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III. 1.8 „WAS MIR IN DIESER ZEIT ALS WICHTIGSTES AM HERZEN LIEGT ...“ DER INTELLEKTUELLE ALS

III.2.1 DAS POLITISCHE GENIE – „URTEILE ÜBER LENIN“

Eine der Schlüsselfiguren der politischen Linken des zwanzigsten Jahrhunderts starb am 21.

Januar 1924: Wladimir Iljitsch Lenin. Auf Ablehnung stieß das Gesellschaftsmodell, dem er 1917 im nachzaristischen Russland zum Durchbruch verholfen hatte, keineswegs nur in bür-gerlichen Kreisen. Die Geschichte des Schismas der Arbeiterbewegung ist lang, die den inne-ren Frieden der Weimarer Republik von der ersten bis zur letzten Stunde belastende Feind-schaft zwischen KPD und SPD war dabei nur ein Kapitel unter vielen. Nachdem die Erste an den Unstimmigkeiten zwischen Marx und dem Anarchismustheoretiker Bakunin und die im Juli 1889 gegründete Zweite an der Kriegseuphorie zahlreicher europäischer sozialdemokrati-scher Parteien zerbrochen war, entwarf Lenin in seinen das Sowjetsystem feiernden „April-Thesen“ den Grundriss der im März 1919 schließlich gegründeten Dritten Internationalen. In ihr waren nur noch die in den Folgejahren zunehmend in die Abhängigkeit von der KPdSU geratenen kommunistischen Parteien der Einzelstaaten organisiert. Spätestens mit ihrer Grün-dung war das sozialismusinterne Schisma zwischen den Anhängern der proletarischen Revo-lution und eines sowjetgetragenen politischen Systems einerseits und den Vertretern des revi-sionistisch-sozialdemokratischen Wegs andererseits institutionalisiert.

In Deutschland war es die Sozialdemokratie, die in den Reform- und Umbruchszeiten der Herbst- und Wintermonate der Jahre 1918/19 zur dominanten politischen Kraft hatte avancie-ren können. Ausgerechnet in dem Land, in dem Lenin studiert und das er als strategischen Schlüssel für einen Erfolg der proletarischen Revolution auf breiter internationaler Front be-trachtet hatte, schien die revisionistische Politphilosophie eines Eduard Bernstein einen späten Triumph zu erleben, während dem radikaldemokratischen Rätesystem nur lokal begrenzte und allenfalls ephemere Erfolge beschieden waren. Wie nun das Land Hegels und Marx’ seinen Tod aufnahm, mit dieser Frage wandte sich das Berliner Büro der Iswestija, das 1917 gegrün-dete Organ des Präsidiums des Obersten Sowjets und Sprachrohr der regierungsamtlichen Außenpolitik, an Das Forum. Dieses wiederum, eine 1914 von Wilhelm Herzog als Sammel-becken der Kriegsgegner gegründete und Ende 1924, im Jahr des Lenin-Todestags also, ein-gestellte Zeitschrift mit einer prononciert linksutopischen Orientierung201, reichte die Frage an Prominente mit ganz unterschiedlichem beruflichem Background weiter – die Politik selbst

201 Während des Krieges war das Forum „’wegen Propagierung eines vaterlandslosen Ästhetentums und Europäertums’“ (zit. nach Nössig: 272) eine Zeit lang verboten. Im November 1924 erschien mit Heft 10-12 des 8. Jahrgangs die vorerst letzte Ausgabe. Einen Versuch, die Zeitschrift zu revitalisieren, sollte Herzog (1884 – 1960) im Oktober 1928, dem Gründungsmonat des BPRS, unternehmen. Der Schwerpunkt lag jetzt nicht mehr auf den Bereichen Politik und Wirtschaft, sondern auf denen von Kunst und Literatur. Im März des Folgejahres aber stellt er sie endgültig ein. (vgl. 271 ff.) Zwar war Herzog Mitglied der KPD, als publizistisch verlängerten Arm der Partei wollte er das Forum allerdings nicht verstanden wissen. Das für seine Beiträge charakteristische „Nebeneinander von Resignation und Kampfaufruf, utopischer Revolutionshoffnung und Einordnung in eine realistische Parteistrategie“ (273) schien seine politischen Weggefährten zu irritieren. Für die „Literaturdebatten“ ist Herzog „eines der markantesten

war vertreten durch Otto Bauer, die Geisteswissenschaft durch Georg Lukács, die Publizistik durch Maximilian Harden und Henriette Roland-Holst, die Literatur schließlich durch Hein-rich Mann. Veröffentlicht wurde der Rücklauf in der Februar-Ausgabe unter dem Titel „Urtei-le über Lenin“ (Das Forum, Jg. 8, Nr. 1-5, Februar 1924, S. 21 f.). Nicht al„Urtei-le der genannten Teilnehmer waren gestandene Kommunisten. Insofern dürften sie über den Verdacht, in die Rolle von Claqueuren gedrängt worden zu sein, erhaben gewesen sein. Warum sie sich dazu veranlasst sahen, dem strategischen Kopf der Oktober-Revolution trotz zum Teil erheblicher weltanschaulicher Differenzen ihre Referenz zu erweisen, soll im Folgenden näher untersucht werden.

Schon die Einbeziehung Bauers in die Rundfragenaktion war nicht ohne Brisanz. Mit seinem Namen war ein in Österreich-Ungarn eingeschlagener Sonderweg der Marxismusdeutung verbunden, der bei Lenin und den Bolschewisten auf lautstarken Widerspruch gestoßen war:

der Austromarxismus. Er stellte den Versuch dar, das Spektrum an ideengeschichtlichen Bündnisoptionen der Lehren Marx’ und Engels’ zu erweitern: um die Philosophie des Neu-kantianismus, um die Methoden des Positivismus, vor allem aber um den Ansatz einer parla-mentarisch-demokratischen Herrschaftsform. Vor allem an Bauers Positionierung in der Nati-onalitätenfrage und seine Parteinahme für das Prinzip der Mehrheitsherrschaft hatte sich im zeitlichen Gefolge der Oktober-Revolution der Konflikt mit Lenin entzündet. 202

Gemessen an dieser konfliktlastigen Vorgeschichte nimmt sich der Nekrolog für die „Iswesti-ja“ erstaunlich versöhnlich aus. Die auffallendsten Merkmale sind seine Differenziertheit und seine innere Balance. Bauer lobt die politische Lebensleistung des Verstorbenen, ohne dabei der Gefahr des Rückgriffs auf eine staatlich-offizielle Kondolenzphraseologie erlegen zu sein.

Ohne die Gebote der Pietät zu missachten, benennt er andererseits die Momente des politi-schen Zerwürfnisses zwipoliti-schen Lenin und den Vertretern des Austromarxismus. Formvollen-det entbietet er der russischen namens der österreichischen Arbeiterschaft seine Anteilnahme, gemeinsam trauere man „am Grabe des großen Revolutionärs“ und beuge sich „vor dem Ge-nius seines Willens, vor seiner die ganze Welt revolutionierenden Tat.“ Dann allerdings nennt er eine Differenz beim Namen: Der Austromarxismus habe geglaubt, dass die Hegemonie des Proletariats über die Bauernschaft in Mitteleuropa auf anderem Wege verwirklicht werden

Beispiele für den Rückfall auf kleinbürgerliche Positionen in der Zeit der relativen Stabilisierung.“ (278) Die wenigen Forum-Ausgaben der Jahre 1928/29 bezeichnen sie sogar „als Dokument des offenen Antisowjetismus und der Parteifeindlichkeit.“ (275)

202 Obwohl auch Karl Renner, Max und Friedrich Adler sowie Rudolf Hilferding, in den zwanziger Jahren in zwei Weimar-deutschen Kabinetten für das Finanzressort zuständig, einen Anspruch auf die geistige Vaterschaft des Austromarximus anmelden konnten, gilt Bauer (1882 – 1932) gemeinhin als sein „einflussreichste[r] Theoretiker und Praktiker“ (Böhm: 16). In „Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie“, seinem Erstlingswerk, hatte er die Lehren des Marxismus den politischen Bedingungen eines Vielvölkerstaats, wie ihn Österreich-Ungarn darstellte, anzupassen versucht. Aus dem dabei hochgehaltenen Prinzip der nationalen Selbstbestimmung hat er schließlich

müsse als in Russland. Trotzdem denkt Bauer viel zu historisch, als dass er die Langzeitwir-kung selbst von Konflikten dieser Größenordnung überschätzen würde. Die abschließende Referenz an die Französische Revolution enthält den Maßstab, mit dem auch die Russische gemessen werden soll: Auch Danton, Marat, Robespierre und Hébert seien zutiefst zerstritten gewesen und hätten einander dem Schicksal der Guillotine ausgeliefert. Genauso wie die Re-volution des späten 18. werde die des frühen 20. Jahrhunderts aus der Perspektive künftiger Generationen als eine monumentale historische Leistung erscheinen, als „gemeinsames Werk aller [...], ohne Rücksicht darauf, dass sie [die Arbeiterbewegung, L.-A. R.] heute zerfällt in eine von Kommunisten und revolutionären Sozialdemokraten.“203

Harden ist hinsichtlich seiner Weltanschauung weitaus schwieriger zu verorten. Im Nachwort einer von ihr unter dem Titel „Kaiserpanorama“ edierten Auswahl seiner journalistischen Ar-beiten reiht ihn Ruth Grenner in die lange Tradition der „bürgerlich-demokratischen Publizis-tik“ (Harden: 365) ein, in eine Ahnenkette, die sich von Tucholsky über den Schaubühnen-Gründer Siegfried Jacobsohn bis hin zu Büchner, Börne und Heine zurückverfolgen lässt.

Harden hatte Lenin mehr als einmal publizistisch die Referenz erwiesen. Seine Würdigungen bezeichnet Grenner als „eine der beachtlichsten Würdigungen Lenins aus dem nichtkommu-nistischen Lager.“ (362) Dieser Spagat passte ins Bild: Hardens Verständnis von Intellektuali-tät manifestierte sich in einem kulturell vielseitigen und massenwirksamen öffentlichen Enga-gement. Er war Schauspieler, Theaterkritiker, Kommunikator des russischen und skandinavischen Naturalismus und als Mitbegründer sowohl des Vereins Freie Bühne als auch des Deutschen Theaters einer der wichtigsten Impulsgeber der Entwicklung des Theater-standorts Berlin. Von der literarischen zur politischen Publizistik fand er mit der Kreation der Wochenzeitschrift Die Zukunft im Jahre 1892.204

die Forderung nach einem Anschluss des deutschsprachigen Teils des Habsburger-Imperiums an das Hohenzollern-Reich abgeleitet, eine Idee, an der er auch nach Kriegsen-de und Untergang Kriegsen-der Donaumonarchie festhalten sollte.

203 Eine Tonlage wie diese war bis dato eher ungewöhnlich gewesen. Den Bolschewismus hatte Bauer lange Zeit als Spielart der Despotie betrachtet. Er war davon über-zeugt, dass der Sozialismus in den Gesellschaften Mitteleuropas ob ihrer gewachsenen Strukturen allein auf dem Weg der Demokratie, nicht aber auf dem der Revolution durchgesetzt werden könne. Lenin wiederum stigmatisierte Bauer mal als gefährlichen Gegenspieler des proletarischen Internationalismus, der es verhindere, „dass auch nur etwas von den eng beschränkten nationalen Interessen zugunsten des Vormarsches der proletarischen Revolution geopfert“ (Lenin: 573) werde, mal als Symbolfigur einer Vereinigung der „Diktatur der Bourgeoisie mit der Diktatur des Proletariats“ (619), mal schlichtweg als „kleinbürgerliche[n] Demokraten“ und „Spielball in den Händen der Bourgeoisie“ (632).

204 Seine Beiträge für die Zukunft brachten Harden (1861 – 1927) den Nachruhm ein, sich „wie kein zweiter politischer Schriftsteller Deutschlands in der Wilhelminischen Ära ins Feuer öffentlicher Meinung“ (Harden: 328) gewagt zu haben. Ein Vierteljahrhundert lang hat Harden dabei „die Rolle des ‚Geistes, der stets verneint’“ (329), gespielt. Die Zukunft selbst war ein Blatt, „in dem politische Kritik immer mehr Kunstfertigkeit, ja die Artistik des Kritikers beweisen und erst in zweiter Linie eine bestimm-te politische Meinung unbestimm-ter die Leubestimm-te bringen sollbestimm-te“ (ebd.). Dieser „[a]rtistisch-exzentrische[] Oppositionsgeist“ (330) habe auch Hardens Beziehungen zur deutschen Arbeiterbewegung zwischen 1890 und 1918 belastet. Nicht zuletzt aufgrund seiner Bismarck- und Nietzsche-Verehrung lag er mit zahlreichen prominenten deutschen Sozialdemokraten, mit Bebel, Franz Mehring und Clara Zetkin, aber auch mit den Führern des revisionistischen Flügels, bald über Kreuz. Die offizielle Distanzierung der SPD von Harden und seiner Zeitschrift erfolgte 1903 auf dem Parteitag in Dresden. (vgl. 330 f.)

Die Oktober-Revolution selbst begleitete er mit Sympathie. In den Folgejahren sollte er „den Bolschewismus gegen alle Diffamierungen von rechts als einen ‚Gedankenbau ganz großen Stils’“ (361) verteidigen. 1921 unterschrieb er den Gründungsaufruf der Internationalen Arbeiterhilfe, der ersten Organisation überhaupt, der es gelang, „’Hun-derte von Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen, die mit dem Proletariat sympathisieren’“ (zit. nach Nössig: 389 f.), an sich zu binden.

Sein Nachruf ist ein Relief von ungemeiner sprachstilistischer Plastizität. Anders als Bauer fehlte Harden die zermürbende Erfahrung eines mit Lenin ausgetragenen Konflikts um die elementaren Fragen der Revolutionspolitik, nicht zuletzt deshalb ist sein Nekrolog völlig frei von Misstönen. Lenin sei nicht nur die „Fahne“ der Revolution, nicht allein ihr „Symbol“, er sei die „Sache“ selbst gewesen. Gefeiert wird der Verstorbene mit einem menschheitsge-schichtlichen Rundumschlag: Er sei der „Paulus des russischen Sozialismus“ gewesen, eine Gestalt titanenhaften Formats, die genau wie Cromwell, Bonapartes und Bismarck schon zu Lebzeiten den Status der Unsterblichkeit erreicht hatte. Auch um Vergleiche aus Literatur und Mythologie ist der Beitrag keineswegs verlegen:

„Aus der Ilias der russischen Revolution“ werde „‚Iljitsch’ als ein moderner Ilja von Murom vorstrahlen, in dem alle Kräfte der Heimatnatur, tellurisch und psychische, sich verkörpern und der wie das Hirngebilde eines Homer, nicht wie ein dem Weibsschoß Entbundener, durch die Zeiten glänzt.“205

Den zu erwartenden Einwand, dass man als Bürger „einen Kommunisten“ allenfalls unter starkem Vorbehalt bewundern dürfe, bezeichnet Harden als „kleinliche[n] Stumpfsinn“. In Schutz nimmt er Lenin vor allem gegen den Versuch, ihn auf dem Weg der Differenzierung zu diskreditieren: Lenins „’Gutmütigkeit’“ sei mehr als ein „Nebenprodukt satten Kraftbe-wusstseins“ gewesen, er sei ein großer Redner und Boxkämpfer gewesen und hätte trotzdem über einen klaren Verstand und eine außergewöhnliche Phantasiebegabung verfügt.

Lenins Leben schien nach einer Dramaturgie verlaufen zu sein, wie sie kaum ein Dichter hätte effektvoller gestalten können, nun werde, so Hardens Prognose, die „Volksphantasie“

unaufhaltsam daran fortschreiben. Aufgrund seiner historischen Leistungen braucht Lenin den Vergleich mit anderen Akteuren der Neugestaltung der Nachkriegsjahre nicht zu scheuen, er habe „den Zarismus der zweiten Nicolai-Ära erschlagen und [...] zwei große Kaiserreiche mitgerissen“, um den Kontinent anschließend neu zu gestalten; „sogar die Ebert, Horthy, Pri-mo de Rivera konnten nur werden, weil Lenin war.“206 Bei allen Rückgriffen auf die illustren Namen der abendländischen Geistes- und europäischen Gegenwartsgeschichte bleibt in Har-dens Beitrag für das Forum der Mensch Lenin nicht unberücksichtigt. Wie kaum jemand vor ihm habe es Lenin vermocht, „aus Lehre und Leben, scheinbar mühelos, [...] die wundervolls-te Einheit“ herzuswundervolls-tellen. Er war nicht nur die Schlüsselfigur der Ereignisse im Russland des Jahres 1917, für „hundert Millionen mühselig werktätiger Menschen“ war er „‚Iljitsch’: Vater,

205 Ilja aus Murom ist eine Heldengestalt der Kiewer Tafelrunde. Dank seiner übernatürlichen Kräfte befreite er das besetzte Kiew und verteidigte Tschernihiw, eine der ältesten und bedeutendsten Städte des Kiewer Rus, gegen die Tartaren.

206 Miklós Horthy hatte den militärischen Widerstand gegen die Ungarische Räte-Republik koordiniert und war nach deren Sturz im März 1920 zum Reichsverweser gewählt worden. Primo de Rivera y Orbaneja, wie Horthy ein ranghoher Militär, hatte in Spanien 1923 ein diktatorisches, auf seine Person zugeschnittenes Regierungssystem installiert.

Bruder, Freund, Wächter und Lehrer in einer Person; und Unzähligen, bis in Asiens dunkels-ter Tiefe, das Leuchtfeuer ihres Hoffens.“ Da er stets das Wohl der Allgemeinheit im Auge gehabt hatte, kann er auch, so Hardens feste Überzeugung, künftigen Generationen als der Titan im Gedächtnis bleiben, der den Göttern das Feuer abtrotzte und es den Menschen brach-te. Noch aus der Gruft rufe er „mit prometheisch unberechenbarem Trotz [] in die neue Pflicht eines neuen Tages.“

Auch die Referenz, die Lukács Lenin erweist, ist mehr als überschwänglich. Überraschend ist das nicht. Anders als aus den Zeilen Hardens spricht aus denen des gebürtigen Budapesters schließlich ein prinzipienfester Marxist. Einen Namen gemacht hatte sich Lukács schon zum Zeitpunkt der Rundfrage als Autor zahlreicher Beiträge über Philosophie, Literaturgeschichte und Ästhetik, aber auch als führendes Mitglied der ungarischen KP.207 In den Jahren nach dem Sturz der Räteregierung durch das Horthy-Regime setzte er sein politisches Engagement in der Illegalität fort. Gleichzeitig vertiefte er seine Auseinandersetzung mit den Hauptquellen der marxistisch-leninistischen Weltanschauungslehre; 1923 erschien „Geschichte und Klas-senbewusstsein“, eine Schrift, die eine ideengeschichtliche Analyse des bürgerlichen Be-wusstseins mit der Prophetie vom baldigen Anbruch des Zeitalters eines messianischen Sozia-lismus verbindet, 1924, kurz nach dessen Tod also, die Schrift „Lenin. Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken“.208 In der Spätphase der Weimarer Republik sollte Lukács, ab 1931 Wahl-Berliner und führendes Mitglied des BPRS, auch die LK mit zahlreichen Bei-trägen zur Kultur- und Kunsttheorie versorgen.

Der Eindruck einer hagiographischen Miniatur bleibt selbst dann bestehen, wenn man sich die Umstände vergegenwärtigt, unter denen Lukács seinen Nachruf auf Lenin zu Papier brachte. Seit der Veröffentlichung von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ im Vorjahr hat-te er mit dem Stigma des „Ultralinken“ zu leben.209 Die im Februar 1924 erschienene Lenin-Studie deutet sein Biograph Jung als sublimen Ablassbrief, als Versuch, zumindest „implizit manches Theorem aus GK [Geschichte und Klassenbewusstsein, L.-A. R.]“ (Jung: 103) zu widerrufen. Der Beitrag für das Forum ist Fleisch aus dem Fleisch dieser zweiten Arbeit, er paraphrasiert Teile aus deren Kapitel „Die Aktualität der Revolution“. Einen Schwerpunkt

207 Lukács’ intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit den Schriften Marx’, Rosa Luxemburgs und dem Anarcho-Syndikalismus geht auf die Jahre 1914/15 zurück. Im Dezember 1918, gleich nach ihrer Gründung, trat er der KPU bei. In den wenigen Monaten, in denen sich die Räterepublik in Ungarn behaupten konnte, fungierte er als stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen. Da Zsigmund Kunfi, der eigentliche, sozialdemokratische Volkskommissar, seinen Amtsgeschäften krankheitsbe-dingt kaum nachzugehen imstande war, war es Lukács, der sich als prägende Figur der ungarischen Bildungspolitik dieser Übergangszeit profilieren konnte. (vgl. Jung 1989:

83 f.)

208 Seine politischen Aktivitäten in den Nachkriegsmonaten hatten ihn zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit Marx’ ökonomischen Schriften veranlasst. (vgl. Lukács 1967: 327) In „Geschichte und Klassenbewusstsein“ habe er, wie er 1933 in „Mein Weg zu Marx“ schreibt, den Übergang von einem „ultralinks-subjektivistischen Aktivis-mus“ zur Würdigung der „materialistische[n] Seite der Dialektik“ (ebd.) markiert. Sein intensives Lenin-Studium schließlich habe Ende der zwanziger Jahre die dritte Phase seiner Beschäftigung mit Marx eingeleitet, damals erst sei ihm der „umfassende und einheitliche Charakter der materialistischen Dialektik konkret klar geworden.“ (328)

setzt Lukács in seinem Nekrolog auf die Verteidigung Lenins gegen die Fundamentalkritik seiner weder namentlich genannten noch ideologisch präzise verorteten Gegner. Mit Marx teilte Lenin die Erfahrung der Infragestellung der Zulässigkeit einer Ableitung überzeitlicher Gesetze aus der Analyse der Funktionsmechanismen einer territorial und epochal klar defi-nierten Einzelgesellschaft. Der konkrete Vorwurf, mit dem sich Lenin immer wieder konfron-tiert sah und den Lukács mit Kopfschütteln quitkonfron-tierte, war der, er habe, wie vor ihm schon Marx im Falle der englischen, die Beschreibung der russischen Industrie zum Ausgangspunkt seiner Geschichtsphilosophie gemacht, und zwar völlig ungeachtet ihrer nationalstaatlichen Besonderheiten. Der Zweifel an der Abstrahierbarkeit historisch konkreter Erfahrungen muss-te den Marxismus ins Mark treffen. Für seine Anhänger galt es als ausgemacht, dass die phi-losophische Kategorie Materie das Ergebnis einer „Abstraktion und Verallgemeinerung der praktischen Erfahrungen und vieler Erkenntnisse der Wissenschaft“ (Kosing: 150) war und dass „[d]ie allgemeinen Aussagen der marxistisch-leninistischen Philosophie über die objek-tiv-gesetzmäßige Ordnung der Welt“ (318) auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens übertragbar waren. Lukács’ Versuch, beide, sowohl Marx wie auch Lenin, gegen Zweifel an ihrer Abstraktionsberechtigung zu verteidigen, entgleitet allerdings ins Irrationale. Was seiner Ansicht nach beide über jede Kritik erhaben macht, ist ihre politische Genialität, beide seien

„Genies in weltgeschichtlichem Maßstabe“ gewesen, beide hätten dank ihrer singulären intel-lektuellen Fertigkeiten „im Mikrokosmos eines Landes die Probleme des Makrokosmos der Gesamtentwicklung hellseherisch erblickt. Natürlich hätte deshalb auch keiner jemals „bloß örtlich richtiges ‚generalisiert’.“

Ein anderer Rundbefragter wird gemeinhin zu den Symbolfiguren des Weimarer Linksbür-gertums gezählt: Heinrich Mann. Sein Beitrag reicht in seinem Anspielungs- und Bezugs-reichtum weit über den eigentlichen Schreibanlass hinaus, dem Autor des „Untertans“ schien er die Möglichkeit zu bieten, sich neben der Lebensleistung Lenins einmal mehr mit dem Reinheitsgrad des demokratischen Bewusstseins im nachwilhelminischen Deutschland zu befassen.210

Idee, Geist und Vernunft – kaum eine der schon aus Manns politischer und kulturkritischer Essayistik der Kaiser- und frühen Nachkriegszeit vertrauten Schlüsselvokabeln, an denen sich nicht auch Lenin messen lassen müsste. Möglicherweise wirkt er in Manns Nekrolog deshalb

209 Als „Ultralinken“ hatte Sinowjew den Verfasser von „Geschichte und Klassenbewusstsein“ auf dem V. Weltkongress der Komintern 1924 in Moskau gebrandmarkt.

(vgl. Jung: 102 f.)

210 Mann hat seinen Nachruf auf Lenin zusammen mit einem Beitrag über die Oktober-Revolution in seinen Essayband „Sieben Jahre“ aufgenommen und beide unter den Titel „Antworten nach Russland“ gestellt (vgl. H. Mann 1994: 159 ff.) Auch im Falle des zweiten Textes handelt es sich um die Reaktion auf eine Rundfrage, diesmal von der Krasnaja Novi zum Thema „Der Westen über die Oktoberrevolution“, publiziert ebd. am 2. November 1924 (vgl. 571).

fast wie eine Kunstfigur. Wie jeder bedeutende Reformator und Revolutionär scheint auch er zum Spielball einer tragischen, durchaus dramentauglichen Fügung geworden zu sein. Seine

„Treue zu einem ungeheuren Werk“ hat ihn in das Dilemma gebracht, „gegen alle, die es stö-ren wollten“, entweder mit „Unerbitterlichkeit“ vorzugehen oder mit ihm unterzugehen. Lenin habe sich für die Unerbitterlichkeit entschieden, einen dritten Weg zu beschreiten, scheint er niemals ernsthaft erwogen zu haben. Eingedenk der Treue müsse er, so Mann lakonisch, die

„Unerbitterlichkeit gelten lassen.“ Das menschheitsverbrecherische Niveau der Säuberungs-wellen der Stalin-Ära hatte sie sicher noch nicht erreicht, deshalb hinterlässt eine Verteidi-gungsrede wie diese allenfalls einen schalen Beigeschmack. Für den Autor des „Professor Unrat“ war Lenin schlichtweg der richtige Mann zur richtigen Zeit. Im gerade erst

„Unerbitterlichkeit gelten lassen.“ Das menschheitsverbrecherische Niveau der Säuberungs-wellen der Stalin-Ära hatte sie sicher noch nicht erreicht, deshalb hinterlässt eine Verteidi-gungsrede wie diese allenfalls einen schalen Beigeschmack. Für den Autor des „Professor Unrat“ war Lenin schlichtweg der richtige Mann zur richtigen Zeit. Im gerade erst