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Die Baschkirische ASSR am Vorabend des Umbruchs: Land,

5. Politische Neugründung und institutioneller Wandel in

5.2 Das Ende des alten Regimes

5.2.1 Die Baschkirische ASSR am Vorabend des Umbruchs: Land,

Die Republik Baschkortostan erstreckt sich über eine Fläche von 143.600 km² (das entspricht 40 % der Fläche der Bundesrepublik Deutschland) zwischen dem Südural und dem Wolgagebiet. Sie grenzt im Westen an die Republiken Tatarstan und Udmurtien, im Norden an die Gebiete (oblasti) Perm und Sverdlovsk, im Os-ten an das Gebiet Čeljabinsk sowie im Süden und SüdwesOs-ten an das Gebiet Oren-burg. Damit verfügt Baschkortostan über keinen unmittelbaren Zugang zu einem der Nachbarländer der Russischen Föderation. Allerdings trennt die Republik an ihrer südlichsten Stelle nur ein ca. 50 km schmaler Streifen des Orenburger Ge-biets von der Grenze zu Kasachstan.

Mit 4,1 Mio. Einwohnern182 ist Baschkortostan noch vor dem bekannteren Tatarstan die bevölkerungsreichste unter den 21 Republiken Rußlands. Im Ver-gleich aller Föderationssubjekte steht es demographisch an siebter Stelle und zählt damit zu den „Schwergewichten“ in der Russischen Föderation. 1989, bei der letz-ten sowjetischen Volkszählung, bildete die Titularethnie der Baschkiren mit einem

182 Stand 1.1.1999; nach http://www.pfo.ru/main/?id=950 (offizielle Internetseite des Präsidenten-vertreters im Wolgabezirk), download 23.11.2000.

Anteil von 22 % nur die drittgrößte Bevölkerungsgruppe in der Republik – nach Russen mit 39 % und Tataren mit 28 %. Russen stellen vor allem in der Haupt-stadt Ufa die absolute Mehrheit der knapp 1,1 Millionen Einwohner183, während Tataren und Baschkiren jeweils in verschiedenen ländlichen Regionen überwie-gen. Seit den siebziger Jahren hat allerdings der Anteil der Baschkiren an der städ-tischen Bevölkerung in der Republik kontinuierlich zugenommen – von knapp 10 % 1970 auf 14,5 % im Jahre 1989.184

Die heutige „Republik Baschkortostan“ ist aus der Baschkirischen Auto-nomen Sozialistischen Sowjetrepublik hervorgegangen. Die Baschkirische ASSR war eine von 16 Autonomen Republiken innerhalb der RSFSR, die formal einen besonderen Status gegenüber den territorialen Verwaltungseinheiten, den oblasti und kraja, innehatten. Damit sollte, jedenfalls gemäß der offiziellen Ideologie, den jeweiligen einheimischen Titularnationen aufgrund ihrer Minderheitensituation in Rußland ein besonderer Schutz zukommen. In den nationalen Gebietseinheiten der Sowjetunion, zu denen innerhalb der RSFSR neben den Autonomen Republiken noch weitere fünfzehn Autonome Gebiete und Autonome Kreise zählten, hatten die jeweiligen Nationalsprachen offiziellen Status, was Ausdruck kulturellen Selbstbestimmungsrechts sein sollte, und die Republiken besaßen darüber hinaus eigene Verfassungen. Tatsächlich wurde jedoch der formal vorhandene Födera-lismus in der RSFSR wie in der Sowjetunion insgesamt durch die Praxis des „de-mokratischen Zentralismus“, d. h. der durch die Kommunistische Partei vermittel-ten administrativen Kommandostruktur, bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt.

In vorsowjetischer Zeit hatten die Baschkiren rund drei Jahrhunderte lang, seit der Ausdehnung des Zarenreiches in den Wolga-Ural-Raum im 16. Jahrhun-dert, unter russischer Oberherrschaft gestanden. Als muslimisches Turkvolk, das eng mit den Tataren verwandt ist, wurden sie diesen zumeist als Untergruppe zu-gerechnet. Eine Reihe von Aufständen im 17. und 18. Jahrhundert wies sie als unbequeme Untertanen der russischen Zaren aus, die darauf mit Zentralisierungs-maßnahmen reagierten. Die Einwanderung russischer Siedler zwang die Baschki-ren, ihre auf weite Weideflächen angewiesene nomadische Lebens- und Wirt-schaftsweise aufzugeben. Im 19. Jahrhundert brachte die beginnende Industriali-sierung eine neue Einwanderungswelle in die Wolga-Ural-Region, die die Basch-kiren allmählich zur Minderheit in ihrem Siedlungsgebiet werden ließ. Anfang des

183 GOSKOMSTAT 1994a: 23.

184 KULTCHIK 1992: 11.

20. Jahrhunderts, unter dem Einfluß der tatarischen Nationalbewegung, entstanden Ansätze eines baschkirischen Nationalbewußtseins.185

Im März 1919 waren die Baschkiren das erste Volk, dem eine eigene nati-onale Gebietskörperschaft – eine Autonome Sowjetrepublik – innerhalb der RSFSR zugebilligt wurde. Dies war die Belohnung für die Unterstützung, die na-tionale baschkirische Streitkräfte den Bolschewiki im Bürgerkrieg gegen die

„Weißen“ geleistet hatten. Damit ging zugleich eine kurze Periode zu Ende, die mit der Oktoberrevolution 1917 begonnen und den Baschkiren zwischen den Fronten des Bürgerkrieges ein hohes Maß an tatsächlicher Unabhängigkeit von Moskau beschert hatte. Die Grenzen der neuen Republik umfaßten auch Gebiete mit erheblichen tatarischen Bevölkerungsanteilen, weshalb seither im benachbar-ten Tatarstan periodisch wiederkehrend territoriale Ansprüche gelbenachbar-tend gemacht werden.

Mit der Entdeckung von Erdölvorkommen in der Region zwischen Wolga und Ural brachte der rasante Aufschwung der Erdöl- und Schwerindustrie in den dreißiger Jahren viele Immigranten aus anderen Teilen der Sowjetunion auch nach Baschkirien, wodurch der Anteil der Titularnation an der Gesamtbevölkerung der Republik schließlich unter ein Viertel sank. Zugleich fielen Teile der nationalen baschkirischen Elite unter dem Vorwurf nationalistisch-konterrevolutionärer Ver-schwörung dem stalinistischen Terror zum Opfer. Die demographische Entwick-lung brachte es in den folgenden Jahrzehnten mit sich, daß neben der politischen auch die kulturelle Autonomie weitgehende Fiktion blieb. In den Städten – zumal in der Hauptstadt Ufa, die im 16. Jahrhundert als russische Festung gegründet worden war und wo Baschkiren seit jeher eine kleine Minderheit waren – spielte die baschkirische Sprache keine Rolle. Und auch auf dem Lande war sie keines-wegs dominant, sondern drohte vom eng verwandten Tatarischen vereinnahmt zu werden.

Die während der stalinistischen Industrialisierung entstandene Wirtschafts-struktur der Republik blieb auch in den folgenden Jahrzehnten weitgehend erhal-ten. Neben der Förderung der eigenen Erdölvorkommen der Republik wurde vor allem die Erdölverarbeitung zur tragenden Säule der baschkirischen Wirtschaft ausgebaut. Ufa entwickelte sich zu einem der Zentren der sowjetischen Benzin-produktion. Gemessen an den Beschäftigtenzahlen entsprach der

185 Zur Geschichte der Baschkiren GÖTZ/HALBACH 1994: 75-80; KULTCHIK 1992: 11-17. Für eine kritische Betrachtung baschkirischer Historiographie im Dienste ethnopolitischer Identitätsstif-tung vgl. KUČUMOV 2001.

rungsgrad Baschkortostans Anfang der neunziger Jahre mit 29,8 % dem Durch-schnitt der Russischen Föderation (30,1 %). Dabei waren Erdölförderung und -verarbeitung, Chemie und Petrochemie sowie Maschinenbau – mit einem traditi-onell hohen Anteil an rüstungsrelevanter Produktion – die wichtigsten Branchen.

Daneben bildete die im regionalen Vergleich sehr produktive Landwirtschaft in der Republik mit 17,6 % der Beschäftigten einen zwar nominal nicht übermäßig großen Anteil, lag aber doch deutlich über dem gesamtrussischen Durchschnitt von 12,5 % und spielte auch im Bewußtsein der lokalen Bevölkerung, die noch überwiegend ländlicher Herkunft war, eine bedeutende Rolle (Tabelle 5-1).186 Tabelle 5-1: Bedeutung ausgewählter Wirtschaftszweige in

Baschkor-tostan zu Beginn der neunziger Jahre im gesamtrussischen Vergleich

(in % der Beschäftigten)

Baschkortostan RF gesamt

Industrie 29,8 30,1

Landwirtschaft 17,6 12,5

Bildung, Wissenschaft, Kultur 12,6 13,9

Bauwirtschaft 12,1 11,1

Andere 27,9 32,4

Quelle: GOSKOMSTAT 1994b: 29-32; Zahlen für 1992.

Im gesamtrussischen Vergleich zählt Baschkortostan zu jenen Regionen, deren wirtschaftliche Ausgangslage zu Beginn der neunziger Jahre als vergleichsweise vorteilhaft bezeichnet worden ist. Als entscheidende Kriterien ist dabei auf die große Bevölkerungszahl und den entsprechend großen Binnenmarkt sowie auf die Ressourcenausstattung und die aufgrund sozialistisch-planwirtschaftlicher Priori-tätensetzung gegebene Wirtschaftsstruktur verwiesen worden.187 Wirtschaftsdaten aus der Frühphase der Wirtschaftsreformen, die Baschkortostan deutlich über dem gesamtrussischen Durchschnitt zeigen, bestätigen diese Einschätzung (vgl. Tabelle 5-2).

186 Zum Vergleich: Der Anteil der in Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten betrug in der Bun-desrepublik Deutschland (westl. Bundesländer) 1991 nur noch 3,2 % gegenüber 13,7 % im Jahr 1960.

187 Vgl. ĖKSPERTNYJ INSTITUT 1996.

Tabelle 5-2: Baschkortostans Wirtschaftskraft zu Beginn der neunziger Jahre im gesamtrussischen Vergleich

Baschkortostan RF gesamt

in Tsd. Rubel 1098,8 813,2 Industrieproduktion

pro Kopf in % der RF 135,1 100,0

in Tsd. Rubel 229,4 182,8 Investitionen

pro Kopf in % der RF 125,5 100,0

Quelle: GOSKOMSTAT 1994b: 5-13, mit eigenen Berechnungen; Zahlen für 1993.