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Föderationsvertrag und „Dvoevlastie“ 1992: Die Entscheidung im

5. Politische Neugründung und institutioneller Wandel in

5.3 Institutionalisierung des neuen Regimes

5.3.3 Föderationsvertrag und „Dvoevlastie“ 1992: Die Entscheidung im

Nach dem ereignisreichen Herbst 1991 beruhigte sich die Lage in Baschkirien zum Jahresbeginn 1992 zunächst wieder. Die folgenden Monate waren von dem fortgesetzten Bemühen Rachimovs geprägt, den administrativen Apparat der Re-publik der Kontrolle durch das Präsidium des Obersten Sowjets zu unterstellen.

„Außenpolitisch“ kamen ihm dabei die Anstrengungen der russischen Führung entgegen, nach dem Scheitern des Unionsvertrages und dem Zerfall der Union ihrerseits ein Abkommen mit den Gebietseinheiten zustande zu bringen, das die Bezeichnung Föderationsvertrag erhielt. Dieses Feld zählte nicht zu den klassi-schen Kompetenzbereichen eines in der sowjetiklassi-schen Tradition typischerweise für konkrete Wirtschaftsfragen zuständigen Ministerpräsidenten und war daher vom Präsidium des Obersten Sowjets – ähnlich wie in den meisten anderen Republiken in der RF, die zu diesem Zeitpunkt fast ausnahmslos noch keine Präsidenten hat-ten – an sich gezogen worden. Der Föderationsvertrag bot Rachimov die Chance, sich als Interessenvertreter der baschkirischen Souveränität zu profilieren.

Wie in Tschetschenien und in Tatarstan bestanden auch in Baschkortostan Vorbehalte gegen den vom föderalen Zentrum im März 1992 vorgelegten Entwurf, der den Republiken keinen gleichberechtigten Status mit der Föderation einräum-te. Während die beiden anderen Republiken jedoch der Unterzeichnung des Ver-trages am 31. März fernblieben, fand die baschkirische Verhandlungsdelegation unter der Leitung Rachimovs mit den russischen Verhandlungspartnern eine Lö-sung, die beiden Seiten die Zustimmung ermöglichte. Unmittelbar vor der Unter-zeichnung des Vertrags überreichte die baschkirische Seite der russischen eine

„Anlage zum Föderationsvertrag“, in der nach Art eines Protokolls der Rechts-standpunkt Baschkortostans ungeachtet der Regelungen des eigentlichen Vertrags-textes erläutert wurde.217 Formal handelte es sich um eine einseitige Erklärung der baschkirischen Vertreter, mit dem letzten Satz verpflichteten sich aber die Unter-zeichner, sie als bindend anzuerkennen; und neben Rachimov und Ministerpräsi-dent Mirgazjamov setzte im Namen der Russischen Föderation Boris El’cin seine Unterschrift unter den Text. In dem Dokument wiederholte die baschkirische Seite

217 Das Dokument trug den Titel „Priloženie k Federativnomu Dogovoru ot Respubliki Baškor-tostan“.

zunächst die Position der Souveränitätserklärung, derzufolge die Republik Basch-kortostan ein selbständiges Subjekt der erneuerten Russischen Föderation sei und alle Ressourcen auf ihrem Territorium Eigentum ihres multinationalen Volkes seien. Darüber hinaus behielt sie sich die Möglichkeit zu selbständigen internatio-nalen und außenwirtschaftlichen Beziehungen, eine allgemeine Steuerhoheit und die Schaffung eines eigenständigen Gerichtswesens vor, soweit nicht eine eigene bilaterale Vereinbarung zu diesen Bereichen anderes regele.

Baschkortostan war die einzige Republik, der – wenn auch mit einiger pro-tokollarischer Vernebelung – solche Sonderrechte zugestanden wurden. Tatarstan und Tschetschenien blieben bei ihrer Verweigerungshaltung. Die anderen Repu-bliken wie auch die übrigen Gebietseinheiten unterzeichneten den Föderationsver-trag am 31. März 1992 in der vorgelegten Fassung. Damit hatte das Ringen um den Status der Republiken einen ersten formalen Endpunkt erreicht, auch wenn es nun galt, die formalen Bestimmungen mit Leben zu füllen, und längst nicht alle Ansprüche und Erwartungen erfüllt oder auch nur dauerhaft beruhigt worden wa-ren. Die baschkirische Führung allerdings hatte eine Rechtsposition gegenüber dem Zentrum erreicht, die einzigartig war und es ihr in der Folgezeit ermöglichte, sich budgetären Verpflichtungen aus der föderalen Gesetzgebung unter Hinweis auf die geschlossene Vereinbarung zu entziehen und weitere Sonderrechte geltend zu machen. Nach innen stärkte der Verhandlungserfolg insbesondere die Autorität des Parlamentsvorsitzenden Rachimov. Rechtzeitig zum Beginn der radikalen Wirtschaftsreformen in ganz Rußland hatte er für die baschkirische Elite einen privilegierten Zugriff auf das zur Verteilung stehende Staatsvermögen sichern können. Nun konnte er um so energischer daran gehen, seine Machtposition in der Republik zu auszubauen.

Im Laufe des Jahres 1992 kulminierte in Ufa der Machtkampf zwischen Rachimov und Ministerpräsident Mirgazjamov. Formal drehte sich der Streit um die Frage, welchem der beiden Organe das Recht zustand, die Chefs der Stadt- und Rajonverwaltungen zu ernennen. Fast ein ganzes Jahr lang versuchten beide Seiten mit einander widersprechenden Anordnungen an die lokalen Behörden Tat-sachen zu ihren Gunsten zu schaffen. Die direkte Kommunikation zwischen den beiden Organen war dabei zutiefst gestört. Zwar saßen Regierung und Sowjet in Ufa in zwei gegenüberliegenden Flügeln desselben Gebäudes, doch wenn Mitar-beiter den hausinternen Durchgang vom einen Bereich zum anderen benutzen

wollten, mußten sie dazu zuvor bei ihrem jeweiligen obersten Dienstherrn eine Sondererlaubnis einholen.218

Die „Doppelherrschaft“ (dvoevlastie) von miteinander konkurrierender Le-gislative und Exekutive, die in vielen Regionen Rußlands ähnlich wie auf födera-ler Ebene die Jahre 1992 und 1993 bestimmte, fand in Baschkortostan ihr jähes Ende im November 1992. Rachimov gelang es, mit dem Stellvertretenden Minis-terpräsidenten Mansur Ajupov eine einflußreiche Figur in der Regierung auf seine Seite zu ziehen. Ajupovs Bemühungen führten schließlich dazu, daß in einem de-monstrativen Akt mehrere Minister gleichzeitig ihren Austritt aus der Regierung erklärten. Die Zusammenarbeit mit Ministerpräsident Mirgazjamov, so ließen sie öffentlich verlauten, sei ihnen nicht länger möglich. Rachimov sorgte nun dafür, daß diese Mißtrauenserklärung im Obersten Sowjet eine entsprechende Behand-lung fand, und setzte ein Vertrauensvotum über den Ministerpräsidenten auf die Tagesordnung. In der entscheidenden Abstimmung verfehlte Mirgazjamov eine Mehrheit der Stimmen knapp. Da die gültige Verfassung vorsah, daß der Minis-terpräsident auf dem Wege einer Vertrauensabstimmung seines Amtes enthoben werden konnte, war Mirgazjamov gestürzt. Beobachter vermuteten allerdings, daß das Ergebnis anders ausgesehen hätte, wären die Abgeordneten aufgefordert ge-wesen, über einen Mißtrauensantrag abzustimmen, da in diesem Falle jede Enthal-tung eine Stimme für, und nicht gegen den Amtsinhaber gewesen wäre. Die Ver-fassung hatte die Form der Vertrauensabstimmung und der Abstimmungsfrage jedoch offengelassen. Damit lag das entscheidende Wort erst einmal beim Präsidi-um des Obersten Sowjets, das Rachimov in seinem Sinne zu beeinflussen wußte.

Nach der parlamentarischen Niederlage gab Mirgazjamov von sich aus auf und verzichtete darauf, seine Entlassung anzufechten. Rachimov hatte den Macht-kampf gewonnen.219

Ähnlich dem gesamtrussischen Szenario vollzog sich auch in Baschkor-tostan der Systemwechsel von der kommunistischen Parteiherrschaft zu einem neuen, postsozialistischen Regime in zwei Schritten. In Moskau war es zunächst der gescheiterte Putsch restaurativer KP-Kader im August 1991, der das endgülti-ge Ende der Parteiherrschaft der KPdSU markierte, aber erst nach weiteren zwei Jahren, im Herbst 1993, konnte sich Boris El’cin mit der Zerschlagung des Obers-ten Sowjets endgültig gegen seine Gegner durchsetzen und seine Präsidialherr-schaft konsolidieren. In Baschkirien vollzog sich der erste Schritt im Frühjahr

218 RABINOVIČ/FUFAEV 1997.

219 Interview mit Fufaev, Ufa, 15.3.1996; RABINOVIČ/FUFAEV 1997.

1990 mit dem frühen Machtverlust der regionalen KP-Führung und dem Übergang der politischen Initiative auf das Präsidium des Obersten Sowjets der Republik.

Auch hier dauerte es allerdings mehr als zwei Jahre, bis zum November 1992, ehe sich Murtaza Rachimov seines stärksten institutionellen Konkurrenten entledigt hatte und die Konsolidierung seiner Machtposition in Angriff nehmen konnte.

Im Vergleich der beiden Abläufe fällt allerdings die Vertauschung der Rol-len von Exekutive und Legislative in der zweiten Phase dieses Übergangs auf.

Während in Moskau der Oberste Sowjet in die Rolle des Bewahrers einer überhol-ten politischen Struktur geriet und Präsident El’cin als Repräsentant einer „neuen Zeit“ den Primat der Exekutive gegenüber dem Parlament schließlich gewaltsam durchsetzte, war es in Baschkortostan der Vorsitzende des Obersten Sowjets, der den Machtkampf gegen die Exekutive gewann. Dafür lassen sich im wesentlichen zwei Gründe anführen: Rachimov verfügte über die stabilere Legitimation, und er hatte seine Macht eng mit einer neuen Leitidee verknüpft, die ihn der örtlichen Elite mehrheitlich als die attraktivere Führungsfigur erscheinen ließ.

(1) Legitimation Anders als Boris El’cin in Moskau verfügte Marat Mirgaz-jamov als Chef der Exekutive nicht über ein vom Parlament unabhängiges, durch eine Direktwahl legitimiertes Mandat. Vielmehr war er als Ministerprä-sident vom alten System „übernommen“ worden. Der Oberste Sowjet bildete in Baschkortostan das einzige Organ, das die Legitimation einer Volkswahl für sich beanspruchen konnte, und sein Präsidium war zudem entsprechend sowje-tischer Tradition darin geübt, einzelne Entscheidungen nach Art einer Präroga-tive an sich zu ziehen und damit auch Exekutivfunktionen wahrzunehmen – ein Vorteil, den Rachimov für sich zu nutzen wußte. Zwar hing auch er als Vorsit-zender des Präsidiums von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament ab. Doch seine Funktion verschaffte ihm über den Apparat des Präsidiums den nötigen Einfluß auf die Abgeordneten, um seine Ziele durchsetzen zu können.

(2) Leitidee Rachimov verstand es, mit dem Souveränitätsthema das ideolo-gische Vakuum zu füllen. In einer Region, in der sich insbesondere die ländli-che Bevölkerung nur mäßig, wenn überhaupt, für die Ungewißheit marktwirt-schaftlicher Reformen begeistern ließ, bot „Souveränität“ als weitaus unschär-fere und je nach Gelegenheit unterschiedlich aufzufüllende symbolische Institu-tion auf absehbare Zeit den Vorteil, für viele Bevölkerungsgruppen attraktiv zu erscheinen. Zugleich eröffnete eine entsprechende Politik den regionalen Wirt-schaftseliten eine vielversprechende Perspektive bei der anstehenden Vertei-lung staatlichen Eigentums. Demgegenüber fiel es Mirgazjamov schwer, sich

mit seiner pragmatischeren, weniger auf symbolische Abgrenzung von Moskau ausgerichteten Politik zu profilieren.

Daß es zweieinhalb Jahre dauerte, bis der Vorsitzende des Obersten Sowjets sich endgültig gegen den Ministerpräsidenten durchgesetzt hatte, verdeutlicht, daß die Verlagerung der institutionellen Macht auch nach dem Zusammenbruch der Par-teiherrschaft unter einer wenig veränderten Verfassung nur sehr langsam vonstat-ten ging. Die faktischen Kompevonstat-tenzen der alvonstat-ten Republikparteiführung waren kei-neswegs nur auf das Parlament, sondern durchaus auch auf die Regierung überge-gangen, und das labile Gleichgewicht zwischen beiden Institutionen hatte sich angesichts des Ausmaßes der zwischenzeitlichen Veränderungen im Lande er-staunlich lange halten können. Daß Mirgazjamov aber schließlich den Kampf un-ter dem von Rachimov ausgeübten Druck vorzeitig aufgab, signalisiert anderer-seits, daß er die Hoffnung, sich innerhalb des baschkirischen Machtapparates noch einmal gegen den Konkurrenten durchsetzen zu können, nunmehr aufgegeben hatte.

5.3.4 Kodifizierung des Regimewechsels: Die Verfassungsreform vom