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Löcher und Behältnisse

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 49-53)

2.3 Kontextorientierte Formen: generative loci

2.3.3 Löcher und Behältnisse

Bei der Lektüre der Primärtexte fällt immer wieder eine Bedeutsamkeit von Löchern im erzählten Raum auf. Sie erschrecken oder faszinieren die Figuren, dienen ihnen als Schlupfloch, Labyrinth, Fährte, Versteck, oder natürlich als Grab. Die Textanalysen dieser Arbeit zeigen, wie und warum Löcher sogar einen Wendepunkt der Handlung markieren.

Diese neunte Form von Heimsuchungen entspricht dem dritten Strukturmerkmal von Heimsuchungen, der „problematischen Konfiguration von innen und außen“.

Löcher können bereits an sich verstörend wirken, wie es die Arbeit Holes and Other Superficialities von Roberto Casati und Achille V. Varzi darstellt. Ihre Beschäftigung mit der Phänomenologie eines Loches erinnert nicht ohne Grund an Geister:

All this seems to point at the acceptance of holes – and other cognate entities, such as depressions, hollows, cavities, grooves, cracks and fissures – into our basic ontological inventory, alongside tables, stones, and drops of oil. Yet holes are more disturbing than these other entities, more uncomfortable to live with. [...] But ask any person to tell you what holes really are – „real“, everyday holes, not the abstract holes of geometry – and he will likely elaborate upon absences, nonentities, nothingnesses, things that are not there. Are there such things? (Casati / Varzi 1994, 1)

Diese Definition bezieht sich auf eine Schwelle zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit − und damit auf Charakteristika des Geisterhaften.

Tatsächlich verkörpern Löcher mehrdeutige Grenzen und besitzen somit ambivalentes Potential: Löcher sind Casati und Varzi zufolge durch ihr Volumen bestimmbar, nicht aber durch ihre Öffnungen oder durch ihren möglichen Inhalt. Das Potential des möglichen Inhaltes verleiht ihnen indessen eine Spannung − nicht nur, weil dies von außen nicht unbedingt sichtbar ist (Casati / Varzi 1994, 1-2).

Auch konkreten Behältnissen in Wohnhäusern kann in diesem Sinne eine ambivalente Qualität zukommen. Damit beschäftigt sich Bernard Waldenfels in Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung. Seine Gedanken gehen in die Richtung einer Philosophie des alltäglichen Wohnraums (Waldenfels 2009):

25Anm.: Hervorhebungen vom Original übernommen.

Ferner gehören zu unserer Alltagswelt Schlupfwinkel wie Schubladen, Truhen und Schränke [...]. Die Schublade, französisch tiroir, ist kein neutraler Behälter, den man ausfüllt wie ein Formular, sie ist etwas, das man herauszieht, das sich öffnet und verschließt, das etwas für sich behält, es aufbewahrt. Dinge, die sich dort befinden, entfalten ein Eigenleben ähnlich wie das, was sich im eigenen Leib abspielt. Es sind Räume, manchmal Museen und Archive en miniature, auch Verstecke. [...] Ebenso wie die Dosen und Schachteln, denen Freud seine Aufmerksamkeit geschenkt hat, sind dies alles keine bloßen Container mit beliebigem Inhalt. In den Nischen des Alltags entfaltet sich ein Spiel mit den Möglichkeiten von Innen Und Außen, das nicht zur Ruhe kommt.26(Waldenfels 2009, 57)

Das Spiel mit den Möglichkeiten von innen und außen, Fülle und Leere bereitet den Weg für Verkehrungen und Umstülpungen, wie sie in den untersuchten literarischen Heimsuchungen vorkommen. Diese Annahme bestätigt sich ferner durch die Argumentation von Davidson, Stevenson und Tinkler-Villani, die sich gemeinsam mit Löchern und Behältnissen in der Literatur des Unheimlichen beschäftigen:

[M]any other writers focus on gaps, void spaces, locked trunks; for this is the paradox of the Gothic as it emerges from these texts: the writer's concern with the continuity of the present with the past (personal and general) finds its most worrying moments in the discovery of real and unreal gaps which leads to the recreation of such gaps in the structure of the tale [...].

(Davidson / Stevenson / Tinkler-Villani 1995, 4)

Im Sinne von kleinen Archiven, die die Behältnisse darstellen können, spricht W.M.

Verhoeven von einem dramatischem Moment, das für eine gewisse Dauer der erzählten Zeit aufrechterhalten werde und mit den Erwartungen des Lesers spiele. Die Beschreibung eines verschlossenen Behältnisses funktioniere als ein Element „of Barthesian jouissance“

und weise darauf hin, dass es nur aus dem Grunde erwähnt zu werden scheine, dass es schließlich geöffnet werden müsse(Verhoeven 1995, 216). Der Leser warte folglich auf die Eröffnung des innen liegenden Geheimnisses, das Spiel mit seinen Erwartungen könne ihn aber täuschen und sämtliche Erwartungen unterlaufen – das „Tabernakel der Wahrheit“

sogar letztendlich für ihn verschlossen bleiben (Verhoeven 1995, 210-216). An dem in seinen Augen beispielhaften Roman Caleb Williams von William Godwin stellt Verhoeven fest: „The reversal of the inside/outside dichotomy as dramatized in the trunk opening

scene is symptomatic of a whole series of similar reversals in the novel, causing the book's moral and epistemological compass to pivot continuously.“ (Verhoeven 1995, 217)

In den Textanalysen dieser Arbeit spielen die von Verhoeven beschriebenen Erwartungen um ein zu eröffnendes Geheimnis eine große Rolle, insbesondere in Triomf und Salamander Cotton. Auch verknüpft sich das Motiv häufig mit einer kriminalistischen Spurensuche:

The locked-trunk motif is itself a variation on an even better-known Gothic narrative device: the locked-room mystery. Like the locked-room motif, the locked trunk, chest, or (strong-)box is directly related to the fundamental Gothic principle of enigma, and it derives its narrative and symbolic potential from the tension that exists between the enigma and the desire to disclose the enigma. The most fundamental difference between the two motifs seems to be the reversal of the inside-outside dichotomy, which in Gothic fiction functions as the dividing-line between the known and the unknown, the conscious and the subconscious, the rational and the irrational. These oppositions can obviously be extended: order and anarchy, conformity and the forbidden; virtue and sin, innocence and guilt.

(Verhoeven 1995, 208-209)

Das trifft in besonders auf Kunzmanns Salamander Cotton zu. Aber auch in den weiteren Primärtexten kommen immer wieder Variationen von Einschließung vor. Bezüglich eines Familiengeheimnisses findet sich in Triomf spielt die folgende Spielart:

While the locked-room motif characteristically involves a mysterious crime (particularly a murder) committed in a room that is locked from within and that no longer contains any evidence of the crime or of how the criminal left the room, the locked trunk is expected to contain all the answers to a crime already committed. In other words: while in the case of the locked-room motif the key to the disclosure of the enigma lies somewhere outside the enclosed space, in the case of the locked-trunk motif we know (or assume) that the key to the disclosure of the enigma is inside the enclosed space − the problem being that it is locked. (Verhoeven 1995, 208-209)

Upstones in 2.3.2 eingeführte Untersuchung des Repräsentationswandels literarischer Häuser bezieht sich ebenfalls auf Nischen, Öffnungen und Behältnisse: „[I] want to suggest that such a reversal can be taken even further, to the individual rooms that construct a home, and also the spaces within these spaces. This deferral extends the displacement [...] to more personal structures.“ (Upstone 2009, 139) Upstone zeigt auf,

inwieweit individuelle, intime Rückzugsräume und Verstecke als Ort des Widerstands gegen die offizielle GeschichteBedeutung tragen können. (Upstone 2009, 139-144)

Such a suggestion means that the postcolonial domestic is not a space of the home as a complete structure, but rather is a space of its deconstruction, its turning around and inside out that is reflected in the fact that the house may be „simultaneously huge and tidy ... with all its infinite possibilities“. This strategy is the ultimate confusion of public and private, as the most private of spaces − the spaces of the house which visitors never enter − paradoxically become the most contested sites: the most private containers, wardrobes, chests and boxes − as well as individual rooms − which are the secret spaces, even more obscured than the house proper itself. It is not the small discussed here, but what Frances Armstrong has referred to as miniaturization, which enriches „by condensation“, magnifying meaning and power by creating a „magical condensed domain“. (Upstone 2009, 139)

Dabei besteht eine mehrdeutige Spannung zwischen Momenten der Fülle und der Leere.

Sie lässt einen an das in fantastischen Texten und in Kinderliteratur häufig vorkommende Motiv der Umstülpung denken: In einem Schrank oder einem Buch wird eine „andere Welt“ vorgefunden, die größer ist als das Loch (der Schrank, das Buch), in welchem sie sich befindet. Derrida spreche, so erklärt es Upstone, von „Invagination“, wenn der erste Satz eines Textes eine Öffnung im Korpus zu sein scheine(Upstone 2009, 143). Sie selbst bezieht sich auf die in einem Text als räumlich vorhanden beschriebenen Behältnisse oder Nischen, die oft von den Figuren als Verstecke genutzt werden und in welchen eine Verkehrung bezüglich der äußeren Ordnung besteht. Diese Behältnisse sind ihr zufolge container, die einen Anteil der Vergangenheit in sich konservierten und zugleich eine transformative Energie besitzen (Upstone 2009, 139, 142-143).

Die genannten Denkfiguren dienen auch dem Verständnis von einer Rückschau in eine idyllische Kindheit, wie im vorigen Kapitel vorgestellt: Denn derartige Erinnerungen können, wie sich in 2.3.2 zeigt, als „Schlupfloch“ aus einer den Protagonisten unangenehmen Gegenwart hinaus in die Vergangenheit dienen. Entsprechend strukturiert ein Schlupfloch den erzählten Raum und die erzählte Zeitstruktur der Texte. Anders als die sogenannte chutneyfication of history, welche sich, wie Upstone erörtert, auf postkoloniale Situationen bezieht, sind die Schlupflöcher der unsettled settlers allerdings nicht im Sinne von einem inneren Widerstand zu verstehen (Upstone 2009, 142-143). Ihr Vorkommen deutet vielmehr auf diejenige Bedeutung von Heimsuchung hin, welche die Suche nach einer als verloren verstandenen Heimat bezeichnet.

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 49-53)