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Verschränkungen: Blicke und Ausgewechselt-Werden

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 81-85)

3 Textanalysen 1: Unheimliche Farmhäuser

3.2. Rachel Zadok: Gem Squash Tokoloshe (2005)

3.2.2 Verschränkungen: Blicke und Ausgewechselt-Werden

Die Kreaturen auf der Farm verkörpern eine unsichere Trennung von real und irreal, sie sind wechselhaft sichtbar oder unsichtbar, lebendig oder nur auf den von Bella gemalten Bildern festgehalten. Durch wechselseitige Blicke scheinen sie belebt zu werden und Macht auszuüben. Faith befürchtet, wenn sie den Kreaturen in die Augen sähe, würden diese von ihr Besitz ergreifen und ihren Körper besetzen. Es gibt es mehrere Hinweise darauf, dass mittels von Blicken Verkehrungen stattfinden könnten, so wie in der folgenden Textstelle:

I stared at the window for a long time, until the silky reds of dusk drew the last light from the sun. Twilight, the fairy time. I turned, stepping out from behind the shed, until I could see the silhouettes of citrus trees, cut-out against the burning sky. They called to me, in the way I imagined the fairies called to mother. The orchard was where Dead Rex reigned and somewhere in that orchard, perhaps inside trees, the souls of his victims were trapped.

Suddenly everything made sense. Dead Rex had stolen mother's soul:

perhaps she'd accidentally looked him in the eyes. (Zadok 2005, 82)

Auch die Blicke ihrer Mutter verstören Faith, denn sie ist nicht sicher, ob es sich wirklich um Bella handelt: „‚Are you afraid of me, Faith?‘ Her voice was like a deep bell, so much like my mother's voice that if I closed my eyes I would be able to conjure her on that sound alone. I looked at the woman who sat in front of me now and asked myself the same question.“ (Zadok 2005, 99)

Das literarische Motiv der unheimlichen Blicke entspricht der psychologischen Form von Heimsuchung wie in 2.1.1 dargelegt. Die Tradition des Motivs in der Literaturgeschichte geht mit den Annahmen einher, dass die Augen ein Spiegel oder Tor der Seele seien und man durch sie in einen Abgrund oder eine Leere blicken könne(Johnson 1995, 11). Faiths Angst vor den Blicken der Kreaturen und ihrer Mutter lässt sich mithilfe von Royles Ausführungen über dieses Motiv erklären: Royle bezieht sich auf die Deutungsgeschichte von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ (1816): In dem Text habe der Protagonist die in Kindheitserlebnissen begründete Angst, seiner Augen beraubt zu werden. Er verliebe sich in eine künstliche Frau und verliere sich schließlich in dem Wahnsinn seiner unsicheren Betrachtungen. Der Psychologe Ernst Jentsch formuliere diesbezüglich in seinem Aufsatz

„Über die Psychologie des Unheimlichen“ (1906) eine Unsicherheit des Lesers darüber, inwieweit literarische Figuren generell lebendig oder vielmehr automatisch und gesteuert seien.(Royle 2003, 39-40) Freud gehe, so Royle, in „Das Unheimliche“ noch einen Schritt darüber hinaus und spreche dem Text eine Unheimlichkeit dahingehend zu, dass von der Angst erzählt werde, man könne seiner Augen beraubt und dadurch fehlgeleitet, „blind“ in seinen Betrachtungen werden.34 (Royle 2003, 39-41) Das Motiv des Blickes zielt in diesem Sinne auf eine Unsicherheit zwischen eigener Wahrnehmung und Außenwelt ab. Es tut sich, so Royle, eine tiefe Verunsicherung darüber auf, was wirklich „da“, also äußerlich vorhanden und real ist (Royle 2003, 45). Solche möglicherweise trügerischen Blicke erzeugen eine spezifische Erfahrung der Liminalität, sie werfen Fragen um eine mögliche Abgrenzung von innen und außen, Einbildung und Realität auf.

In Gem Squash Tokoloshe äußert sich das besonders durch Faiths Angst vor den Blicken ihrer Mutter:

34 Anm.: Ironischerweise, so erklärt es Nicholas Royle, sei es genau das, was in Freuds Interpretation geschehe. Denn Freud formuliere eine kurze Zusammenfassung von „Der Sandmann“, in welcher er nicht auf die multiplen und höchst interessanten Erzählperspektiven des Textes einginge. Für Freud stehe seine eigene Angst im Vordergrund, also die Reaktion, welche die Lektüre von „Der Sandmann“ in ihm persönlich auslöse. So bleibe Freud seinem eigenen Fokus auf die Angst vor dem Verlust der Augen, welche er in Bezug zu Kastrationsangst stellt, verhaftet. Freud habe somit selbst einen „starren“ Blick. Seine Zusammenfassung des Textes mit dem Unterschlagen der vielschichtigen Erzählperspektiven komme, so Royle, einer

She looked back at me, narrowing her blue eyes. Her focus bored into me, unblinking, drilling through my skin into my gut until my stomach twisted into a knot. I looked away, trying to break her stare, but she didn't move and i was forced to look back up at her. I felt a twinge of fear as I watched her, tall and sturdy, her hair white snakes uncoiling over her shoulders. I couldn't take my eyes off her, fearing that if I did she would turn into something bad, something that was not my mother.(Zadok 2005, 15)

Neben der Unsicherheit der Protagonistin darüber, ob ihre Mutter von den fairies besessen sei, finden sich weitere Variationen des Motivs: Faiths hat Angst, durch das Anblicken der Kreaturen von denselben „eingenommen“ zu werden, was insbesondere Dead Rex betrifft.

Daher warnt sie ihren Hund:

Never look him in the eyes. [...] He'll lock you away inside your head and you'll be able to see everyone else, but no one will be able to see you. [...]

And you won't be able to move, no matter how hard you try, not your arms or your legs, you won't even be able to turn your head. (Zadok 2005, 9)

Eine andere Variation sind die Bilder fehlender Augen, wie etwa im Falle eines Traumes von Faith über ihre Mutter, die sie aus leeren Augenhöhlen anschaut (Vgl. Zadok 2005, 77). Für Faith enthalten jedoch nicht nur Augen, sondern auch sämtliche Winkel und Hohlräume des Hauses eine höchst unheimliche „Füllung“:

In the periphery of my vision I could see the heads of the bad fairies that crowded into the room through holes they had gnawed in the floorboards.

They bowed down, ducking their jaundiced heads under the fragmented edges of the wooden boards. I heard Mother's voice, soothing them: „Come back, come back to me.“ No, I wanted to cry out, but my tongue felt too thick to speak, swollen by my poison. No, Ma, don't call them. All around I saw them, nesting in their holes under the house, little tar-black babies clutched to turmeric breasts, swarming, like wasps in a hive, crawling over each other in their eagerness to get closer to Mother. (Zadok 2005, 80)

Faiths Heimat wird diesen Eindrücken nach völlig von den Kreaturen durchdrungen. Die bedrohlichen Eindringlinge sind nun nicht außen oder auf der Schwelle ihrer Heimat, sondern bereits im Inneren.

Eine Ausnahme stellt der Schrank ihres Vaters dar, in dem dessen letzten verbliebenen Sachen eingeschlossen sind. In Faiths Versuchen, den Schrank zu öffnen, äußert sich das in den Vorüberlegungen eingeführte locked-trunk motif: Der für sie verbotene Schrank bedeutet für Faith Hoffnung und einen Rest ihrer eigenen Heimat. Sie findet nach

tagelanger Anstrengung einen Weg, ihn endlich öffnen. Dabei hat sich die Erwartung aufgebaut, hier könne sich ein Geheimnis auflösen oder ein Ausweg für das Mädchen finden. Das vermittelt die Protagonistin, indem sie sich ein Schlupfloch aus der bedrückenden alltäglichen Ordnung ausmalt.

I'd been playing this game of spy for three days now, ever since I'd found the key to the secret cabinet. The secret cabinet was the only place in the house I'd never been able to explore. it was a no-go area, a wooden cabinet with ball-and-claw feet and straight sides that arched at the top, and it stood, a grim-faced sentry, against the wall in the sitting room. To me it was like the doors in Alice in Wonderland, doors that led to who knew where. It was a door that wouldn't let me in. It had never been opened in my presence, and if I happened to be in the room when someone wanted to open it, I was told to go and play somewhere else. [...] I fantasized about what might be inside, maybe a magic wand, maybe it was full of treasure, or a map that would lead to buried treasure, or even a doorway to a secret tunnel. It could be anything, my imagination ran wild. (Zadok 2005, 149-150)

Anstelle dessen findet Faith ein Fernglas und ein Gewehr. Das Fernglas benutzt sie als Medium zu dem abwesenden Vater, als Bella Besuche von dessen altem Freund Piet bekommt. Dieser nähert sich Bella allmählich an, und Faith fürchtet, er wolle ihren Vater ersetzen. Sie benutzt das Fernglas als Substitut für die Augen ihres Vaters und setzt damit die empfundene Verschränkung durch Augen selbst fort: „Spying on them through Papa's binoculars made me feel I had a little hope left. I knew it was stupid, but I hoped that somehow, because the binoculars were like eyes and these eyes belonged to Papa, Papa would see what Oom Piet was doing and come back to stop it.“ (Zadok 2005, 159)

Während einer dieser Beobachtungen durch das Fernglas glaubt Faith, am Staub des Farmlands zu ersticken (Vgl. Zadok 2005, 142). Hier deutet sich eine Verkehrung von Land und Körper an, die sich fortsetzt, wenn Faith als Erwachsene wieder heimkehrt.

Auf Faiths Beobachtungen folgt ein Bruch in der Handlung: Abends geht Bella mit Piet aus. Als Faith am nächsten Morgen wach wird, ist sie verletzt, kann sich aber an nichts erinnern. Sie findet ihre Mutter völlig aufgelöst in der Küche vor, Oom Piet ist weg. Kurz darauf stellt sich heraus, dass Nomsa in ihrem Zimmer erschossen wurde (Vgl. Zadok 2005, 167-168). Damit endet der erste Teil des Romans, der Faiths Kindheit beschreibt.

Aus dem Geschehnissen des zweiten Teils lässt sich nach und nach rekonstruieren, dass Bella die Schuld für Nomsas Tod auf sich nahm und fortan in einem psychiatrischen

Krankenhaus lebte. Was wirklich in dieser Nacht geschah, erklärt sich erst auf den letzten Seiten, die nicht mehr von Faiths, sondern von Dead Rex's Perspektive handeln. Es stellt sich heraus, dass Piet Nomsa vergewaltigte. Dead Rex wurde durch diese Tat in das Haus gelockt und beeinflusste die kleine Faith, zu Nomsas Zimmer zu gehen und zuzusehen, woraufhin Faith mit dem (zuvor von ihr im Schrank gefundenen) Gewehr ihres Vaters auf Piet zielte, aber versehentlich Nomsa erschoss. Faiths Schock und ihre Verletzung an der Schulter, die auf einen Rückstoß des Gewehrs schließen lässt, sind die einzigen Andeutungen, die sich dazu in der Handlung finden lassen.

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 81-85)