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Spuren und Löcher

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 71-76)

3 Textanalysen 1: Unheimliche Farmhäuser

3.1 Richard Kunzmann: Salamander Cotton (2006)

3.1.5 Spuren und Löcher

Spuren stellen die in einem Kriminalroman dramaturgisch notwendigen Anteile des Rätsels und seiner Auflösung dar. Wie ich bezüglich des dritten Strukturmerkmals dargelegt habe, können Spuren der Auslassung eine „anwesende Abwesenheit“ repräsentieren. Im Roman finden sich Löcher und Auslassungen sowohl in der Form von Verborgenem als auch in Form räumlicher Löcher.

Das Verborgene teilt sich in zwei Gruppen auf: Es gibt die Dinge − wie die Gerüchte über Claudettes Spuk − die über mehrere Generationen hinweg nicht ausgesprochen werden sollen, aber immer wieder angedeutet werden: „I said it spreads real quick, which means I don't like it spreading further, which means I don't want to be talking about it.“ (Kunzmann 2006, 163) In solchen Aussagen liegt eine unfreiwillige Komik − aber durch ihre Wiederholung wirken sie wie eine Beschwörung dessen, was eigentlich Ungesagt bleiben sollte: „‚I'd appreciate if you don’t talk about ghosts and haunted houses in front of my daughter.‘ ‚Ghosts?‘ ‚Yes, fucking ghosts. I don't want you encouraging them, you hear me?‘“ (Kunzmann 2006, 152) Daneben gibt es die Dinge, über die innerhalb der Familie Erasmus gänzlich geschwiegen wird, wie Willies Krankheit und seine Zusammenarbeit mit Sheik Kheswa, wenngleich sich diese Geheimnisse im Zuge der Investigation auflösen.

Bei alledem kreist Harry selbst relativ hilflos an der Oberfläche, mit dunklen Ahnungen und der melancholischen Besetzung durch seine tote Frau beschäftigt. Seine Spurensuche hat viele dead ends, ständig „wittert“ er etwas, anstatt tatsächlich etwas auszugraben, wie wenn er den Garten des Farmhauses inspiziert: „The unmistakable miasma of death arises from near the spot [...] Harry heads to the direction of the odour, and spots a deep hole in the ground, flies buzzing over it, and two dung beetles scampering around its rim.“ (Kunzmann 2006, 188) Tatsächlich liegt Claudettes Skelett in einem solchen Brunnenloch unter toten Tieren begraben. Harry nähert in der zuletzt zitierten Textstelle einem dieser Löcher, aber lässt alsbald wieder davon ab (Vgl. Kunzmann 2006, 188). Die Anzahl solcher räumlichen Löcher ist groß − meist stellen sie ein Grab oder die Suche nach einem solchen dar, aber auch Asbestminen und vergebliche Brunnenbohrungen unterhöhlen den erzählten Raum. Willie Erasmus wirft seit Jahren die verstorbenen Tiere

der Farm in solche Löcher, in der Hoffnung, dass sich ihre Krankheiten auf diese Weise nicht verbreiten. Auch im Keller werden Löcher auf der Suche nach Claudettes Skelett ausgehoben. Hier wurde sie zuletzt lebendig gesehen als ihr Vater sie einsperrte, um zunächst José Cauto zu bestrafen. Da sie seither verschwunden blieb, generierte sich der Keller zu einem Bezugspunkt lokaler Mythen. Die Spurensuche des Detektivs und von José Cauto verlaufen überwiegend hier, daher wiederum auch ihre gegenseitige Verfolgung. Auf diese Weise sind Spuren und Löcher im Text miteinander verwoben.

Ohnehin eignen sich Keller in der Literatur gut für einen Effekt des Unheimlichen: Gaston Bachelard widmet dem Dualismus von Keller und Dachboden einige Ausführungen, in denen er die psychologischen Theorien C.G. Jungs aufgreift. Demnach sind beide Räume mit Ängsten besetzt. Ähnlich wie ein Dachboden wird ein Keller für die Lagerung desjenigen genutzt, was die Bewohner nicht in der alltäglichen Ordnung ihrer Wohnräume haben wollen und aussondern. Bachelard unterscheidet jedoch: „Im Speicher kann die Erfahrung des Tages immer wieder die Ängste der Nacht auslöschen. Im Keller verharren die Dunkelheiten Tag und Nacht.“ (Bachelard 2011, 44) Das Ausgesonderte wird also still und gleich bleibend im Keller konserviert. Das lässt an das Unbewusste denken und, wie Bachelard darlegt, an eine Phänomenologie der Angst: „Dann ist der Keller vergrabener Wahnsinn, vermauertes Drama. Die Berichte von Verbrecherkellern hinterlassen im Gedächtnis unauslöschliche Spuren, die man nicht gerne vertieft [...].“ (Bachelard 2011, 45) Entsprechend verhält es sich im Falle des Kellers im Farmhaus, auch wenn Claudette tatsächlich in einem Loch im Garten liegt.

Wie sich schließlich herausstellt, wurden sowohl Claudette als auch Bernard Klamm vom selben Täter getötet: Obed, ein Junge aus der Arbeitersiedlung der Farm, begann mit Claudettes Mord seine Rache an ihrem Vater. Obeds Vater hatte in Klamms Minen gearbeitet und war nach einem Arbeitsunfall vor den Augen des Sohnes verblutet, weil es Klamm zu lästig war, ihn ärztlich versorgen zu lassen. Obed tötete Claudette heimlich im Keller, während ihre Eltern José Cauto bestraften, und warf ihre Leiche in ein Brunnenloch, wo sie im Laufe der Jahre von Tierkadavern bedeckt wurde (Vgl. Kunzmann 2006, 392-393, 407). Sie wurde niemals wirklich gesucht, weil zwischen Klamm und der Polizei die Vereinbarung bestand, Cauto zu verurteilen und die illegitime Beziehung des Paares einfach zu vertuschen. Das bedeutet, dass Apartheidsgesetze, beziehungsweise die Umsetzung derselben auf privater Ebene, den ursächlichen Bruch bedingten und Strategien

des Verbergens dessen Konsequenzen streute: Trotz einer Aufklärung des Kriminalfalles und des Rätsels um Claudette, und obwohl sich ein neuer Anfang wenigstens für Martha und Zelda Erasmus andeutet, bleiben Heimsuchungen bestehen:

A few steps forward ... and a few back; Harry has realized he will be haunted for a long time yet by his wife's death, just as the community around Leopold Ridge will continue to bear the scars of its asbestos history, and will tell the story of the haunted girl who passed on her unhappiness to succeeding teenagers. Cauto was haunted by the love he lost, as Campbell could never forget her own fateful role in the disappearance of her daughter, and as Obed had kept alive a burning vengeance for the death of his father.

All these thoughts revolve like a dance in Harry's head: steps forward, steps backward, some twirls and circles coming to an end, some of them destined to be repeated. (Kunzmann 2006, 436)

3.1.6 Zwischenfazit

1. Ordnung

Der Roman präsentiert ein literarisches Heim, das aufgrund von mehreren unterschiedlichen Faktoren verstörend wirkt. Dies führt zu einem ausgeprägten ästhetischen Effekt des Unheimlichen, der in der Ordnung dieser erzählten Heimat als von vornherein gegeben erscheint. Familie Erasmus kann die Farm weder instand halten noch ihre Grenzen verteidigen, ihr Zuhause wird von mehreren Seiten zugleich eingenommen.

Aufgrund ihrer Strategien des Verbergens können sie sich nicht wehren, beispielsweise nicht die Polizei rufen, weil Willies Geschäft mit der Bande dies verbietet. Frieden in einer Heimat hat keine der Figuren im Roman gefunden, alle wirken displaced an ihren Handlungsorten und stören oder verstören andere. Die Obrigkeit von Willie Erasmus als Gastgeber wird schon innerhalb seines Hauses doppelt in Frage gestellt durch zwei Figuren, die diejenigen Aspekte an die Oberfläche bringen, welche der Gastgeber selbst zu verbergen sucht. Dabei tauschen die beiden, José und Harry, wiederum untereinander ihre Rollen als Verfolger und Verfolgter. Das Farmhaus selbst wirkt karg und bedrohlich, Mutter und Tochter empfinden ihr Leben dort als ausweglos, der Vater erst recht, da er aufgrund seiner Arbeit mit dem Asbest bald sterben muss. Die vielen Löcher auf der Farm verkörpern als leere Gräber, Verstecke im Farmhaus oder auf der Suche nach einem Skelett ausgehobene Löcher eine Spurensuche mitsamt falscher Fährten. Insgesamt stellt sich der erzählte Raum als ein die problematische Vergangenheit konservierendes Behältnis dar.

2. Störungen

„Mehrdeutige Störungen in (Wohn-) Räumen“ finden in allen drei Formen, die das erste Strukturmerkmal gemäß dieser Arbeit annehmen kann, zugleich statt: Auf psychologische Weise bei dem von seiner Frau heimgesuchten Detektiv, durch eine Gast-Besetzung und ihr mehrdeutiges Spiel zwischen Gastgeber und Gast, sowie in der kontextorientierten Form: Die erzählte Heimat wird von Eindringlingen wie José, der Bande und dem wenig willkommenen Gast Harry regelrecht durchdrungen und weist mehrere Merkmale des gothic mode auf. Dadurch, dass alle Formen des ersten Strukturmerkmals vorzufinden sind, ist das Unheimliche im Text allgegenwärtig, aber auch diffus.

Das zweite Strukturmerkmal der „wiederholten Hinweise auf einen ursächlichen Bruch“

findet seine Form nicht in einem Trauma. Das könnte der Fall sein, wenn man dieselbe Geschichte anders erzählt, aber der Roman weist eine relativ geringe psychologische Anbindung an seine Figuren auf. Durch das breite Spektrum an politischen, historischen und individuellen Umständen präsentiert Salamander Cotton viel eher ein Panorama der Heimsuchungen: Die wiederholten Hinweise sind vielgestaltige Facetten auf mehreren Ebenen, zugrunde liegt ihnen nicht ein ursächlicher Bruch, sondern mehrere, deren

„Streuung“ ein allgemeines Mit-Sein von Gegenwart und Vergangenheit erfordert. Im Bezug auf die konkrete südafrikanische Situation werden Brüche thematisiert, die sich in den staatlichen Gesetzen der Apartheid und in ihrer privaten Umsetzung begründen: die gewaltsame Trennung von José und Claudette, die aus der Segregation und Minenarbeit resultierende Entwurzelung von Menschen, im weiteren Sinne auch der border war und das daraus folgende displacement der Angolaner. Diese Brüche sind jedoch nicht in dem Sinne kontextorientiert, dass von der erzählten Gegenwart des Romans aus verklärte Rückschauen in die Vergangenheit stattfinden. Die kontextorientierte Form wird dadurch geschwächt, dass die vielen Handlungsstränge zum Eindruck einer Allgemeingültigkeit des Spukhaften führen. Selbst der Bruch, den die Strafe an Claudette und José Cauto darstellt, wurde durch Claudettes vereinsamte Lage auf der Farm und gegenüber ihrem Vater mit bedingt. Diese Faktoren sind thematisch im Roman ausgebreitet und entwickeln sich durch die erzählte Zeit hindurch weiter. Daher, sowie aufgrund der inhaltlich evozierten Nähe von „Geist“ und „Geistern“, argumentiere ich, dass sich das zweite Strukturmerkmal in Salamander Cotton zuvorderst in Form der Spektralität ausdrückt.

Das dritte Strukturmerkmal der „problematischen Innen-Außen Konfiguration“ besteht deutlich in den Formen des Verborgenen und der performativen Auslassungen. Die Spannung in der häuslichen Ordnung und das Perpetuieren der Heimsuchungen begründen sich dadurch, dass vieles nicht gesagt werden darf. Diese Tabus betreffen besonders Zelda, die nicht ausdrücken kann, was wirklich mit ihr geschieht. Die Figuren verharren oft in angstvollen Schrecken, Schweigen und Zaudern, letzteres wird im Falle des Detektivs wiederum durch dessen melancholische Besetzung begünstigt − er ist häufig mehr mit seinen inneren Vorgängen beschäftigt als mit der Auflösung des Falls. Nicht nur äußere Grenzen und Ordnungen des erzählten Raumes werden in Frage gestellt, auch zwischen dem Detektiv, dem Gastgeber und dem verfolgten Eindringling im Keller verschwimmen die Abgrenzungen. Sogar im Bewusstsein des Detektivs sind innen und außen nicht klar voneinander zu trennen, wie sich anhand seiner Visionen zeigt. Löcher und Behältnisse spielen eine Rolle im Sinne des locked-trunk motif in der Kriminalhandlung sowie in der räumlichen Gestaltung mehrdeutiger Spuren im Roman.

3. Auflösung

Im Laufe der Ermittlungen erscheinen Bruchstücke der Vergangenheit und ihrer Konsequenzen, die man als Spektren früheren Unrechts verstehen kann. In der erzählten Gegenwart werden sie gerade durch eine Verneinung ihrer Existenz heraufbeschworen:

José Cauto ist kein Dämon, sondern versucht Claudettes Verschwinden aufzuklären, Zeldas Schnittwunden wurden nicht durch den Geist von Claudette bedingt, zumindest nicht im Sinne eines Gespenstes. Es ist jedoch der Fall, dass der „Geist“ des jeweiligen Rätsels im Raum steht und den Figuren zusetzt.

Der Geist im Farmhaus stellt zwar eine falsche Fährte innerhalb der Kriminalhandlung dar, die vordergründig spukhaften Motive lösen sich zugunsten von realistischen Erklärungen auf, aber dies kann die umfangreichen Heimsuchungen, die sich im Text präsentieren, nur zu kleinen Anteilen beilegen. Die erzählte Welt geriet in der Zeit der Apartheid aus ihren Fugen und die Heimsuchungen stellen plausible Konsequenzen der Vergangenheit dar, welche sich immer weiter „streuen“ − wie die Gerüchte, die Selbstverletzungen und das Asbest. Auch eine strukturelle Heimatlosigkeit der Figuren bleibt bestehen. Die Heimsuchungen in Salamander Cotton haben dadurch einen spektralen Charakter, was Bezüge zu ihren zeitgeschichtlichen Bedingungen nicht ausschließt. Die „Weite“ des Musters erzeugt jedoch eine Allgemeingültigkeit, die Handlung macht letztendlich keine

prägnantere oder spezifischere Aussage, als dass Südafrika von seiner komplexen Vergangenheit heimgesucht wird.

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 71-76)