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Die Verfassung vom 24. Dezember 1993

5. Politische Neugründung und institutioneller Wandel in

5.3 Institutionalisierung des neuen Regimes

5.3.5 Die Verfassung vom 24. Dezember 1993

Die neue Verfassung der Republik Baschkortostan installierte ein Präsidialregime, das in vielen Punkten dem der neuen russischen Verfassung nachempfunden war.249 Ganze Artikel waren identisch formuliert. Darüber hinaus enthielt auch das baschkirische Grundgesetz in den Artikeln 18 bis 68 ein umfangreiches und aus-führliches Bekenntnis zu Menschen- und Bürgerrechten, Diskriminierungsverbot, sozialen Grundrechten und ähnlichem. In dieser Hinsicht hatten unter allen Betei-ligten im Vorfeld die geringsten Unstimmigkeiten geherrscht. Auch Baschkor-tostan folgte dem allgemeinen Trend, mit einer neuen Verfassung zugleich

249 Konstitucija Respubliki Baškortostan. Prinjata Verchovnym Sovetom Respubliki Baškortostan

rekt und deklaratorisch das alte staatssozialistische Regime zu Grabe zu tragen, indem man die individuellen Freiheitsrechte stärker in den Vordergrund rückte, als dies in den Brežnev-Verfassungen der Fall gewesen war. Ausgeklammert worden war die umstrittene Frage der Staatssprache. Die politisch besonders heiklen Punkte der neuen Verfassung betrafen in erster Linie die Organisation und Kom-petenzabgrenzung der Staatsorgane und die Bestimmung des Verhältnisses der Republik zur Russischen Föderation.

Nach Auffassung vieler Politiker in den Republiken bedeutete die El’cin-Verfassung vom 12. Dezember 1993 einen deutlichen Rückschritt in der Entwick-lung des russischen Föderalismus. Stärker als die meisten Entwürfe, die im Laufe der Jahre 1992/93 gehandelt worden waren, ebnete der Verfassungstext, der schließlich im Referendum zur Abstimmung stand, den Unterschied zwischen Republiken und sonstigen Regionen, der in der Konstruktion dreier verschiedener Föderationsverträge zum Ausdruck gekommen war, wieder ein. Lediglich das Recht auf eine „Verfassung“ und die Möglichkeit, eine eigene Staatssprache zu-sätzlich zum Russischen zu definieren, unterschieden die Republiken noch von den anderen Föderationssubjekten. Allerdings sah die neue Verfassung auch die Möglichkeit der Übertragung von Kompetenzen auf der Grundlage gesonderter Abkommen vor (Art. 78 Abs. 2 und 3).

Gegenüber dem Moskauer Konzept eines verhalten asymmetrischen Ver-fassungsföderalismus mit vertraglichen Komponenten bemühte sich die baschkiri-sche Führung, ihre Vorstellung einer freiwilligen und theoretisch reversiblen, per Vertrag vereinbarten Integration auf der Grundlage eigener Staatlichkeit auch in der neuen baschkirischen Verfassung zu verankern. Zugleich existierte das Bemü-hen, den Realitäten insoweit Rechnung zu tragen, als keine unerfüllbaren Ansprü-che postuliert wurden. In allen wesentliAnsprü-chen Teilen schrieb die Verfassung aber-mals jene Prinzipien fest, die schon in der Souveränitätserklärung und der Anlage zum Föderationsvertrag verankert worden waren: staatliche Souveränität als „un-veräußerlicher, qualitativer Zustand der Republik“, freiwillige vertragliche Bezie-hungen zur Russischen Föderation, aber auch die Mitgliedschaft als „selbständiges Subjekt einer erneuerten Russischen Föderation“, Anspruch auf das Wirtschafts-potential der Republik als Eigentum ihrer Bevölkerung sowie eigene Justiz- und Steuerhoheit.250 Zur Begründung dieser Ansprüche beriefen sich die baschkiri-schen Verfassungsgeber in der Präambel unter anderem auf das Ergebnis des

24 dekabrja 1993 goda.

250 Konstitucija Respubliki Baškortostan, Art. 5, 10, 15, 69, 70, 71.

ferendums vom April 1993, mit dem sich die baschkirische Führung ihre Politik gegenüber Moskau hatte bestätigen lassen. Insgesamt trug der Verfassungstext zwar einerseits alle Insignien eines souveränen Staates („Die Verfassung eines nicht-existenten Staates“, wie ein kritischer Ufaer Staatsrechtler spottete251), ließ aber andererseits breiten Raum für bilaterale Abkommen Ufas mit Moskau.

Die Struktur der Staatsorgane nach der neuen baschkirischen Verfassung wies auf den ersten Blick große Ähnlichkeiten mit derjenigen der Russischen Fö-deration auf (Abbildung 5-1, S. 156): An der Spitze des Staates steht ein Präsident als Chef der Exekutive (im Unterschied zur RF auf fünf Jahre gewählt), unter ihm arbeitet eine Regierung („Ministerkabinett“) unter der Führung eines Ministerprä-sidenten. Während die russische Verfassung die Zahl der Amtszeiten eines Präsi-denten auf maximal zwei beschränkt, verbot die baschkirische Verfassung mehr als zwei aufeinanderfolgende Amtsperioden, setzte aber keine absolute Obergren-ze (Art. 92). Die Legislative der Republik wird aus einem alle vier Jahr gewählten Zwei-Kammern-Parlament (der „Staatsversammlung“) gebildet. Der Präsident verfügt über ein Dekret-Recht, das seine Grenzen in der einfachen Gesetzgebung des Parlaments findet (Art. 97), die wiederum einem in der Sache unbeschränkten Vetorecht des Präsidenten unterworfen ist (Art. 131). Die Staatsversammlung kann ein solches Veto mit Zweidrittelmehrheiten in beiden Kammern überstim-men (Art. 131) und verfügt überdies über die Möglichkeit, in bestimmten Fällen eine Impeachment-Prozedur in Gang zu setzen, sofern das Republikverfassungs-gericht die Grundlage dafür als gegeben ansieht (Art. 98). Für die Ernennung des Ministerpräsidenten bedarf der Präsident der Zustimmung des Parlaments, ebenso (anders als in der RF-Verfassung) für seine Entlassung. Alle weiteren Regie-rungsmitglieder werden vom Präsidenten auf Vorschlag des Ministerpräsidenten ernannt. Eine Zustimmung des Parlaments ist hierbei nicht mehr erforderlich. Ein uneingeschränktes Ernennungs- und Entlassungsrecht steht dem Präsidenten ge-genüber den Chefs der Stadt- und rajon-Verwaltungen zu. Außerdem verfügt er über das Vorschlagsrecht für alle Richterposten bis hin zum Vorsitzenden des Re-publikverfassungsgerichts, für den Republikstaatsanwalt sowie für den Leiter der baschkirischen Nationalbank. Schließlich gewährt die neue Verfassung dem Prä-sidenten das Recht, Mitglieder der Exekutive aus ihren Ämtern zu entlassen, wenn sie gegen Gesetze der Republik verstoßen haben, ohne daß jedoch bestimmt wäre, durch wen ein solcher Verstoß festzustellen ist.

251 Interview mit Fanis Rajanov.

Bevölkerung (ca. 2,8 Mio. Wahlberechtigte)Bevölkerung (ca. 2,8 Mio. Wahlberechtigte)

Präsident der Republik Baschkortostan (für 5 Jahre gewählt)Präsident der Republik Baschkortostan (für 5 Jahre gewählt) JustizJustiz

Staatsversammlung (Parlament) (für 4 Jahre gewählt) Staatsversammlung (Parlament) (für 4 Jahre gewählt)Recht Gesetze

Recht GesetzeMinister- kabinett unter einem Ministerpräsidenten

Minister- kabinett unter einem MinisterpräsidentenRepsentanten- kammerGesetzgebungs- kammer

Direktwahl (ggf. mit Stichwahl) schlägt alle Richter vorschlägt MP vor entzieht Regierung Vertrauen

ernennt und entläßt Minister auf Vorschlag des MPVeto gegen Gesetze überstimmt Veto

ernennt und entßt Kreis-/Stadtverwaltungschefs beschließt Gesetze

stimmt MP zu

Verfahren zur Amtsenthebung möglich hlt alle Richter

erßt Dekrete

Abbildung 5-1: Die Staatsorgane der Republik Baschkortostan nach der Verfassung vom 24.12.1993

In der Summe bedeuteten diese Bestimmungen nicht nur gegenüber der al-ten Sowjetverfassung eine Machtverlagerung zugunsal-ten des Präsidenal-ten. Auch die mit der Einführung des Präsidentenamtes 1991 vorgenommenen, dann eingefrore-nen und am 4. November 1993 wieder in Kraft gesetzten Änderungen der alten Verfassung, die ebenfalls schon ein Präsidialregime begründeten, hatten noch grö-ßere Vollmachten beim Parlament belassen.252 Bereits eine absolute Mehrheit im Parlament hatte danach ausgereicht, um ein Veto des Präsidenten zurückzuweisen (Art. 1095 Abs. 3). Nun waren die Vetobestimmungen wörtlich dem restriktiveren Art. 107 der neuen Verfassung der Russischen Föderation nachempfunden. Die Ernennung der lokalen Verwaltungschefs war in der alten Verfassung überhaupt nicht geregelt gewesen. Und hatte sich der Oberste Sowjet noch im Sommer 1993 gesträubt, das Recht zur Bestätigung jedes einzelnen Ministers aufzugeben, so ließ sich die große Mehrheit der Abgeordneten ein halbes Jahr später überzeugen, daß dieses Recht nun dem neuen Präsidenten zustehe. Daß Rachimov imstande war, in der neuen Verfassung eine weitergehende Kompetenzverlagerung vom Parlament zum Präsidenten hin durchzusetzen, belegt den Autoritätsgewinn, den er seit Ende 1991 für sich hatte verbuchen können, der ihm aber insbesondere auch noch ein-mal durch den Wahlsieg vom 12. Dezember zugewachsen war.

Dennoch verblieb dem künftigen Parlament nach der neuen Verfassung formal weitaus mehr als nur eine dekorative Funktion. Neben seiner umfassenden, die Dekretbefugnisse des Präsidenten überstimmenden Gesetzgebungskompetenz obliegt ihm die Bestätigung des Ministerpräsidenten, der vom Präsidenten vorge-schlagenen Mitglieder der Justizorgane und das (ausschließliche) Recht, den Mi-nisterpräsidenten zu entlassen. Zwei wesentliche Bestimmungen unterscheiden also die baschkirische Legislative von ihrem russischen Pendant: Zum einen ver-fügt das Parlament über die unbeschränkte Möglichkeit, die Regierung zu stürzen;

wird ihr das Mißtrauen ausgesprochen, so muß der Präsident binnen zwei Wochen eine neue Regierung bilden. Zum anderen verfügt der Präsident über keinerlei Möglichkeit, das Parlament aufzulösen. Die Moskauer Ereignisse vom Septem-ber/Oktober 1993 hatten die baschkirischen Gesetzgeber dazu bewogen, eigens einen Artikel in die Verfassung aufzunehmen, der dem Präsidenten untersagt, ir-gendein legal gewähltes Staatsorgan aufzulösen oder dessen Arbeit anderweitig zu unterbinden (Art. 96).

252 Konstitucija (Osnovnoj Zakon) Respubliki Baškortostan. Prinjata na vneočerednoj vos’moj sessii Verchovnogo Soveta Baškirskoj ASSR devjatogo sozyva 30 maja 1978 goda, s izmeneni-jami i dopolneniizmeneni-jami, vnesennymi Zakonami Respubliki Baškortostan ot 12 oktjabrja i 4 no-jabrja 1993 goda (Verfassung der Republik Baschkortostan vom 30.5.1978 in der Fassung vom

War die neue baschkirische Verfassung also doch gleichgewichtiger, das Verhältnis zwischen Präsident und Parlament ausgewogener gestaltet, als man nach der politischen Kräfteverteilung Ende 1993 erwarten durfte? Zunächst konn-te es diesen Anschein haben, insbesondere wenn man die entsprechenden Passa-gen in der baschkirischen mit denen in der russischen Verfassung verglich. Die Verfassung Baschkortostans installierte ein System, das in sehr hohem Maße auf die Kooperation zwischen Präsident und Parlament angelegt und angewiesen war.

Gerieten die beiden Seiten über Personalentscheidungen – insbesondere über den Posten des Ministerpräsidenten – in eine Sackgasse, so war kein Ausweg vorge-zeichnet: Weder konnte das Parlament aufgelöst noch der Präsident seines Amtes enthoben werden. Die Regierung wiederum, einmal im Amt, war von Präsident und Parlament gleichermaßen abhängig. Die Funktionalität dieses Systems hing von der Fähigkeit beider Seiten ab, sich zu einigen. Rachimov jedoch konnte diese Aussicht nicht schrecken. Bereits in seiner Funktion als Vorsitzender des Obersten Sowjets hatte er sich ein Netz von Beziehungen und persönlichen Verpflichtungen in der ganzen Republik aufgebaut, das ihm die Aufgabe, im Bedarfsfall für ein konkretes Vorhaben die nötige Anzahl von Abgeordneten zu gewinnen, erheblich erleichterte. Und: Rachimov hatte sich in die Verfassung zwei zusätzliche Absi-cherungen eingebaut, von denen zumindest eine zunächst weniger offensichtlich zutage trat. Zum einen schränkten restriktive Erfordernisse an die Person des Prä-sidenten die Zahl möglicher Konkurrenten erheblich ein. Bei der Wahl zwischen 35 und 65 Jahre alt, mußte ein Kandidat mindestens die letzten 10 Jahre ununter-brochen in Baschkortostan gelebt haben und sowohl Russisch als auch Baschki-risch sprechen (Art. 92). In der Praxis waren damit schätzungsweise drei Viertel aller wahlberechtigten Bürger der Republik von vornherein vom Amt des Präsi-denten ausgeschlossen!253 Zum anderen war die Frage nach der Zusammenset-zung, dem Funktionsunterschied und der Rollenaufteilung der beiden Parlaments-kammern in der Verfassung weitgehend unbeantwortet geblieben und der einfa-chen Gesetzgebung überlassen worden. Festgeschrieben war lediglich, daß eine

„Gesetzgebungskammer“ als Berufs- und eine „Repräsentantenkammer“ als

4.11.1993).

253 Untersuchungen zufolge sprachen 1995 maximal 40 % der Bevölkerung in Baschkortostan, z. T. mit erheblichen Mühen, Baschkirisch, während mehr als 99 % das Russische beherrschten (SELIVANOV 1995: 143). Die Altersspanne von 35 bis 65 schließt grob geschätzt mindestens noch einmal 40 % der über Achtzehnjährigen aus. Berücksichtigt man, daß also in erster Linie der baschkirische Bevölkerungsteil als Reservoir für Präsidentschaftskandidaten in Frage kommt, dieser zugleich aber, besonders auf dem Lande, stärker als andere Bevölkerungsteile traditionsverhaftet und autoritätshörig ist, so sinkt die Wahrscheinlichkeit eines ernsthaften Ge-genkandidaten weiter.

zeitparlament zusammen die Staatsversammlung bilden sollten. Der Rest blieb im Dunkeln. Dies aber schuf, wie sich zeigen sollte, Spielraum für ein sehr wirksa-mes „constitutional engineering“ unterhalb der Schwelle der Verfassungsände-rung, durch das die vermeintliche Machtbalance an der Spitze der Republik in eine erhebliche Schieflage gebracht werden konnte.

In diesem Sinne war es für Rachimov sehr nützlich, daß der alte Oberste Sowjet bis zum Ende seiner regulären Legislaturperiode im März 1995 im Amt bleiben und bis dahin die Funktionen des neuen Parlaments ausüben sollte. Ers-tens brauchte sich der neue Präsident damit vorerst nicht dem Risiko eines neuen Parlaments auszusetzen, sondern hatte die Möglichkeit, mit dem ihm aus über dreijähriger Leitungserfahrung bestens vertrauten Obersten Sowjet zusammenarbeiten. Zweitens hatte ihm sein Einsatz für den Erhalt des alten Parlaments zu-sätzliche Loyalität unter den Abgeordneten gesichert, da deren mit dem Mandat verbundene Privilegien über das Inkrafttreten der neuen Verfassung hinaus sicher-gestellt waren.

Die Verfassung vom 24. Dezember 1993 schien vordergründig die Chance einer demokratischen Entwicklung zu bieten; sie barg aber auch die Gefahr, ange-sichts der herrschenden Machtverhältnisse und bestehenden Traditionen den Weg zu einer autoritären Entwicklung zu bereiten. Mehr als die Verfassung selbst lie-ßen die politischen Auseinandersetzungen der Jahre 1992 und 1993 sowie der Wahlkampf zum Präsidentenamt ahnen, welchen weiteren Verlauf die Entwick-lung in der Republik nehmen würde. Das demokratische „Projekt“, das in den Verfassungsartikeln über Menschen- und Bürgerrechte erkennbar zu sein schien und Demokratie als Entwicklungsaufgabe auch für die weitere Zukunft hätte be-greifen lassen können, diente vor allem der äußeren Fassade. In erster Linie war die neue Verfassung, wie sich in den folgenden Jahren zeigte, für die Elite der Republik und insbesondere für den neuen Präsidenten ein Instrument zur Zemen-tierung der bestehenden Machtverhältnisse. Nicht Selbstbindung, sondern Macht-sicherung war die dominante Motivation der maßgeblichen Akteure bei der Aus-gestaltung der wichtigsten formalen Institution Baschkortostans.

Exogene Faktoren spielten bei der Entscheidung über die zukünftige Ges-taltung der politischen Institutionen in Baschkortostan eine ambivalente Rolle.

Zwar waren der Zeitpunkt und die äußere Form der neuen baschkirischen Verfas-sung in hohem Maße von Ereignissen geprägt, die sich jenseits des Einflußbe-reichs der Akteure in Baschkortostan befanden. Dazu zählte auch das präsidentiel-le Regierungssystem, das in weiten Teipräsidentiel-len dem der föderapräsidentiel-len Ebene angeglichen war. Tatsächlich verstand es die herrschende Elite in Baschkortostan jedoch,

un-geachtet der gegebenen Umstände die Lage in ihrer Republik unter Kontrolle zu halten und die sich ergebende Situation optimal zu nutzen, um ihre Machtansprü-che sogar zu festigen. Weit davon entfernt, die Verhältnisse vor Ort auf den Kopf zu stellen, waren die Moskauer Ereignisse vielmehr dazu geeignet, in einer poli-tisch noch nicht ganz entschiedenen Situation die Waagschale endgültig zugunsten derjenigen Seite zu senken, die ohnehin schon im Vorteil war.