Erkennt-nishunger durch die Preisgabe ihrer Seele an das schlechthin Böse zu stillen suchte, als der Prototyp des Deutschen. Das NS-Regime wiederum, vor dem Mann in die USA geflohen war, lässt sich als vom Teufel besessene, säkulare Moderne übersetzen. Damit bot sich die Mög-lichkeit, das Motiv vom Seelenverkauf auf gleich zwei Ebenen zu entfalten: auf einer eher milieuspezifischen und einer nationalgeschichtlichen. Leverkühn verkörpert, weil er sich um einer Steigerung seiner künstlerischen Kreativität willen mit dem Teufel einlässt, zum einen den von Benda beklagten Verrat der Intellektuellen. Zum anderen steht er für die Faschismus-anfälligkeit des nichtjüdischen Teils des deutschen Bürgertums. Beethoven hatte der bürger-lich-humanistischen Kultur mit der Vertonung von Schillers „Ode an die Freude“ im Finalsatz der neunten Symphonie eine inoffizielle Hymne geliefert – genau dieses Opus versucht Le-verkühn ästhetisch und damit ideengeschichtlich zu überwinden.

Zunächst aber hat Mann die Aufmerksamkeit auf ein anderes Beethoven-Werk gelenkt: auf die Klaviersonate op. 111 in c-moll. Die Passage, in der sich Wendell Kretzschmar, Organist an der Domkirche der fiktiven mitteldeutschen Kleinstadt Kaisersaschern, vor einem zahlen-mäßig eher überschaubaren Publikum, zu dem auch Leverkühn zählt, über die Frage auslässt, warum Beethoven bei der Komposition der letzten seiner 32 Klaviersonaten auf einen dritten Satz verzichtet habe, kommt einem Vexierspiel gleich. Explizit gelobt werden darin zwar die

musikgeschichtlich revolutionären Leistungen Beethovens, gemeint aber sind diejenigen, die Leverkühn dank seines Teufelspaktes zu vollbringen befähigt sein wird. Verdichtet haben sich die Worte des Domorganisten zumal über den zweiten, den Arietta-Satz damit zur Schlüssel-passage eines Schlüsselromans – das ästhetische Programm, das sie umreißen, ist für das Ver-ständnis der biographischen Entwicklung des Protagonisten unabdingbar. Leverkühn selbst wiederum ist als Prototyp des moralisch dekadenten und politisch indifferenten Künstlers der bürgerlichen Moderne konzipiert.

Folgt man den Ausführungen Kretzschmars, so schien dem späten Beethoven die Lösung des für die abendländische Ideengeschichte so typischen Konflikts zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen innerem Ausdruckswillen und äußerem Konventionsdruck geglückt zu sein. Überholt wäre damit eine Vorstellung, der zufolge sich Beethoven im Laufe seines Le-bens immer weiter von den formalen Konventionen der Musikästhetik entfernt habe. Nachge-geben hat er, so die These bei Mann, dem eigenen Ausdruckswillen vor allem in der mittleren Schaffensperiode. Als der Konflikt in den 1820er Jahren, in einer Phase also, in die auch die Komposition der fraglichen Sonate fiel, wieder ausbrach, hob er ihn dialektisch auf und legte mit dieser Synthese die Basis für ein kompositorisches Werk von bis dato völlig ungekannter künstlerischer Qualität. „[B]ei aller Einmaligkeit und selbst Ungeheuerlichkeit der Formspra-che“ sei das Verhältnis des späten Beethoven zum Konventionellen plötzlich wieder „ein ganz anderes, viel lässlicheres und geneigteres“ (T. Mann 1960: 73) gewesen. Bliebe natürlich noch die Frage nach der Bedingung, an die der Erfolg der dialektischen Vermittlung zwischen künstlerischer Originalität und formaler Konventionalität, wie ihn die c-moll-Sonate verbu-chen konnte, geknüpft ist. Das Verhältnis, das die künstlerische Individualität und die formale Konvention in Beethovens Spätwerk eingingen, war, so die eigentliche Kernthese des Vor-trags, ein „vom Tode“ bestimmtes. Erst da, wo „Größe“ – man könnte statt ihrer auch von Genialität sprechen – und Tod zusammenkommen, entstehe „eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse.“ (74) In dieser Sachlichkeit überwachse sich das „Nur-Persönliche“ und trete ein ins „Mythische, Kol-lektive“ (ebd.). Natürlich ist auch der musikgeschichtliche Stellenwert der letzten Beethoven-schen Klaviersonate damit ein ganz besonderer: Sie stellt den Gipfelpunkt, zugleich aber auch die Überwindung der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts prävalenten Satzform der Sonate und damit letztlich das Ende einer im Zeichen der bürgerlichen Aufklärung stehenden Kulturepoche dar.

Gemünzt also sind diese Einlassungen nicht wirklich auf die künstlerische Entwicklung Beethovens, sondern auf die Lebensgeschichte des Protagonisten des Faustus-Romans.

Le-verkühn ist es, dem der eigene Tod begegnet, in den Gestalten der Hetaera Esmeralda, aber eben auch in der des Teufels. Bis dato litt er, der über den Umweg der Theologie zur Kompo-sition gefunden hatte, unter einer chronischen Kreativitätsblockade. Erst im zeitlichen Gefol-ge seines Paktes mit dem Teufel Gefol-gelingt es ihm, den Urkonflikt des Künstlers zwischen Wol-len und SolWol-len aufzulösen und der Musik neue Dimensionen zu erschließen – jenseits des klassischen Sonatensatzes, der auf für Beethovens Neunte verbindlich war.216 Ein ambitionier-tes Werk ist Manns „Doktor Faustus“ damit in gleich mehrfacher Hinsicht. Unternommen hat es den nicht eben bescheidenen Versuch, die deutsche Geistes- und Mentalitätsgeschichte von Spätmittelalter und Reformation bis hin zu Faschismus und Zweitem Weltkrieg auf den Nen-ner der Lebensgeschichte seines Protagonisten zu bringen. Hans Mayer vermerkt in „Die um-erzogene Literatur“, der Faustus-Roman handle vor allem vom „Schicksal und von der Mög-lichkeit der modernen Kunst. Wobei diese moderne Kunst in enger Verknüpfung mit dem Schicksal der modernen Gesellschaft, der bürgerlichen, gesehen werden sollte.“ (Mayer: 65) Diese oben schon kurz angesprochene sozialgeschichtliche Kontextualisierung der Bewusst-seinskrise der kulturellen Moderne ist es, die den Künstler- zu einem gleichnishaften Zeitro-man erweitert hat. Es war das deutsche Bürgertum, das sich, zutiefst frustriert über die All-tagsrealität der jungen Republik, zu einem nicht unbeträchtlichen Teil mit den eigenen liberalen Prinzipien überworfen und mit dem Faschismus eingelassen hatte. Leverkühn ist folglich die Symbolfigur nicht nur des eigenen Künstlerstandes, sondern auch des Deutsch-land der 1920er Jahre.

Beethovens einhundertster Todestag fiel in ein Jahr, das für Weimarer Verhältnisse erstaun-lich ereignisarm war. Umso besser dürfte seine publizistische Würdigung zur Geltung ge-kommen sein. Drei umfangreichere Beiträge sollen im Folgenden genauer betrachtet werden, verfasst von Oskar Bie, Friedrich Burschell und George Bernard Shaw und veröffentlicht in den Ausgaben des BBCs vom 26. (Bie und Burschell) bzw. 27. März (Shaw).

Für Bie war die Hommage ein Heimspiel, immer wieder nämlich war der langjährige Thea-terleiter und Hochschuldozent mit seinen Opern- und Kunstkritiken auch im BBC präsent.217 In „Beethovens Musik“, seinem Beitrag zum Todestag, setzt er drei Akzente: Im ersten Teil

216 Als letztes großes Werk bringt Leverkühn die Kantate „Dr. Fausti Weheklag“ zu Papier, eine Komposition auf der Textbasis des Volksbuchs. Diese Kantate wird ausdrücklich als das Gegenstück zu Beethovens neunter Symphonie mit Schillers „Ode an die Freunde“ entworfen. Die Zeit der gesteigerten Produktivität währt alles in allem neunzehn Jahre. 1940 stirbt Leverkühn nach einem paralytischen Schock.

217 Wie viele seiner Zeitgenossen war Bie (1864 – 1938) ein Multitalent. 1894 übernahm er in der Nachfolge von Otto Brahm die Leitung der Zeitschrift Freien Bühne für modernes Leben. Unter dem Namen Neue Deutsche Rundschau machte er sie zu einem der profiliertesten Blätter des Kaiserreichs. Den Auftakt seiner wissenschaftlichen Laufbahn bildete eine Privatdozentur für Kunstgeschichte an der Berliner Technischen Hochschule. (vgl. Mendelssohn 1970: 181 f.) Nach dem Weltkrieg fand er Aufnahme in den Lehrkörper der Berliner Hochschule für Musik. In Erinnerung geblieben ist Bie ferner als Verfasser zahlreicher Bücher zu musikgeschichtlichen Themen, über Malerei

nimmt er die fast schon industriellen Auswüchse der Weimar-deutschen Gedenkkultur unter Beschuss. Auf den eigentlichen Schreibanlass geht er erst im Mittelteil ein, gefeiert wird Beethoven dabei als Revolutionär und Demokrat, als Zoon politikon, das bei der Verwirkli-chung seiner gesellschaftlichen Ideale keinen Unterschied mehr zu machen bereit ist, ob es als Künstler oder schlicht als Mensch handelte. Im letzten Abschnitt schließlich riskiert Bie die Konfrontation des gebürtigen Bonners mit einer anderen, gerade für die bürgerlichen Schich-ten in Gründerzeit und Wilhelminismus auf ihrer Suche nach einer nationalhistorischen Iden-tität eminent wichtigen Gestalt der Musikgeschichte: mit Richard Wagner.

Wer zu Beethoven will, muss bei Bie also zunächst durch das Nadelöhr einer Metakritik. Ins Visier genommen hat sie den Bauplan, den die Öffentlichkeit der Weimarer Republik der Konstruktion ihrer kulturellen Identität zugrunde gelegt hat. Dass die markanten Geburts- und Todestage großer Geister der deutschen Literatur-, Musik- und Kunstgeschichte in den zu-rückliegenden Jahren in der Presse eine immer dominantere Rolle spielten, ist für Bie das un-zweideutige Indiz für ein chronisch gestörtes Verhältnis seiner Zeitgenossen zur eigenen Ge-genwart. Tatsächlich hat die deutsche Kulturgeschichte ihren Zenit seiner Ansicht nach längst überschritten, eingetreten zu sein scheint sie nunmehr in eine Phase der bloßen Reproduktion – man lebe in einer Zeit, die zahlreiche Jubiläen feiere, selbst aber nur wenige große Men-schen hervorbringe. Im Falle des Beethoven-Gedenkjahres scheint sie schon an der Drama-turgie der Feierlichkeiten gescheitert zu sein.218 Der Jubilar sei derart populär, dass man ihn eigentlich gar nicht weiter zu popularisieren brauche. Man tat es trotzdem und entwertete den Großteil der Veranstaltungen damit zu „verschleierte[n] Propagationen“. Ins Gericht geht Bie aber vor allem mit der inflationären Einbindung der Weimar-deutschen Prominenz in die pub-lizistische Würdigung des Jubilars. „Jede Zeitung hat eine Beethoventafel an diesem Tage.“

Etwas Neues aber scheint auf ihnen nicht vermerkt. Die „Menschen gebessert“ und die „Zu-stände saniert“ hätte all das nicht.

Dem Jubilar selbst widmet sich erst der Mittelteil des Textes. Folgt man Bie, kommt Beetho-vens historische Singularität in gleich drei Zusammenhängen zur Geltung: im Kontext der Geschichte der abendländischen Musik mit den beiden Höhendominanten Bach und Mozart, innerhalb der sozialen Gemengelage des zeitlichen Gefolges der französischen Revolution und schließlich vor dem Hintergrund der aufgewühlten Geistesgeschichte im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Verpasst hat Bie Beethoven die Gloriole einer ins Übergeschichtliche

und andere Zweige der bildenden Kunst. Bie war es ferner zu verdanken, dass sich Richard Strauss in den internationalen Konzertsälen und Opernhäusern durchsetzen konnte.

rückten Humanität. Er schien den Menschen aller Epochen gleich nah zu stehen, allen histori-schen Brüchen der zurückliegenden Jahrhunderte zum Trotz. Dass er, anders als Bach, kein

„Vollender“ und, anders als Mozart, kein „Gott“, sondern ein „Mensch“ gewesen und zeit seines Lebens geblieben sei, mache ihn so wertvoll. Seine Musik habe er direkt „aus dem Bo-den seiner Seelenlandschaft“ entwickelt. Dieser selbstbewusste, psychogenetische Produktivi-tätsstil sollte Schule machen. Natürlich sind die Prädikate, mit denen Bie seine Zusammenfas-sung der Beethoven-Vita ausstaffierte, auch der eigenen Zeitgenossenschaft ins Stammbuch geschrieben: „[E]in Revolutionär, ein Demokrat“ sei der Jubilar gewesen, nicht nur im virtu-ellen Raum seiner politischen Überzeugungen, sondern „auch in der Kunst“, da nämlich ist ihm – eine These, die bei den Arbeiten an der oben kurz referierten Faustus-Passage souffliert haben könnte – mit der Synthese von Subjektivität und Konventionalität eine Quadratur des Kreises gelungen. Überhaupt ist Beethoven für Bie ein Meister der dialektischen Vermittlung der Antagonismen seiner Epoche, gegeben habe er sich nämlich die Freiheit, zugleich aber auch das Gesetz. Jedes steinerne Denkmal, das man ihm errichtet, müsste ihn folglich in der Pose der „Freiheit, die sich beherrscht“, verewigen.

Das von Bie in diesem Kontext von der deutschen Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts ent-worfene Bild zeigt Beethoven am Beginn gleich zweier Traditionslinien. Die erste ist die

„Nietzschelinie“. Das Kennzeichen ihrer Anhänger ist eine nahezu titanenhafte Willens- und Schaffenskraft, ihr Trachten gilt keinem anderen Ziel als einer Neuerfindung des Rades im Weltmaßstab. Auch der Jubilar sieht sich dabei zu einem multilateral aktiven Neuerer stili-siert: „Er kämpfte auf der Scheide zweier Jahrhunderte. Er kämpfte mit der Form, mit der Metaphysik, mit der Religion und mit sich.“ Die zweite Linie ist die „christliche“, die Chro-nik einer zunächst noch pietistischen, später dann ins Romantische umgeschlagenen Inner-lichkeit. Ihren letzten namhaften Vertreter fand sie in Richard Wagner, dem Präzeptor des Gesamtkunstwerks und Übersetzer des Parzival-Epos in die Formsprache eines Bühnenweih-festspiels. Obwohl sie nach Wagners Tod ohne neuen exponierten Verfechter dastand, sollte sie sich mentalitätsgeschichtlich als ausgenommen langlebig erweisen. Beide, die Nietzsche- genauso wie die Innerlichkeitstradition, addieren sich zu einer die Befindlichkeit des Deut-schen prägenden, an die Faust-Figur erinnernden Doppelnatur: Er, der Deutsche, werde sich, so Bies Prognose, immer „zwischen diesen Typen bewegen, träumerisch, leidend und den-noch ein Tatenmensch“.

218 Das Einzige, was Bie „in der Flut“ konzertanter Großereignisse im zeitlichen Vorfeld des Todestages positiv aufgefallen sei, sei Artur Schnabels „in einer seltenen und persönlichen Art“ dargebotene Interpretation der Klaviersonaten gewesen, ein Highlight, das in den Räumen der Berliner Volksbühne stattfand.

Die Ausbalancierung solcher Gegensätze gelang freilich nur den Wenigsten. Auch Wagners Musikdramen scheinen allein deshalb zum Fetisch des patriotischen kaiserdeutschen Bürger-tums avanciert zu sein, weil ihr Schöpfer an nur eine der beiden genannten Traditionslinien anzuknüpfen fähig oder willens war. Den Unterschieden zwischen beiden, zwischen Beetho-ven und Wagner, hat sich Bie im letzten Teil seines Beitrags gewidmet. Ausgangspunkt dabei ist eine Hommage an Beethoven, die Wagner selbst, aus Anlass des 100. Geburtstags im Jahre 1870, zu Papier brachte. Darin wird die „Tristan und Isolde“ zugrunde liegende, von der Ro-mantik inspirierte Dialektik aus „hellsichtige[r] Nacht“ und „trügerische[m] Tag“ auf das kompositorische Werk des Jubilars übertragen und Beethoven selbst als „im Gegensatz zur Welt des Sehens“ stehender, erster großer „Träumer der Innerlichkeit“ portraitiert. Diese Werk- und Charakterdeutung hält Bie, ungeachtet seiner „Ehrfurcht“ vor Wagner und dessen Lebenswerk, für eine folgenschwere Realitätsverdrehung. Dem von Wagner ein halbes Jahr-hundert zuvor entworfenen Portrait hält er das Bild einer titanischen Künstlernatur entgegen, die der Menschheit das Feuer der Musik gebracht und sie damit eine universell verstehbare Sprache gelehrt hat. Im Gegensatz zur „Welt der Romantik“ war die Wiener Klassik keine Sphäre „voll von innerer Träumerei“. Anders als Wagner es darstellt, sei Beethoven „der erste sehende Musiker“ gewesen, der „die Tore zum Leben“ geöffnet und die Musik dem Volk „als Bekenntnis des Bruders zum Bruder“ entgegengereicht habe. Die oben bereits gefeierte Hu-manität erhält ihre übergeschichtliche Qualität eigentlich erst im direkten Vergleich mit den ästhetischen Prinzipien des einstigen Dresdner Barrikadenkämpfers. Diesen habe die Musik

„auf der einen Seite, der Seite der Bühne, sehender noch als Beethoven [gemacht], aber auf der Seite des Lebens [aber] verschloss sie ihn wieder mehr zu klösterlicher Entsagung, zu lyrischer Erlösung.“ Beethoven habe „die Liebe zur Tat“ gepredigt, Wagner „die Liebe zur Resignation.“ Daraus, dass er seine moralisch stark zerrüttete Zeitgenossenschaft lieber auf den Kurs des Jubilars festlegen möchte, hat Bie keinen Hehl gemacht.

Burschells Beitrag setzt die Akzente völlig anders. Überschrieben ist er mit „Beethovens Gestalt“. Auch sein Autor war auf dem Parkett von Literatur und Publizistik kein Unbekann-ter mehr. Einen Namen gemacht hatte er sich nach dem Krieg durch seine Essayistik, aber auch durch zwei Schiller-Monographien und eine Jean-Paul-Biographie.219 Für seinen Beitrag für den BBC wählte Burschell einen inhaltlich eher biographischen und stilistisch eher episo-dischen Ansatz. Der Mensch Beethoven steht im Mittelpunkt auch seines Interesses, der Mensch in einem empirisch-psychologischen Sinn freilich und weniger in einem ethisch-philanthropischen. Bie hatte gewürdigt, dass selbst ein Titan, wie der Jubilar ihn darstellte, bei

aller Genialität seines künstlerischen Vermächtnisses in seinem Wesen ein Mensch und in seinem moralischen Empfinden ein Menschenfreund geblieben war, Burschell hingegen scheint durch Beethoven wieder das Staunen darüber gelernt zu haben, dass ein Mensch in der Lage sein kann, ein historisch derart singuläres künstlerisches Werk zu hinterlassen.

Angesichts seiner Übermenschlichkeit sei „Beethovens Leben schwer vorzustellen.“ Vor allem am Topos des alltagsunfähigen Genies scheint Burschell Gefallen gefunden zu haben.

Ausgesetzt sah er den Komponisten einem Dilemma zwischen dem Konventions- und Erwar-tungsdruck des täglichen Lebens einerseits und den Lockrufen des Reichs der schönen Künste andererseits. Dank einer schon frühzeitig entwickelten Introvertiertheit schien es Beethoven gelungen zu sein, seine in ständiger produktiver Rotation begriffene Innen- wirksam gegen die quälend triviale Außenwelt abzuschotten. Schon in seiner Jugend sei er zu der Einsicht gelangt, „dass er auf ein äußeres Dasein verzichten müsse.“ Wie genau eine außenweltliche Entsprechung des inneren Reichtums, „über den er verfügte, der ihm ständig wie Gold aus einem Zauberbeutel zufloss“, hätte aussehen sollen, lässt sich in der Tat kaum ermessen. Sein Sozialleben jedenfalls musste bei all dem nach und nach verkümmern, er habe „ein unerhört einsames Leben“ geführt, es habe ihn regelrecht von den Menschen weggetrieben. Bestimmte bürgerliche Annehmlichkeiten, aber auch Pflichten verloren darüber schnell an Bedeutung.220 Aufgegriffen hat Burschell allerdings auch das Motiv des wahngeschlagenen Genies. Beet-hoven war pedantisch, menschenscheu, bisweilen sogar tyrannisch, lauter charakterliche Hür-den, über die er im Umgang mit anderen Menschen immer wieder strauchelte. Und natürlich findet auch seine Taubheit Erwähnung. Der Rückzug in die Innenwelt war zunächst auf der Grundlage einer autonom getroffenen Entscheidung erfolgt, seine Motivation dabei war ein ausgeprägter Trivialitätsekel. Die um 1795 einsetzende und sich bis zum völligen Verlust des Gehörs 1819 steigernde Ertaubung hingegen vermochte er selbst nicht mehr zu steuern. Sie schien den Prozess der sozialen Isolation auf den Pfaden der Pathologie fortzusetzen. Diese seine Isolation schuf ihm zwar eine in beinah jedweder Hinsicht geschützte Produktionsen-klave, sie schärfte ihm andererseits aber auch das Bewusstsein der eigenen Mortalität – über seine nahezu obsessiv betriebene Wirklichkeitsentrückung habe Beethoven einmal bekannt, dass er es ihr zu verdanken habe, wenn „er früh verstanden habe zu sterben.“ Die erste

Ausgesetzt sah er den Komponisten einem Dilemma zwischen dem Konventions- und Erwar-tungsdruck des täglichen Lebens einerseits und den Lockrufen des Reichs der schönen Künste andererseits. Dank einer schon frühzeitig entwickelten Introvertiertheit schien es Beethoven gelungen zu sein, seine in ständiger produktiver Rotation begriffene Innen- wirksam gegen die quälend triviale Außenwelt abzuschotten. Schon in seiner Jugend sei er zu der Einsicht gelangt, „dass er auf ein äußeres Dasein verzichten müsse.“ Wie genau eine außenweltliche Entsprechung des inneren Reichtums, „über den er verfügte, der ihm ständig wie Gold aus einem Zauberbeutel zufloss“, hätte aussehen sollen, lässt sich in der Tat kaum ermessen. Sein Sozialleben jedenfalls musste bei all dem nach und nach verkümmern, er habe „ein unerhört einsames Leben“ geführt, es habe ihn regelrecht von den Menschen weggetrieben. Bestimmte bürgerliche Annehmlichkeiten, aber auch Pflichten verloren darüber schnell an Bedeutung.220 Aufgegriffen hat Burschell allerdings auch das Motiv des wahngeschlagenen Genies. Beet-hoven war pedantisch, menschenscheu, bisweilen sogar tyrannisch, lauter charakterliche Hür-den, über die er im Umgang mit anderen Menschen immer wieder strauchelte. Und natürlich findet auch seine Taubheit Erwähnung. Der Rückzug in die Innenwelt war zunächst auf der Grundlage einer autonom getroffenen Entscheidung erfolgt, seine Motivation dabei war ein ausgeprägter Trivialitätsekel. Die um 1795 einsetzende und sich bis zum völligen Verlust des Gehörs 1819 steigernde Ertaubung hingegen vermochte er selbst nicht mehr zu steuern. Sie schien den Prozess der sozialen Isolation auf den Pfaden der Pathologie fortzusetzen. Diese seine Isolation schuf ihm zwar eine in beinah jedweder Hinsicht geschützte Produktionsen-klave, sie schärfte ihm andererseits aber auch das Bewusstsein der eigenen Mortalität – über seine nahezu obsessiv betriebene Wirklichkeitsentrückung habe Beethoven einmal bekannt, dass er es ihr zu verdanken habe, wenn „er früh verstanden habe zu sterben.“ Die erste