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Die Ordnung der erzählten Heimat

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 59-63)

3 Textanalysen 1: Unheimliche Farmhäuser

3.1 Richard Kunzmann: Salamander Cotton (2006)

3.1.1 Die Ordnung der erzählten Heimat

Eine kriminalistische Spurensuche geht im traditionellen Sinne von einem gegenwärtigen Fall aus, der in den zeitlich zurück führenden Schritten der Investigation aufgelöst wird.

Auf dem Höhepunkt der Handlung, der Überführung des Täters während einer Re-präsentation der Tat durch den Detektiv, vereinigen sich Vergangenheit und Gegenwart (Vgl. Nusser 2003, 3). Dies trifft in Salamander Cotton nicht nur auf den Fall des Mordes zu, sondern auch auf Harrys Auftrag der Rückführung: Er reist zur Farm, um Claudette aufzuspüren. Falls sie tot ist, womit man rechnet, soll Harry ihre Überreste zu ihrer Mutter zu bringen, sodass diese sie endlich bestatten kann. Grundlegend für die Ordnung des erzählten Raumes, so argumentiere ich, ist damit der Umstand, dass die Oranje Genot Farm Anteile der Vergangenheit in sich konserviert.

Dass Claudettes Tod nie sicher festgestellt wurde, beunruhigt auch die zur erzählten Zeit als Pächter auf der Farm lebende Familie Erasmus. Willie, Martha und ihre zehnjährige Tochter Zelda leben dort recht isoliert. Sie sind Außenseiter in der Gemeinschaft des ländlichen Bezirks, Zelda wurde wegen Verhaltensauffälligkeiten vom Schulunterricht ausgeschlossen. Da der Agrarbetrieb der Farm weitestgehend eingestellt wurde, wohnen keine Arbeiter mehr in der Nähe. Die wenigen verbliebenen Helfer des Farmbetriebs dienen als Wachmänner, leben in einiger Entfernung und sprechen nur Portugiesisch. Die einzige soziale Interaktion der Familie nach „außen“ hin verläuft heimlich: Willie Erasmus macht Geschäfte mit Sheik Kheswa, dem Anführer einer kriminellen Bande der Gegend.

Das verschweigt Willie seiner Familie, während er die Machenschaften der Bande, die Gebiete der Farm als Fluchtweg und Versteck nutzt, zugleich vor der Polizei verheimlicht.

Er wird von Sheik erpresst, benötigt aber zugleich dessen Zahlungen, da er eine tödliche Krankheit hat und seiner Familie etwas hinterlassen möchte. Verborgenes spielt für den

„Hausherrn“ Willie Erasmus folglich eine große Rolle.

Nachdem der Roman in diese Bedingungen einführt, setzt der hauptsächliche Handlungsstrang ein. Bei der Anreise des Detektivs Harry, der die Farm erst nach langem Umherirren findet, verdichtet sich der Topos des unheimlichen Hauses:

The two-storey farmhouse stands on a slight rise at the end of a winding dirk track, deep in the bush. An unkempt lawn, flowing up from near the crude cattle gate, is the only refinement that separates this residence from the wild. [...] A solitary security light mounted on a lofty pole casts a dreary

light over the gutted remains of rusty farm machinery, which lie scattered in the unkempt grass.(Kunzmann 2006, 142)

Die Erwähnung von gutted remains stellt sogleich einen inhaltlichen Bezug zu Harrys Auftrag her. Seine Perspektive dadurch voreingenommen: „[A] feeling of trepidation settling in his heart. [...] Before he can knock at the heavy front door, it creaks inward. His exhausted spirits drop further when he views the interior.“ (Kunzmann 2006, 142) Die Schilderungen des Wohnraums evozieren Einsamkeit und Verfall. Die Familie verbarrikadiert sich im Farmhaus, die Haustür sowie die sich im Inneren befindende Tür zum Keller sind mit schweren Schlössern versehen.

The dark corridor beyond the living-room door was short, with stairs immediately to the left of it, leading up to four bedrooms, two of them currently unoccupied. In the paraffin light, the large strips of paint peeling from the high walls seemed like lolling tongues, the accumulated spider webs [...] looking even thicker than they did by daylight. A little on from the staircase was a heavily bolted door, which Willie Erasmus preferred not to look at, though he listened intently for any unwanted sounds originated from behind it. At the far end of the corridor, barely within range of the lamplight, were another three doors, two facing each other, the third directly ahead.

The corridor with its three doorways at the far end always reminded Willie of a crucifix, and when that leading to his daughter's playroom at the far end stood open, the wooden image of Jesus hanging dead centre on the white wall beyond completed the image. (Kunzmann 2006, 116-117)

Aufgrund ihrer Armut nutzt die Familie kaum elektrisches Licht. „A paraffin lamp burns on a table in one far corner. The floor has been stripped of any original carpeting, and now tattered zebra and impala skins make to do ward off the cold chill seeping up from the earth.“ (Kunzmann 2006, 143) Gleich wie im Außenbereich sind auch im Inneren des Hauses einzelne Lichtquellen beschrieben. Bachelard zufolge versinnbildlichen Lichter in allein stehenden Häusern Wachsamkeit:

In line with the distant light in the hermit's hut [...] a rather large dossier of literary documentation on the poetry of houses could be studied from the single angle of the lamp that glows in the window. [...] Tout se qui brille voit (All that glows sees). [...] The lamp keeps vigil, therefore it is vigilant. And the narrower the ray of light, the more penetrating its vigilance. The lamp in the window is the house's eye [...].27 (Bachelard 2011, 33-37)

Harrys Beklemmung angesichts des Hauses setzt sich fort, als er mit der Familie zusammen sitzt: Willie Erasmus ist an medizinische Geräte gebunden und hat selbst dabei eine Waffe griffbereit.Die Familie schweigt während des Abends, anstatt Harry kennen zu lernen. Er beobachtet ihre sich stetig wiederholenden Handlungen: „Strangely, the wife keeps getting up to peer out of the front window, as if she is expecting someone.“ (Kunzmann 2006, 144) Die etwa zehnjährige Zelda versucht öfter die Hand ihres Vaters zu halten, wird jedoch immer wieder abgewiesen. Martha kontrolliert wiederholt alle Türen und Riegel, besonders mehrere schwere Schlösser an der Tür zum Keller. Die Familie verbarrikadiert sich nachts, was ihr Zuhause noch unheimlicher wirken lässt.

Als container des ungelösten Rätsels um Claudette sowie auch durch die stetigen Kontrollen der Schlösser erscheint das Farmhaus wie ein Behälter, in dem die Familie isoliert ist und aus welchem sie nicht entkommen kann. Martha Erasmus versteht ihr Leben auf der Farm als Fluch: „After we got married, somehow we ended up right back where I started. I thought that would be impossible, and I've asked God to explain it to me, like so many other things. But here I am.“28 (Kunzmann 2006, 192) Ihr Mann arbeitete früher in den nahen Asbestminen, die Bernard Klamm gehörten, und ist aus dem Grund schwer krank. Auch für ihn ist die Farm kein Ort, der ihm ein wirkliches Zuhause sein könnte: „He had lived there nine years, but not once did it ever feel like a home; it never felt like a place where an ordinary family could have been raised, either.“ (Kunzmann 2006, 116) Für den Protagonisten steht also nicht nur das Rätsel um Claudette im Raum, denn es verbindet sich ferner mit dem Umstand, dass er nun selbst mit eingeschlossen ist.

Die Familie erzählt Harry, dass das Telefon im Haus nicht funktioniert, da die Drähte gestohlen wurden. Jemand macht sich ihnen zufolge nachts am Haus zu schaffen, vor kurzem wurden die Wachhunde getötet: „There was a fight which woke me up, but the time I got out there, not much was left of them. [...] The wounds, they weren't claws or bite marks. Those cuts were made by something very sharp.“ (Kunzmann 2006, 113-114) Seitdem hat sich jemand Zutritt zum Keller verschafft, wie Willie berichtet: „Whenever I open up that door, though, it's already gone. It keeps breaking open the coal hatch, but so far I haven't caught anyone doing it. That's why I think it must be something, not

28 Anm.: Hervorhebungen vom Original übernommen.

someone.“29 (Kunzmann 2006, 114) Durch diese nur flüchtigen Wahrnehmungen kommt dem Eindringling eine geisterhafte Qualität zu, folgt man den Berichten. Verstärkt wird das durch den Eindruck der Familie, dass er ihren Keller umgräbt. Sie haben bereits die Löcher gesehen, aber nicht den Eindringling selbst (Vgl. Kunzmann 2006, 114).

Abgesehen von der immensen Anspannung zeigt die Familie keine Reaktion − sie integriert die Furcht in ihr alltägliches Leben. Dadurch wirkt die Idiorrhythmie ihres Zusammenlebens selbst unheimlich: Performative Auslassungen wie durch Zaudern, Schreck oder dem bezüglich von Willies Geheimnissen genanntem Schweigen lösen jegliche kausale Abfolge auf, die eine Auflösung ihrer Situation darstellen könnte. Das folgende Beispiel eines Handlungsablaufs zeigt, wie sich die unheimlichen Eindrücke im Haus perpetuieren: Willie erschrickt vor Geräuschen, als er heimlich sein Schweigegeld von der Bande in einem Hohlraum unter dem Dielenboden versteckt. Als er kurz darauf ein Messer in der sich öffnenden Tür sieht und seinen vermeintlichen Verfolger attackieren will, stellt sich dieser als Zelda heraus, die sich ihrerseits vor den von ihrem Vater verursachten Geräuschen gefürchtet hat und sich bewaffnet Gewissheit verschaffen wollte.

Beide hatten zuvor voller Angst voreinander gezögert, wie es auch zwischen Willie und Harry vorkommt (Kunzmann 2006, 118).

Mit dem vermuteten Eindringling im Keller gibt es aus Sicht der Familie einen unsichtbaren Vierten im Haus. Zelda hat immer neue Schnittwunden an ihren Armen und gibt vor, von einem toten Mädchen verfolgt und mit einem Messer geschnitten zu werden.

Auch untereinander besteht großes Misstrauen, wie die folgende Konversation der Familie zeigt:

„If those cuts weren't done by you, or you, then who the hell caused them?“

The moment he asked this, he regretted it. [...] Suddenly all three of them heard a noise issue up from below. It was indistinct but definite, before there was quiet once more − as if it, too, was now listening intently. „It's here!“

His wife grabbed his shoulder, just as Zelda's arms grabbed around his waist. „God have mercy, it's come for−“ „Hush, woman.“ „If you think you know better, then why don't you call the police?“ „No! I mean no. No one's calling the police.“ „Then go outside, Willie, and find out what keeps getting back into our house. [...]“ „No,“ he tightened his grip on the knife.

„I'm not going outside. I'm done with this nonsense. There's nothing out there. We're going upstairs, and that's that.“ [...] Despite his definitive command, not one of the three moved for a long moment. Instead they

listened outside the locked door, each for reasons of their own, as if unwilling to break up their fearful communion and leave the pool of faltering yellow light.30 (Kunzmann 2006, 120-121)

Es gibt zunächst keine ausreichenden Erklärungen für den Eindringling im Keller oder für Zeldas Schnittwunden. Ihre Mutter glaubt an einen Spuk durch die untote Claudette: „Her father killed her. [...] He buried her alive in the cellar, cemented her up behind a false wall no one can find. But she won't stay dead. She won't rest, because she is so evil. She's after my little girl now, and I can't do anything about it.“ (Kunzmann 2006, 191)

Diese fiktive Heimat ist auf vielfältige Weise unheimlich: Das erste Strukturmerkmal der mehrdeutigen Störungen nimmt in Salamander Cotton die Form des unheimlichen Hauses an: Einschließung, Spuk und Wahnsinn als Merkmale des gothic mode sind deutlich vorhanden, wobei sich dies auf die Wahrnehmung der Figuren bezieht und nicht auf eine tatsächliche Auflösung (Shear 2006, 71). Der Text spielt mit der unheimlichen Spannung, die solche Wahrnehmungen und verschiedene mögliche Erklärungen dafür auslösen − ähnlich dem locked-trunk motif. (Vgl. Kapitel 2.3.3) Beispielhaft sind die phantomatischen Auftritte eines Eindringlings, der nie wirklich zu sehen ist. Durch das Moment des Unabgeschlossenen, das als Ursache des Besuchs vermittelt wird, aber auch durch die performativen Auslassungen der Familie in Form von Schreck und Schweigen, hält sich diese unheimliche Spannung in der Schwebe. Sie besteht von vornherein in dieser Heimat, verstärkt sich jedoch zur erzählten Zeit, um sich schließlich aufzulösen − allerdings nicht in eine harmonische Situation, sondern in eine immer noch aus den Fugen geratene erzählte Welt.

Im Dokument Formen von Heimsuchung (Seite 59-63)